In Dankbarkeit und Freude

Текст
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

Kostenloses Wasser aus der dorfeigenen Quelle

Meine Heimatgemeinde Gaurettersheim galt von jeher als besonders aufgeschlossen für Neuerungen. 1905 gab es bereits eine allgemeine Wasserleitung. Sie wurde durch natürlichen Wasserdruck von der Quelle beim Paradies (Flurname) direkt zum Reservoir oberhalb der Kirche geleitet, und von dort wieder hinunter in die Häuser und Gehöfte. Alles ohne Pumpen, nur durch Eigendruck, ermöglicht durch die relativ hoch liegende Quelle und des oberhalb des Dorfes gelegenen Wasser-Reservoirs. Den einzelnen Haushalten wurde keinerlei Wasserpfennig abverlangt, nur die Zuleitungsrohre und das Installieren vom Hauptanschluss im Dorf zu den Höfen mussten von den Inhabern beglichen werden.

Onkel Ludwig, der Schmiedemeister, hatte lange Jahre die Oberaufsicht über die Gesamtanlage dieser ortseigenen Wasserzufuhr; er, und später sein ältester Sohn Edwin, ebenfalls gelernter Schmied, sorgten dafür, dass die tief in den Boden hinein gebauten Wassertanks regelmäßig überprüft und von Zeit zu Zeit gereinigt wurden.

Jahrzehnte später, ich glaube, es war in den 1970er oder 1980er Jahren, wurde unsere Gemeinde gezwungen, künftig auf die Wasserzufuhr aus eigener Quelle zu verzichten und sich der staatlichen Überland-Wasserleitung anzuschließen. Warum? Weil staatliche Wasserfachleute behaupteten, das ortseigene Quellwasser sei verseucht und infolgedessen gesundheitsschädlich. Das wurde zwar von den Dörflern lange Zeit bezweifelt, aber es blieb ihnen nichts anderes übrig; sie mussten künftig für das (staatlich verordnete) Wasser zahlen, sofern sie keine eigenen Brunnen8 hatten.

Man verwies in diesem Zusammenhang auf den alten, schon lange aufgelassenen Steinbruch am Paradies. Dort hatte man wegen des starken Grundwassers seit langem keine weiteren Steine mehr brechen können. Die Grube wurde daraufhin jahrzehntelang als Mülldeponie benützt. Ich kann mich noch gut erinnern, dass in meiner Kindheit und Jugend dort alles entsorgt wurde, was man sonst nicht mehr verwenden konnte: Ausgetretene Schuhe, von Motten zerfressene Matratzen, verrostete Eimer, Reste von ruinösen Mauern etc. pp. Von getrenntem Müll und dessen Abtransport durch die Kreisbehörde war noch lange keine Rede. Man wusste es nicht anders, und das riesige Steinbruchloch am Paradies war dazu wie geschaffen, mit allerlei Ramsch gefüllt zu werden. Ich bin mir heute ziemlich sicher, dass das Verbot der weiteren Benutzung der ortseigenen Quelle als Trinkwasser absolut berechtigt, ja sogar dringend geboten war. Der verödete Steinbruch und die Wasserquelle lagen ja nur knapp hundert Meter auseinander! Somit war es höchstwahrscheinlich, dass der als Mülldeponie benützte alte Steinbruch das Quellwasser verunreinigt und vergiftet hatte.

Eine andere Neuerung für die Dörfler war der frühzeitige Anschluss an ein Überland-Stromnetz, ebenfalls noch vor dem Ersten Weltkrieg. Erzeugt wurde die Elektrizität in Weikersheim an der Tauber; dort hatte man zu diesem Zweck das Flüsschen gestaut. Es wurde also, wie wir heute sagen würden, damals schon saubere und erneuerbare Energie erzeugt; eine echte Leistung für den kleinen Weiler, der damals kaum mehr als 250 oder 300 Einwohner hatte.

