Читать книгу: «Alpträume in Norwegen», страница 2
Aus dem Spiegel blickte ihr Hans entgegen, ein arrogantes Lächeln auf den Lippen. Matilde zischte: „Du hast dich von mir umbringen lassen, du mieser Feigling …“ Sie machte einen hastigen Schritt nach vorne, und er tat es ihr gleich. „Hast du mich benutzt? Bist du so in meinen Kopf gelangt?“ Sie erhob die Stimme. „WAR DAS ALLES, HANS?“, schrie sie. „ALLES, WAS DU KONNTEST? ICH WERDE DIE JAGD ZU ENDE BRINGEN! … DANN BIN ICH ERLÖST! Und du …“ Die letzten zwei Worte flüsterte sie, und es klang bedrohlich. Ihre linke Faust hob sich, so wie seine rechte. „DU BIST TOT!“, kreischte sie und schlug mit aller Kraft in sein Gesicht.
Nachträglich übertrug sie die Schmerzen und das Blut aus ihrem Traum in die Realität – nur war sie es nun, die schlug. Der Spiegel barst, so wie ihr, nein, sein Spiegelbild. Rötlich schimmerten die zersplitterten Züge seines Gesichts im Zwielicht.
„Und ich habe dich geliebt, du Mistkerl …“ Sie lachte. „Immerhin habe ich durch dich eine Mission … und nichts mehr zu verlieren. Wenn ich schuld an deinem Tod bin, gewöhne du dich daran, für meinen verantwortlich zu sein!“
Matilde vernahm ein Klopfen. Während sie sich hastig eine Stoffserviette um die Hand wickelte, hörte sie Hans’ vertraute Stimme in ihrem Zimmer: „Ich möchte dir etwas schenken.“ Hans stand am Fenster, wie er es im Zug getan hatte. Bläulich schimmerte seine Haut, als sei er eine aus dem Eis geschlagene Skulptur. „Komm zu mir! Ich will dir etwas zeigen. Komm zu mir … piccola gatta selvatico.“
„Warum, Hans? Warum hast du mir das angetan?“, wimmerte sie. Erneut klopfte es an der Tür. Statt sie zu öffnen, näherte Matilde sich der Gestalt am Fenster.
„Es war der einzige Weg“, entgegnete er. „Hättest du mich bloß sterben lassen, animo mio. Nordgren hat nicht mich gerettet in deinem Abteil. Er hat sich gerettet. Schau aus dem Fenster! Dort ist mein Geschenk. Pass gut darauf auf. Geh morgen spazieren. Der Styggebreen soll zu dieser Jahreszeit sehr schön sein. Geh morgen spazieren! Versprich es mir!“
„Das ergibt keinen Sinn!“, rief sie verzweifelt aus. „Sag mir alles, was du über Nordgren weißt … alles über meine Mission! Ich werde deine Arbeit zu Ende führen, und dann will ich sterben!“ Während sie sprach, bemerkte sie den schwarzen Wolf draußen vor dem Fenster, der sie musterte.
„Pass gut auf ihn auf! Er ist ein Kind der Nacht, aber tagsüber musst du ihn beschützen.“ Plötzlich war Hans verschwunden, und der Wolf setzte in weiten Sprüngen in den Wald davon. Hätte er keine Spuren im Schnee hinterlassen, müsste Matilde an seiner Existenz zweifeln.
Es klopfte ein drittes Mal, diesmal unerbittlich.
*
Dass ich mich weder auf sie selbst noch auf das, was sie gesagt hat, konzentrieren kann, tue ich als Nebenwirkung meines Rausches ab.
Sage: „Hab dich schreien gehört …“, rieche den Alkohol in meinem Atem, atme kürzer … vergeblich. Werde mir erst bewusst, dass ich meinen Revolver in der Hand halte, als ich mit ihm ins Dunkel wedle. „Müssen … müssen uns unterhalten“, stammle ich. Meine Welt dreht sich. Halte mich vorsichtshalber am Rahmen der Tür fest, damit sie nicht aus ihren Angeln gehoben wird.
Matildes Blick ist matt und stumpf. Nicht mehr und nicht weniger als ein Spiegel meiner selbst.
Sie weicht zurück, winkt mich herein, wundert sich dabei genauso wenig über den Revolver wie ich. Banalität meiner Erscheinung.