Von unserem Nachbarn Kuhn weiß ich allerdings, dass er sich zunächst nicht ans allgemeine Stromnetz anschließen, sondern lieber weiterhin seinen eigenen Kraftstrom erzeugen wollte – und zwar mittels eines Dieselmotors. Noch vor und kurz während des Zweiten Weltkriegs hörten wir es über die Dorfstraße herüber, wenn bei Kuhns frühmorgens der Motor angeworfen wurde. Dann puffte stinkiger schwarzer Rauch empor, und wir wussten, gleich gehen auch beim Kuhns Michel die Lichter an.

Heute können sich viele kaum mehr vorstellen, dass es mal eine Zeit gab, als man sich mit Stearinkerzen und Ölfunzeln behelfen musste. – Ich schon! Denn auf unserer Missionsstation in Rhodesien hatten wir zwar einen riesigen Generator, doch der lief meistens nur dann, wenn es wirklich dunkel war, früh und abends. Wer beispielsweise nach neun Uhr am Abend noch etwas tun wollte, musste Kerzen anzünden oder, und das war fast schon fortschrittlich, eine Petroleumlampe benützen.

Ähnlich aufgeschlossen wie hinsichtlich Wasser und Strom waren die Bauern im Ochsenfurter Gau, wenn es um moderne landwirtschaftliche Geräte ging. Da gehörten sie immer zu den Ersten. Bei uns im Dorf gab es schon zwischen den beiden Weltkriegen die sogenannten Selbstbinder zum Getreideernten. Damals eine gewaltige Arbeitserleichterung; heute schon fast vergessen. Diese Mähmaschinen wurden von zwei, drei Pferden gezogen; sie mähten nicht nur die reifen Getreidehalme (Gerste, Weizen, Roggen, Hafer, Raps), sondern bündelten sie auch und schnürten sie mit Hanf- oder Sisalgarn in einzelne Garben. – Schon lange stehen auch diese Geräte im Museum. Die Ernten werden heute stattdessen mittels Mähdreschern eingebracht. Alles in einem einzigen Arbeitsgang – Mähen, Dreschen und auf einem mitfahrenden Gummiwagen die Körner abtransportieren. Das Stroh wird im gleichen Arbeitsgang gebündelt – oder, noch moderner, in riesige Ballen gepresst.

Mein Neffe Peter, der heute Hof und Felder unserer Familie bewirtschaftet, besitzt einen umfangreichen Maschinenpark. Zusätzlich zu seiner Schulung als Landwirt und Viehzüchter machte er die Gesellenprüfung als Maschinenschlosser für landwirtschaftliche Geräte. So war er bestens geeignet, den väterlichen Betrieb weiterzuführen. Aber ohne Computer würde auch er heute nicht mehr auskommen. Sein Sohn, mein Großneffe Michael, peilt inzwischen eine ähnliche Ausbildung an – als Maschinenschlosser für den Agrarbereich.

Kriegs- und Nachkriegsjahre im Ochsenfurter Gau

Unser Papa war der Erst-Verantwortliche im Dorf als Schieder9; das heißt, er und ein paar weitere örtliche Vertrauensmänner hatten die Aufgabe, die Grenzsteine der einzelnen Anwesen und Felder sowie die zu den Feldern angrenzender Dörfer gehörigen Markiersteine (vor allem dann) zu überprüfen, wenn es zu Zwistigkeiten und Streitereien unter den Bauern gekommen war. Dieses Schieder-Team überprüfte (auf geheim gehaltene Weise, ohne Zuschauer und Zeugen) die ganze Angelegenheit, ortete notfalls die sogenannte Gerechtigkeit und suchte auf diese Weise nachzuweisen, wem von den Streithähnen Recht zugesprochen werden müsse. (Die Gerechtigkeit war ein kleiner mysteriöser Gegenstand, in bestimmtem Abstand von den Grenzsteinen versteckt, worüber nur die Schieder selber informiert waren.)