„Ich habe Besuch gehabt, weißt du?“, meint sie. „Hans war hier. Er hat mich geschlagen und mich geliebt, und wir haben miteinander gesprochen.“ Sie setzt sich auf ihr Bett, das federnd nachgibt, wie es das schon bei zahllosen Träumern zuvor getan hat. „Aus dem Fenster hinaus … in kältester Nacht … seh ich den schwarzen Wolf … in all seiner Pracht“, summt sie, und es klingt wie ein verballhornter Kinderreim. Verbittert: „Nochmal danke für deine Worte, für alles.“
Weiche ihrem Blick aus, lasse mich in einen der Sessel fallen, stöhne: „Meine Worte …“ Mit zusammengekniffenen Augen sehe ich, dass sie ein weißes Stück Papier in ihrer Hand hat. Der Zettel! Sie hat den Zettel gelesen! „Du …“ Schlucke, um den pelzigen Geschmack aus meinem Mund zu verbannen. „Du weißt also von … Paul, hm? Was ich ihm angetan habe. Ich hab dir gesagt, Matilde, dass ich …“ Dieser verdammte Geschmack in meinem Mund! Als wäre er betäubt! „Dass ich kein guter Mensch bin. Aber … du musst mich verstehen …“ Gestikuliere mit der Waffenhand und ziele zufällig in ihre Richtung. „Paul war ein schwacher Mensch. Er musste sterben, bevor die Welt, die er liebte, ihn verschlingen konnte. Er ist aus der Hölle der Wiederholungen ausgebrochen. Das bin ich leider nicht. Nein, Matilde, ich durchlebe sie jeden Tag aufs Neue! Weißt du überhaupt, was das bedeutet? Hast du die geringste Ahnung?!“ Höher, höher schwingt sich meine Stimme empor, das Totgewicht des Revolvers verankert mich hier unten.
Sie starrt mich an. „Paul? Welcher Paul? Wovon redest du, Rick?“ Sie bewegt sich lebhafter, begreift endlich, dass mein Revolver auf sie zeigt, hebt die Hände. „Seit gestern lese ich es in deinen Augen, Rick. Seitdem wir Nordgren begegnet sind. Du würdest mich gerne umbringen. Aber ich weiß nicht, warum.“ Sie erhebt sich, um vor mir in die Knie zu gehen, meine Beine zu umarmen. „Ich habe eine Aufgabe, Rick. Die muss ich erfüllen. Lass mich die Trolle jagen, dann … dann kannst du mich töten.“
Alles dreht sich, und nichts ergibt mehr Sinn; selbst ich bin mir fremd geworden, bin nicht Rick, nicht Paul, bin nur ein zerbrechliches Gefäß, das angstvoll erkennt, dass sich seine Umwelt immer schneller bewegt. Gefangen in einem Schädel, den weiße Watte auskleidet, in der sich manchmal Schmutz verfängt.
„Willst tatsächlich sterben, was? Unbedingt sterben. Bist eine komische Frau …“ Hebe langsam meinen Arm, presse die Mündung des Revolvers gegen ihre fiebrige Stirn. Ich grinse, ohne beständigen Grund zur Erhabenheit. „Hast Glück … ich habe meinen guten Geschmack seit der Zugfahrt nicht verloren.“ Mir ist plötzlich kalt. „Trolle willst du jagen, Matilde? Schieß so viele von ihnen nieder, wie du nur kannst. Haben dieses verfluchte Leben nicht verdient …“ Stoße Matilde ohne Vorwarnung zurück. Ich throne über ihr, gottgleich und grauenhaft im schummrigen Licht des Hotelzimmers. Meine Stimme klingt hohl, während ich sage: „Ich muss mit dir reden, Matilde. Was schaust du mich so an? Willst du nichts über Paul hören? Paul Anderson? Wie dieser Tor mich vor die Wahl gestellt hat, und ich ihn ermordete?“ Atme tief ein, sammle meine letzten Kräfte. „Ich möchte dir die Geschichte eines jungen Mannes erzählen, der tief fiel und dem die Freizügigkeit seines Denkens niemals guttat. Sein Leben war trostlos und einsam und arm an Freude, und die Bücher, die er las, bildeten einen gierigen Sog, dem er schwerlich entrinnen konnte. Oh, er war gewillt, sich zu bessern! Er wollte sein erbärmliches Dasein überwinden und sich … verwandeln! Er wurde zum Gehilfen eines greisen Buchhändlers namens Sam Whitmore. Wenngleich ein Sonderling, war dieser gütig, doch das kann diese Welt nicht ungestraft lassen. Sie sandte einen Fremden … ich nenne ihn der Einfachheit halber Jackson! Jackson stahl Whitmores wertvollsten Besitz und trieb ihn auf diese Weise in den Tod.“ Halte inne, um die Wirkung meiner Worte auf Matilde zu beobachten. Fahre fort: „In Whitmore hatte die einzige Chance für den einsamen, jungen Mann bestanden, sich eine neue Existenz aufzubauen, und das war nun zunichtegemacht. Doch er lernte, sich nicht länger von der Welt herumschubsen zu lassen. Er erwarb einen Revolver und fand den Dieb noch vor der Polizei. Es hatte lediglich einen Menschen außer ihm und Whitmore gegeben, der von der Existenz gewisser Bücher wissen konnte. An dem Punkt, an dem er Jackson stellte und dieser vor ihm kauerte, verspürte er auf einmal Mitleid. Ihm kam der Gedanke, dass es niemanden auf der Welt gab, der dieses Untier vermissen würde. Ohne ihn wäre die Erde zweifellos ein besserer Ort … so viele Gräueltaten, die vermieden, so viele Leben, die gerettet werden könnten. Alles, was Jackson angerichtet hatte, konnte vergessen werden, wenn ihn Dunkelheit fraß. An das, was danach geschah, erinnerte sich der junge Mann nicht mehr. Sobald er zur Besinnung kam, befand er sich einige Straßen entfernt. Alles sprach dafür, dass seine Waffe abgefeuert worden war, und er fürchtete sich vor den Folgen seines Handelns. Er kehrte nicht zurück, um sich zu vergewissern, dass er Jackson tatsächlich getötet hatte. Seine Schuld war nur zu ertragen, indem er sie im Alkohol ertränkte. Er trank, bis alle verbliebenen Erinnerungen an diesen verhängnisvollen Tag ausgelöscht waren. Manchmal dachte er darüber nach, sich selbst eine Kugel in den Kopf zu jagen. Oh ja, das waren schlimme Zeiten! Für eine Weile konnte er sich mit Mühe über Wasser halten, und er fand sogar einen Freund, Hasan, der selbst auch Probleme hatte. Sie halfen sich gegenseitig und erschufen gemeinsam eine neue Existenz. Paul vermied und bekämpfte die Sünde auf seine Art. Natürlich war er zum Scheitern verurteilt und beging wieder und wieder dieselben Fehler. Bis er eine Reise nach Norwegen plante, um dort einen Neuanfang zu wagen. Er legte sich dafür einen neuen Namen und eine neue Identität an. Zugegeben … gänzlich neu war sie nicht, denn diese hatte in seinem Unterbewusstsein schon lange verweilt.“ Ich strecke mich. „Nun bin ich real, und Paul lebt nicht mehr. Er ist lediglich eine verblassende Illusion. Realität und Fiktion haben die Plätze getauscht! Ich bin Rick Fairwell, der Mörder aller Mörder, und ich habe Paul umgebracht. Sieh hier!“ Aus meiner Manteltasche ziehe ich ein Bündel Ausweise und Papiere und werfe es ihr vor die Füße. Ich spüre, wie meine Erzählung den Alkohol verbrannt hat und ich allmählich ausnüchtere. Ich lehne mich zurück. „Soll ich dir erklären, warum ich dich eigentlich töten sollte, Matilde?“
Ohne zu antworten, greift sie nach den Papieren, deren kalte Buchstaben unbeirrbar bezeugen, dass ich die Wahrheit sage. Ich rieche ihren Schweiß. Furcht tränkt diesen düsteren Raum.
„Du bist Rick … Rick Fairwell“, wiederholt sie mit ruhiger Stimme. Sie mustert den Revolver, der in ihre Richtung weist. Sie lächelt verbittert. „Erzähl mir, warum ich den Tod verdiene!“
Ich zücke eine abgenutzte Ausgabe von Howard Wildes „The Day’s End“, die erste Auflage von 1920. Das Buch öffnet sich wie von selbst in dem Kapitel, das mich am meisten inspiriert hat, weil es meine Lage derart präzise wiedergibt, wie ich es kaum für möglich gehalten hätte. Als bediente Wilde sich meiner intimsten Gedanken.