Heute, im Zeitalter der Satelliten, klingt diese Art der Ackergrenzen- und Anwesen-Überprüfung als schrecklich altmodisch – so als lebte man noch zur Zeit des Neandertalers. Aber vor 70 Jahren und mehr Jahren war der Job der Schieder in der Tat etwas Wichtiges, womit man nur Vertrauensleute beauftragte. Als wir noch Kinder waren, ahnten wir durchaus: Wenn Papa die anderen Schieder zu einem Treffen einlud, dann war damit immer etwas Geheimnisvolles verbunden. Mehr wussten wir nicht; mehr durften wir nicht wissen. Außer dem Schieder-Team war niemand eingeweiht. Die Berufung zu diesem Geheimklub – zuweilen mehr oder weniger familienvererbt – war eine Ehrensache. Mein Bruder Georg übernahm diese Aufgabe und mein Neffe Peter nach ihm – wie es auch Papas Vorfahren über Generationen hinweg getan hatten.

Weil schon in jungen Jahren, gezwungenermaßen, Teilnehmer am Ersten Weltkrieg, gehörte Papa zu denen, die in den ersten Tagen des September 1939 einberufen wurden. An die Westfront, wie es hieß; zur Verteidigung des Dritten Reiches im Falle eines feindlichen Angriffes von Seiten der Franzosen bzw. Engländer. Letztere hatten bekanntlich den Polen Solidarität und militärische Hilfe versprochen, falls sie von außen bedrängt und überfallen werden würden. Hitlers Einmarsch in Schlesien (Polen), laut Goebbelsscher Kriegspropaganda als Gegenschlag getarnt, war im Grunde nichts anderes als ein Frontalangriff auf das Nachbarland.

Stationiert war Papas Artillerie-Einheit bei Prüm in der Eifel. Es ging ihm relativ gut. Weil nicht mehr der Jüngste, sondern schon über 40, hatte man ihn der Feldküche zugeteilt. Hier lernte er das Kochen und Zubereiten von Speisen. Später, und wieder zu Hause, übernahm er öfters, vor allem sonntags, die Küche. Die von ihm gekochten und zubereiteten Menüs, z. B. mit Koteletts, Möhren und Kartoffeln, schmeckten besonders gut; er sparte nie an guten Gewürzen.

Aber bei uns daheim herrschte im September 1939 eine eher traurige Stimmung. Als das Wort Krieg fiel, wusste ich sofort, dass dies etwas Schlimmes sein müsse. Mama weinte, als Papa Abschied nahm, und wir Kinder weinten mit. Zwischenzeitlich führte Onkel Georg, genannt Schorsch, Papas jüngster Bruder, unseren Hof; auch er ein leidenschaftlicher Landwirt, und damals noch ledig.

Eines Tages kam Papa auf Urlaub, im Soldatenrock. Er sah so ganz anders aus. Auf einem Familienfoto wurde es dokumentiert: Rita war schon neun Jahre alt, ich sechs, Georg vier und Irene gerade 14 Monate. Nach etwa einem Jahr beim Barras, noch ehe Hitler die westlichen Nachbarländer überfiel, wurde Papa entlassen. Fast zeitgleich wurde Onkel Schorsch eingezogen – an die Ostfront.

Nach Kriegsende (1945) kehrte Onkel Schorsch mit erfrorenen Zehen zurück, heiratete eine Kriegswitwe (mit fünf Kindern) und lebte und arbeitete fortan glücklich und zufrieden auf deren großem Bauernhof; sie hatten noch einen gemeinsamen Sohn.

Einmal im Jahr begleitete Onkel Schorsch die Ochsenfurter Wallfahrer zum Kreuzberg in der Rhön. Da er wegen seiner verstümmelten (erfrorenen) Zehen sich mit dem Laufen schwertat, fuhr er einen Traktor mit dem Reisegepäck der Wallenden. Die frommen fränkischen Pilger waren in der Regel eine Woche unterwegs: Drei Tagesmärsche hin, ein Tag auf dem heiligen Berg und wieder drei Tagesmärsche für die Rückreise.