„Hör mir genau zu, dann wirst du vielleicht verstehen!“ Ich schaue beiläufig zu dem zersplitterten Spiegel, der weiter hinten im Raum hängt, und grinse. „Nein, ich bin mir sogar sicher, dass du es genau verstehen wirst.“ Ich beginne, Wildes Zeilen wie ein Gebet vorzutragen, wie prahlerische Edelsteine um ihren Verstand zu drapieren und sie mit dem Fieber zu infizieren, welches sich ihrer mehr und mehr bemächtigen wird. Unsere Vergangenheit gleicht einem Haufen verfaulten Fleisches, angerichtet zur Delikatesse. Und sie und ich und all die Maden dieser verlorenen Welt, wir fressen daran für die Luft zum Atmen!
Die Schuld ist ein schweres Gewicht auf den Schultern einer so vereinsamten Gestalt. Mehrere Male bin ich während meiner Rezitation aus Wildes Werk den Tränen nahe, weil Matildes Geschichte in der Tat meine eigene ist, und ich hätte sie vielleicht retten können, wäre ich schneller gewesen.
Ich klappe das Buch zu und schließe: „Du hättest den Tod verdient, Matilde, wie auch ich. Untiere, die wir sind. Aber lieber solltest du vergessen und anfangen zu leben. Versuche zu lieben, versuche, nicht mehr auf die Stimmen zu achten! Hör auf, dich selbst zu geißeln!“ Mein Mund fühlt sich immer noch pelzig an. „Du darfst keine Zweifel an deinem Tun hegen. Zum Sterben ist später noch genug Zeit.“
Es ist lange her, seit ich Zimmer 203 betrat. Wieder realisiere ich die Waffe in meiner Rechten. Ich stecke sie zerstreut in meine Manteltasche. „Was du brauchst, was wir brauchen, Matilde, ist Selbstbeherrschung. Zeige der Welt nicht, wie sehr du leidest! Verberge deine wahren Gefühle in der Öffentlichkeit unter einer Maske! Ich kann dir helfen, wenn du möchtest, mit allem, was in meiner Macht steht.“ Ein ehrlich gemeintes Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus. Ich biete ihr meine Hand an, die vom Alkohol zittert, sich in Gedanken jedoch fest und stark fühlt, und warte ungeduldig, ob sie meine Hilfe annimmt oder nicht. Absurd, angesichts dessen, was bereits passiert ist.
Einen Augenblick zögert sie, nimmt anschließend meine Hand entgegen. Sie sagt: „Rick, ich … ich nehme gerne jede Hilfe an, wobei ich nicht mal weiß … was genau auf uns zukommen wird.“ Sie seufzt. Man kann förmlich hören, wie es in ihren Gedanken arbeitet. War es ein Fehler, meine Hilfe in Anspruch zu nehmen? Eigentlich hat sie keine Wahl. „Aber ich bin sicher, dass etwas auf uns zukommen wird. Heute ist der einundzwanzigste Dezember, und uns bleibt Zeit bis zum zweiten Januar. Die Polizei hat mein Gepäck durchsucht; sie haben nichts gefunden. Sie glauben mir, dass die Schuld bei diesem Arzt lag. Nordgren. Ich konnte sie offenbar von meiner Unschuld überzeugen. Aber du musst mir glauben, was Hans betrifft. Ich spüre, dass etwas Grauenvolles während dieser Asgardischen Reise passieren wird …“ Sie erwägt, wie aussichtsreich es ist, einen sturzbetrunkenen Mann ins Vertrauen zu ziehen, und bricht ab. Asgardische Reise … welch ein seltsamer Ausdruck, denke ich. Die Reise ist doch vorbei.
Matilde fährt fort: „Wir sollten uns ausruhen …“ Sie blickt zu Boden und hebt meine Papiere auf, um sie mir zu überreichen. „Vergiss die nicht!“ Ihre Stimme klingt unheimlich müde und irgendwie gealtert. Als spräche jemand anders an ihrer statt. Wie ein Geist gleitet sie zur Tür und öffnet sie.
Beim Aufrichten überkommt mich Schwindel. „Ich gehe besser“, bringe ich krächzend heraus. Ein unbeholfener Schritt, ich muss mich an der Wand festhalten, damit sie nicht vor meinen Augen verschwindet. „Matilde, wir …“ Von einem Moment auf den anderen spüre ich, wie sich mein Mageninhalt mit Gewalt nach oben drängt. So soll sie mich nicht sehen!, denke ich und renne los.
Matilde weicht einen Schritt weg von der Tür, ich ihrem Blick aus.
Ich hetze auf den Flur und angle ungeschickt meinen Schlüssel aus der Tasche. Nachdem er sich im Schloss dreht, stürze ich ins Zimmer und zum Waschbecken. Ein braungelber Schwall Erbrochenes ergießt sich über die Kacheln. Ich kämpfe mich auf meine Knie hoch. Im nächsten Moment durchfährt meinen Leib die nächste Welle von Übelkeit. Es nimmt kein Ende!
Gott dieses Gift … dieses Gift muss aus meinem Körper!
Ein paar Minuten später ist es vorbei, und mich quälen Schüttelfrost und fiebrige Hitze gleichzeitig. Ich zwinge meinen rebellierenden Körper, sich zu beruhigen, und wische das halbverdaute Essen unter Aufbringung meiner allerletzten Kraftreserven – Die Hotelbediensteten dürfen nichts bemerken! – vom Boden auf. Meine Hände schrubbe ich unter heißem Wasser mit Seife ab, den galligen Geruch bekomme ich trotzdem nicht aus der Nase.
Ehe ich aufs Bett sinke, schließe ich die Tür, die während der gesamten Zeit offen gestanden hat. Das Letzte, was ich sehe, bevor ich einschlafe, ist die leere Cognacflasche.
*
Hinter der geschlossenen Tür hörte sie Rick über den Flur stürmen.
Am Morgen wird das alles zu einer fernen Erinnerung verblasst sein, sodass ich diese Stunde des Wahnsinns als Traum abtun kann. Wie Hans auch. Ich werde nie mehr mit Rick reden, entschied sie. Ich habe ihn gewarnt und versucht … alles zu sagen. Aber das ging schief, wie ich es mir nicht schlechter hätte ausmalen können.
Matilde kroch ins Bett. Sie hatte keine Angst vor dem Mann namens Rick Fairwell oder Paul Anderson oder wer auch immer er sonst war (tausend Stimmen aus einem Mund – ging so ein alter Vers?). Er war zweifellos verrückt. Vielleicht war sie es auch. Tatsächlich hatte er recht mit der Annahme, dass sie beide einander glichen und sich gegenseitig helfen sollten.
Aber worin bestand ihr grundlegender Unterschied?
Es fiel ihr zunächst schwer, ihn zu finden, dabei lag es auf der Hand: Der Unterschied war Hans’ Aufgabe.
Rick Fairwells Leben war gescheitert. Matilde vermutete, dass seine Lügen dem Selbsterhalt dienten, das Resultat jedoch stets dasselbe blieb.
Diese Reise hatte für ihn nie die Aussicht auf Erlösung verheißen, die Rick sich erhoffte. Sie glich einer Fahrt geradewegs in den Abgrund, und es war Zufall, dass sie dieselbe Endstation hatten. Warum also nicht sein Spiel mitspielen, nach allem, was sie gemeinsam erlebten?
Dio mio, wenn die Trolle kamen und die Kannibalenhorden und die Wilde Jagd, machte es keinen Unterschied, was er in ihnen sah.
Ein gequältes Kichern entrang ihrer Kehle. Ihr erster Tag auf der Lodge war vollkommen anders verlaufen, als sie sich ausgemalt hatte. Ihr bisheriges Leben lag in Scherben. Die Stimme eines toten Geliebten, den sie kaum kannte, verfolgte sie, und sie vertraute sich einem trinksüchtigen Mann an, dem augenblicklich einfallen konnte, zuerst sie und danach sich selbst zur Hölle zu schicken. Es war auf jeden Fall ein Abenteuer.
Matilde warf sich im Bett herum und dachte an Hans’ Geschenk.
„Ein Wolf sollte dein Geschenk sein, Hans.“ Im Dunkeln spürte sie den Puls unter dem Verband an ihrer Hand. Sie konnte sich vorstellen, wie sich das Weiß mit dem Blut rot färbte.
2. Kapitel: Rick
Der beißende Geruch von Erbrochenem reißt mich aus dem Schlaf. Meine Augen brennen in ihren Höhlen; im Sichtfeld tanzen purpurne Flecken. Ich habe vergessen, die Vorhänge zu schließen. Mein Körper, nicht länger gefühllos, hat heute Morgen endlich begriffen, dass eine Hetzjagd durch den Zug die Muskeln strapaziert. Alles schmerzt. Überhaupt am Leben zu sein, ist ein beunruhigendes Gefühl. Weitaus erschreckender erscheint mir jedoch, nicht mehr zu wissen, warum.