 

Unser Papa war durch und durch Choleriker, zum Unterschied von Mama, die zeitlebens ein fröhliches Naturell zeigte, gespeist von einem unverwüstlichen Optimismus und Gottvertrauen. Papa war ein Macher; ein Tatmensch. Was er sich vornahm, das ging er auch zielstrebig an: Auf dem Hof, bei der Feldarbeit, bei der Aufzucht von Rindern und Schweinen. Von unseren in der Landwirtschaft angestellten Knechten und Mägden verlangte Papa sehr viel. Dabei ging er allen voran. Vielleicht forderte er von den Angestellten mitunter zu viel, vor allem, wenn diese Dienstboten noch sehr jung waren, aber deren in ärmlichen Verhältnissen lebenden Eltern sich sehr dankbar dafür zeigten, das eine oder andere ihrer Kinder auf einem Bauernhof zu wissen, wo sie eine Bleibe hatten, verköstigt wurden und dazu noch etwas verdienten.

Ich persönlich verdanke Papa meinen starken Willen und die Bereitschaft, etwas Begonnenes und als richtig Befundenes auch zu Ende zu führen. Von Mama erbte ich das Sanguinische, die Liebe zur Natur, die Freude am Leben und die Nähe zum Religiösen.

Wann genau, weiß ich nicht, auf jeden Fall war es noch vor dem Zweiten Weltkrieg, eventuell Mitte der 1930er Jahre, da versuchten besonders fanatische Nazis den Altbürgermeister unseres Dorfes, Andreas Michel, zu überreden, der Partei beizutreten. Er weigerte sich und wurde abgesetzt. Daraufhin wurde unser Papa ersucht, dieses Amt zu übernehmen; auch er lehnte ab. Ob, um sie, diese beiden erklärten Anti-Nazis, umzustimmen oder um sich an ihnen zu rächen, weiß ich nicht, auf jeden Fall wurden sie abtransportiert und für drei Wochen auf der Festung in Würzburg festgehalten. Sie weigerten sich nach wie vor, Parteigänger zu werden. Am Ende durften sie wieder ins Dorf zurückkehren. Bürgermeister wurde ein anderer Bauer; ihn hatten die Dörfler dringend gebeten, pro forma der Partei beizutreten, um zu vermeiden, dass ihnen ein Fremder vor die Nase gesetzt würde.

Vielleicht war Papas antinazistische Haltung auch ein Grund, warum er schon bei Kriegsbeginn eingezogen wurde: Wollte man ihn einfach weghaben? – Während des Krieges, als die deutschen Soldaten noch ostwärts stürmten, wurden übrigens von den zuständigen Parteibonzen (unter Führung des Gauleiters von Mainfranken) bereits lange Listen angefertigt mit den Namen derer, die den Gau verlassen müssten, um in den überrannten und besetzten Regionen Weißrusslands und der Ukraine neu angesiedelt zu werden. Zwangsweise! Den eigenen Grund und Boden hätten sie verloren; der wäre einigen wenigen Parteimitgliedern bzw. Großbauern zugesprochen worden. Stattdessen wollte man ihnen in den Ostgebieten des vermeintlich bald wesentlich vergrößerten Deutschen Reiches Neuland zukommen lassen ...

Wäre Hitler siegreich aus dem Krieg hervorgegangen und diese Umsiedlung durchgeführt worden, dann hätte mehreren Familien unseres Dorfes, unsere inbegriffen, eine total andere Zukunft bevorgestanden. Weiß Gott, was am Ende aus uns geworden wäre – irgendwo in den fruchtbareren Regionen der alten Sowjetunion, am wahrscheinlichsten in der heutigen Ukraine!