Zufrieden stelle ich fest, dass Hasans und mein Gepäck vom bärtigen Fahrer ins Zimmer gebracht worden ist. Ich mutmaße, dass es so ausgemacht war. Ich krame nach meiner Sonnenbrille, setze sie auf, öffne das Fenster und lasse frische Luft herein.
Ich nehme die Cognacflasche vom Tablett und wiege sie in meiner Hand; sie klebt. Ich schäme mich für meinen Blackout (und daran ist nicht nur der Alkohol schuld, alter Junge!), und prompt verstärken sich meine Kopfschmerzen. Die Flasche entgleitet mir und poltert zu Boden.
Matilde! Letzte Nacht … in Zimmer 203!
Schwerfällig, als hätte ich eine der bemerkenswertesten Denkaufgaben meines Lebens gelöst, setze ich mich auf die Bettkante.
„Matilde …“ Ich habe keine Kontrolle über meinen Körper, der sich anfühlt, als werde er durch Zementblöcke ans Bett gefesselt. Ich weiß nicht, wie lange ich dort sitze. Aber es muss eine ganze Weile sein; gelegentlich vernehme ich auf dem Flur Stimmen von Hotelgästen, die zum Frühstück eilen. Irgendwie schaffe ich es, ins Bad zu wanken. Meine Finger tasten nach dem Spiegelbild und machen mir die Unzulänglichkeit der Wirklichkeit bewusst. Was ist real? Fragmente meiner Träume schneiden sich in meine Erinnerungen. Namen, Zahlen, Worte, Gedanken fließen … mir wird zum ersten Mal vollends bewusst, wie fragil das alles ist. Wie konstruiert.
„Ich bin sicher, dass etwas auf uns zukommt“, hat Matilde gesagt. Ich glaube ihr; eine Stimme in meinem Inneren aber widerspricht: Sie ist psychisch krank, Ricki. Matilde steckt dich mit ihrem Wahn an.
Auf dem Weg zum Frühstück entfährt mir ein hysterisches Lachen.
Sind wir nicht alle auf unsere Weise wahnsinnig?
Im Frühstücksraum angekommen nehme ich mir gedankenverloren einen Zimtkringel aus einem Korb und mache mich heißhungrig über das Buffet her. Nervennahrung! Trotz meiner Anwandlung von Heiterkeit denke ich immerzu an die junge Italienerin … und an das, was uns bevorstehen könnte.
Ich kehre mit vollbeladenem Teller zu einem der freien Tische zurück, und während einer der Kellner vorbeieilt, schnipse ich mit dem Finger.
„Guten Morgen, min herre, mein Name ist Torben, was …“
„Entschuldigen Sie“, unterbreche ich ihn. „Haben Sie vielleicht ein Hausmittel gegen Kopfschmerzen? Es war eine lange Nacht …“ Ich zwinkere ihm mehrdeutig zu, und sein Gesichtsausdruck verrät mir, dass er zumindest seine eigene Vorstellung davon hat, was ich meine.
„Selbstredend. Ich bringe Ihnen gleich die Tabletten und ein Glas Was- …“
Ich hebe abwehrend die Hand und nehme zur Kenntnis, dass sie von kaltem Schweiß überzogen ist. Wenigstens zittert sie nicht! „Könnten Sie mir …“ Ein verschmitzter Ausdruck huscht über mein Gesicht.
„Wodka, Whiskey, Gin?“, fragt der Kellner, ohne mich ausreden zu lassen. „Branntwein, Cognac, Rum? Oder hochprozentigen Selbstgebrannten? Gar einen Absinth? Womit darf ich dienen, Mr. Fairwell?“
Am Rande bemerke ich, dass er meinen Namen kennt. Und ist da etwas Verächtliches in seiner Stimme?
Statt Verwunderung auszudrücken, bilden meine Lippen nur die Worte: „Einen Cognac … bitte!“
Torben nickt: „Sehr wohl, min herre“, und macht sich daran, meinen Wunsch zu erfüllen. Mir kommt in den Sinn, die Lodge sei ein Ort, an dem jeder Wunsch wahr wird. Ich lehne mich zurück und reibe mir die Schläfen. Durch die getönten Gläser meiner Sonnenbrille erkenne ich, wie weitere Gäste den Saal betreten.