Als amerikanische Panzer ins Dorf einfuhren

Am Ostersonntag 1945 ging für uns der ganze Hitlerspuk zu Ende. Während der Nachmittagsandacht und des sich anschließenden Umgangs (feierliche Prozession, angeführt vom Ortspfarrer und den Ministranten) durch den benachbarten Friedhof fuhren die ersten amerikanischen Panzer ins Dorf ein. Deren Besatzungen waren äußerst angespannt, auf intensiver Lauer und in steter Angst vor heimtückischen Anschlägen seitens verstreuter SS-Trüppchen.

Zum Glück war unser Papa zuhause geblieben, denn wir hatten eigentlich schon am Karfreitag mit der Ankunft der amerikanischen Truppen gerechnet. Papa hängte rechtzeitig die weiße Flagge ins Giebelfensterchen unseres Wohnhauses und machte somit deutlich, dass Gaurettersheim willens sei, sich friedlich zu ergeben. Wir hatten damals, weil am Dorfeingang gelegen, noch die Hausnummer eins. Papas weiße Friedensfahne und die unseres Nachbarn Ferdinand Düchs taten ihre Wirkung: Es fielen nur ein paar Schreckschüsse. Nichts wurde beschädigt – kein Wohnhaus, keine Scheune, kein Viehstall.

Als wir von der Kirche hinunter ins Dorf kamen, standen die Panzer bereits in der Dorfmitte, neben der uralten Linde10, die seit Generationen als Versammlungsort diente. Wir Kinder, so wiesen uns die Erwachsenen an, winkten mit unseren Taschentüchern, um die Friedfertigkeit aller Dörfler zu signalisieren. Und schon warfen die ersten GIs uns Kaugummipäckchen und Schokolade zu. Chewinggum war eines der ersten englischen Worte, die wir lernten. Später begrüßten wir die Ami-Soldaten nur noch mit »Chocolate, please! – Chewinggum, please!«

Kaum hatten wir nach den ersten Süßigkeiten gegrapscht, die uns von den Panzern herab zugeworfen wurden, da zischten auch schon einige evakuierte Frauen, die aus den zerbombten Städten des Rheinlands zu uns gekommen waren, mit bösen Mienen: Von Feinden nimmt man nichts an! Sie hatten immer noch nicht begriffen, dass dieser schreckliche Krieg längst verloren war. – In unserer Familie atmeten wir merklich auf; die amerikanischen Soldaten retteten uns vor dem möglichen Abtransport in die von den Nazis so genannten Ostgebiete.

Die Nächte vor dem Eintreffen der Amerikaner hatten wir im Luftschutzkeller unseres Nachbarn Michel Kuhn verbracht. Dort waren die Mauern dicker und die Kellerfenster besser geschützt als die in unserem Haus. Wir hatten ja schon am Karfreitag die amerikanischen Panzer in einige umliegende Dörfer vordringen gesehen; wir waren vorgewarnt.

Zu dieser Zeit hielten sich noch fanatische SS-Leute im Stalldorfer Wald versteckt. Das erfuhren wir aber erst später. Nachdem Papa und Nachbar Ferdinand Düchs die weißen Fahnen schon am Karfreitag in die Giebelfenster gehängt hatten, erschienen plötzlich bewaffnete SS-Leute und drohten Bürgermeister Michael Düchs, den Vater meines Schulkameraden Ernst, auf der Stelle zu erschießen, falls die beiden weißen Fahnen am Ortseingang nicht binnen weniger Minuten entfernt würden. Der Befehl wurde ausgeführt; die weißen Fahnen mussten schnellstens wieder abgehängt werden. Papa versteckte sich hinter einem Strohhaufen in der Scheune und kam erst dann wieder hervor, als es sich herumsprach, dass das kleine Trüppchen mit den Totenköpfen auf ihren Mützen wieder abgezogen war. Aus einer Entfernung von einem halben Kilometer richteten sie allerdings ihre Geschütze ein letztes Mal auf unseren Kirchturm, jedoch ohne ihn zu treffen...