Ich muss aufpassen, nicht aus meiner Rolle zu fallen. Dafür benötige ich keine Bühne.
*
Sie zog sich einen ihrer Jagdanzüge an, der sie sehr maskulin wirken ließ. Der Riss in ihrem Inneren knirschte, und da war die Kluft, die ihre Faust ins Spiegelbild gerissen hatte. Sie schwebte nach unten, hörte schon von weitem die Stimmen. Im Frühstückssaal erschienen ihr die Geräusche ihrer Umgebung viel zu laut. Sie wünschte sich Stille, Einsamkeit, wäre am liebsten geflohen. Stattdessen holte sie sich dunkles Brot (Das gibt es nicht in Italien!, notierte sie) und Butter vom Buffet.
Sie bemerkte Rick. Sein Gesicht war bleicher als sonst, eingefallen, krank.
Er sieht nicht gut aus, dachte sie, während sie sich an einen freien Tisch setzte. Irgendwie drängte es sie zu ihm, und zweifellos erwartete er, dass sie ihm Gesellschaft leistete. Sie traute sich nicht, weil sie nicht wusste, wie er über die vergangene Nacht dachte. Außerdem hatte sie es sich fest vorgenommen.
Kaum begann Matilde zu essen, da beobachtete sie, wie Rick sich mit Verschwörermiene an einen Kellner wandte, woraufhin dieser mit einem beflissenen Nicken davoneilte. Wohl ahnend, um was es ging, sah sie ihn vor ihrem geistigen Auge erneut außer Kontrolle geraten. Ohne zu registrieren, was sie tat, verließ sie ihren Platz und stapfte zu ihm hinüber. Mit einer Stimme, die nichts Gutes verhieß, zischte sie: „Buongiorno“, und zum Kellner, der eben noch eine Bestellung an einem der anderen Tische entgegennahm, sagte sie: „Mr. Fairwell hat sich anders entschieden! Er hätte gerne ein Glas kühles Wasser.“
Rick starrte sie fassungslos an. „Matilde“ Seine Stimme klang hohl. Ihm schien plötzlich einzufallen, dass er aufstehen könnte, um ihr einen Platz anzubieten. Sogar ein unbeschwertes Lächeln krampfte sich um seine Lippen, wie ein Wurm, der seinen Kopf aus einem Kadaver reckte. „Setz dich zu mir! Bitte.“ Mit seiner Hand deutete er auf einen Stuhl. „Hast du dich von der Reise erholen können?“
Matilde legte den Kopf schief. Hatte er etwa die vorangegangene Nacht vergessen? „Ich glaube, ein Cognac um halb Neun ist keine gute Idee, meinst du nicht?“ Wie immer stierte er wahrscheinlich einen Deut an ihrem Blick vorbei und glaubte, sie denke bei seiner Sonnenbrille nicht daran!
In diesem Moment trat auch schon der Kellner an den Tisch: „Ein Wasser, min herre?“ Vielleicht hielt er ihren Auftritt für einen Scherz oder einen Ehekrach. Wenn es nur so wäre, dachte sie. „Die Dame hat recht. Achten Sie auf Ihre Gesundheit. Ich wünsche einen guten Appetit und einen angenehmen Aufenthalt in der Juvasshytta Lodge.“ Er ging mit einem vieldeutigen Lächeln.
Hinter Ricks Rücken betraten Ragnar und Olaf den Gastraum der Lodge. Matilde beobachtete, wie sie gleichzeitig die Hand hoben. Diesmal grinste Ragnar nicht, sondern erweckte einen todernsten Eindruck. Plötzlich stand die Zeit still, all das Raunen der Menschen verstummte, und einzig seine Stimme drang zu ihrem Ohr vor: „… dort treffe ich dann all jene Menschen meiner Ahnenreihe. Von Beginn an. Sie rufen bereits nach mir. Sie bitten mich, meinen Platz zwischen ihnen einzunehmen. Hinter den Toren von Walhalla, wo die tapferen Männer für alle Ewigkeit … leben.“
Rick reagierte nicht. Er schien Ragnars Worte nicht gehört zu haben. Die Szene wirkte surreal. Auf einmal drehten sich die beiden Männer um und verschwanden ohne ein weiteres Wort. Torben brachte das Glas Wasser.
Waren sie real oder war das eben nur ein Traum?, fragte sie sich. Ich hoffe, ich träume nicht schon wieder. Ich brauche die Unterstützung der beiden.