Ebenfalls in der Karwoche 1945 (also noch vor dem Eintreffen der Amerikaner) hatten mehrere hundert französische Kriegsgefangene im Dorf übernachtet; auch bei uns waren Scheune und Ställe belagert. Wir halfen mit bei ihrer Verpflegung, überließen ihnen Decken und Strohbündel und wurden gleichzeitig mitverantwortlich dafür gemacht, falls sich Gefangene bei uns versteckten oder versuchen würden, von unserem Hof aus zu fliehen. Diese Kriegsgefangenen kamen von weit her; man munkelte vom Rhein-Main-Gebiet. Sie wurden von nur wenigen deutschen, meist älteren Soldaten, bewacht. Die Franzosen waren durch die Bank freundliche Männer, die alle etwas Deutsch sprachen und längst wussten, dass Hitlers Regime nicht mehr lange andauern würde.

Ein katholischer Geistlicher, ein französischer Abbe, der den Gefangenenzug begleitete – es hieß, sie seien auf dem Weg in die bayerischen Alpen –, stellte unserem Papa und unserer Familie, ehe sie wieder abzogen, ein Zeugnis in drei Sprachen aus – auf Deutsch, Französisch und Englisch – sinngemäß folgenden Inhalts:

Wer immer diesen Hof betrete, möge wissen, hier wohnen gute Leute; keine Nazis und auch keine anderen Feinde. Man möge bitte den Herrn des Hofes und alle anderen Familienangehörigen höflich und wohlwollend behandeln. . .

Dass es zu diesem Brief-Zeugnis gekommen ist, dazu hat auch unsere Mama ganz unauffällig beigetragen. Sie hatte, sofern von den Bewachern nicht beobachtet, einigen hungrigen Gefangenen zusätzlich einige Esswaren zugesteckt. Auch warme Kleider und Decken für die Nacht.

Leben mit den Besetzern Schulspeisung aus den USA

Die amerikanischen Soldaten blieben einige Zeit im Dorf; hielten es sozusagen unter Kontrolle. Eine ihrer ersten Amtshandlungen war die Ernennung eines neuen Bürgermeisters. Dazu konsultierten sie zuerst unseren Gemeindepfarrer Hans Spielmann. Der sollte ihnen den Namen des Mannes nennen, der vor den Nazis im Amt war. Nachdem dieser, Andreas Michel, nicht mehr bereit war, wenigstens vorübergehend die Geschäftsführung zu übernehmen, wurde unser Papa ins Pfarrhaus zitiert. Auch er lehnte ab. Auf seinen Vorschlag hin wurde dann Ignaz Kuhn vom amerikanischen Offizier zum Bürgermeister ernannt.

Im Dorf selber hatten die Besetzer sich auf eigene Faust in mehrere Häuser einquartiert. Über ein paar Wochen hielten sie die Stellung und brachten eine total andere Kultur in die fränkische Region. Vieles, was sie taten und wie sie sich benahmen, war uns fremd. Sie verhielten sich für unsere Begriffe außergewöhnlich leger und lässig, um nicht zu sagen ruppig und flegelhaft. Auf jeden Fall, so meinten die Erwachsenen, seien ihr Benimm und ihre alltäglichen Verhaltensweisen echter Soldaten unwürdig.

Wenn sie marschierten, hörte man nichts. Kaugummi-Soldaten sagten die älteren Männer schier schon verachtend. Völlig ungewohnt für deutsche Ohren, die sich an die lärmenden Soldatenstiefel der Wehrmacht gewöhnt hatten.

Ständig hatten sie, die wir alsbald nur noch die Amis nannten, Kaugummi im Mund, warfen uns hin und wieder ein paar Päckchen zu, gähnten vor Langeweile laut und anhaltend, lümmelten sich auf mitgebrachten Klappstühlen, legten ihre Füße samt staubigen Stiefeln auf die Tische, rauchten ununterbrochen und quasselten in einem fort.

An ihrer Feldküche blieben wir oft stehen: Die hatten vieles, was wir seit Jahren nicht mehr gesehen und gegessen hatten. Oder überhaupt noch nie. Und sie führten alles mit sich: Konserven über Konserven. Wenn sie ihre Steaks brieten, lief uns das Wasser im Mund zusammen. Ihre Weißbrote belegten sie mit Butter. Scheibchenweise! Darauf ein riesiges Kotelett. Das kam uns Dorfbuben fast vor wie ein Verbrechen gegen die Menschheit – gegen jene, die hungern mussten: Butter und Kotelett auf einer dünnen Scheibe! Als ich es zuhause unserer Mama erzählte, schüttelte sie nur den Kopf. Heimlich hielt sie es wohl, wie die meisten Erwachsenen, für ein Sakrileg.

Sie hatten einfach alles, diese amerikanischen Soldaten! Und alles im Überfluss. Auch Schokolade, Orangen, Bananen, Kakao – kurzum alles, was man bei uns früher, vor dem Krieg, in den sogenannten Kolonialwaren-Handlungen kaufen konnte. Seit Kriegsausbruch mussten wir in Deutschland weithin diese aus dem Ausland importierten Artikel und Waren entbehren. Viele von uns Kindern hatten zuvor noch nie eine Banane gegessen, manche seit Jahren keinen Riegel Schoko mehr. Auch Corned Beef hatten die Amis zuhauf. Hunderte von Büchsen und Dosen. Da mussten wir erst noch herausfinden, wie das schmeckte.

Später, im Internat und am Gymnasium in Miltenberg, lernten wir die amerikanische Schulspeisung kennen; das war ein Hochgenuss für uns ständig hungrige Buben. Es gab abwechselnd Kakao mit Semmeln, gebacken aus amerikanischem Weizen. Daneben, meist abwechselnd, ließen sie dicke Erbsensuppe mit eingebrockten Fleischstückchen verteilen. Für meine Klassenkameraden, die nicht auf Bauernhöfen aufgewachsen waren und eben keine gelegentlichen Fresspakete von Hause bekamen, war die Schulspeisung ein wahres Wunder!

Kurzum, mit den amerikanischen Soldaten kam eine ganz andere Welt zu uns ins Dorf. Wir Kinder fanden, zum Unterschied zu den Großen, diese schlaksigen Kerle recht interessant. Aber wir bekamen auch mit, wenn die Erwachsenen unter sich von jenen jungen Frauen sprachen, die sich mit ihnen, den Amis, einließen. Ami-Schicksen nannte man sie damals. Sie hielten es mit allen, die eine Uniform trugen, auch mit denen schwarzer Hautfarbe. Das klang, wenn die Erwachsenen darüber redeten, ziemlich verächtlich. Besonders negativ beurteilten ehemalige Nazis diese Fräuleins. Dass es einigen von ihnen ums pure Überleben ging, wurde kaum erwähnt. Denn es waren auch mittellose junge Frauen unter ihnen, deren Männer gefallen oder vermisst waren – und nun alleine für ihre Kinder sorgen mussten.

 

Wir Buben kannten bald schon die Verstecke der GIs. Sobald wir wussten, wohin sie zu einem Schäferstündchen unterwegs waren, lauerten wir ihnen besonders gerne auf. Denn wir ließen uns erst dann wieder vertreiben, wenn sie uns zuvor Schoko, Kaugummi oder Zigaretten zugeworfen hatten. Letztere waren überall sehr begehrt – und sündhaft teuer. Wir horteten die Zigaretten heimlich auf den Eisenbalken unseres alten Stalls, ehe wir selber erstmals eine rauchen würden – oder später dafür wertvolle andere Waren eintauschten.

Купите 3 книги одновременно и выберите четвёртую в подарок!

Чтобы воспользоваться акцией, добавьте нужные книги в корзину. Сделать это можно на странице каждой книги, либо в общем списке:

  1. Нажмите на многоточие
    рядом с книгой
  2. Выберите пункт
    «Добавить в корзину»