„Rick“, flüsterte sie und rüttelte ihn sanft am Arm. „Zwei Männer warten auf mich, ich habe sie gestern nach den Befragungen angeheuert, weil sie mir helfen sollen. Sie helfen mir, Hans zu bestatten … bei einem Gletscher. Ich habe es ihm versprochen.“ War das so? Matilde war sich nicht mehr sicher. Oder war auch das im Traum passiert? Es spielte keine Rolle. „Aber bevor ich gehe …“ Sie senkte den Blick. „Du solltest wissen, dass du heute Nacht bei mir warst, völlig betrunken. Du hast mich mit deinem Revolver bedroht … Ich hoffe, du erinnerst dich. Deswegen dachte ich, es wäre besser … du würdest jetzt nichts trinken. Aber weißt du was?“ Rick nahm einen Schluck aus dem Glas und schluckte die Tabletten, die daneben auf dem Tisch lagen. Die Sonnenbrille verhinderte, dass sie einschätzen konnte, welche Gefühle er ihr gegenüber in diesem Moment hegte. „Kein Mensch hat das Recht, jemand anderem vorzuschreiben, wie er sein Leben führen sollte. Ich … ich weiß, was von mir verlangt wird. Ich muss es tun. Dann werden …“ Sie fing an, leicht zu zittern. „… dann werden auch die Stimmen in meinem Kopf beerdigt sein.“
„Ich? Ich soll in deinem Zimmer gewesen sein?“ Rick überging den zweiten Teil ihrer Rede einfach. „Ich weiß nicht, Matilde … bist du sicher, dass du das nicht bloß geträumt hast? Ich habe dich letzte Nacht schreien gehört, aber als ich an deine Tür geklopft habe, hast du mir nicht geöffnet. Ich dachte, ich störe dich besser nicht weiter.“ Sein Mund eine blutlose Narbe, die Stirn in Besorgtheit ausdrückende Falten gelegt, undurchdringlich der schwarze Teich getönter Gläser, in welchem sie sich spiegelte. Was sie darin ausmachen konnte, war eine bleiche, zitternde Frau mit weit geöffneten Rehaugen – nicht denen einer Wildkatze! Dio mio, verdammt, ein Mann war in der Nacht bei ihr gewesen! Hans oder Rick oder ihr Vater – alle waren sie bei ihr gewesen, und Matilde konnte sie nicht mehr auseinanderhalten, und es spielte ohnehin keine Rolle mehr, weil sie in ihr waren, alle verrückt und widersinnig, und sie wollte am liebsten schreien, wie sie schrie, als sie im Zug einen Teil dieser Dreifaltigkeit ihrer Hassliebe erschossen hatte!
Anstatt zu schreien, antwortete sie: „Schon möglich, Rick, dass ich es mir eingebildet habe. Schon möglich …“
„Wie dem auch sei“, entgegnete er. „Ich hoffe, es steht nichts zwischen uns, Matilde.“
„Nein, ich …“ Sie traf spontan eine Entscheidung. „Hans hat mir gesagt, für wen er arbeitet, die Organisation La Main Droite. Er hat mir von der Wilden Jagd erzählt und von den Dämonen, den Trollen und den verrückten Einheimischen. Er hat mir die zwölf Tage der Asgardischen Reise gezeigt. Hans hat hier eine Aufgabe …“ Ihr Ton senkte sich, unendlich traurig. „ Hatte.“
Rick ging darauf nicht näher ein: „Und weiter?“
Seltsamerweise fühlte es sich richtig an, sich Rick zu offenbaren, und sie war sicher, er verstehe sie. Er als einziger, der real und noch am Leben war. „Irgendwie … ist die Sache jetzt persönlich geworden. Und ich finde, du – weil du dabei warst – solltest wissen, was die Hintergründe gewesen sind. Und vielleicht erzählt uns bald jemand, was das alles zu bedeuten hat.“
„Ich werde heute einen Gefährten im Krankenhaus in Lom besuchen … Hasan.“ Er leerte das Wasserglas und machte Anstalten aufzustehen. „Vielleicht erfahre ich in der Stadt Näheres über die Vorkommnisse, von denen du mir berichtet hast.“ Rick schwieg. Er fuhr fort: „Die Tirthankara der Jaina im Himalaya glauben seit fünftausend Jahren, dass allem eine Seele, die Jiva, innewohnt. Jene ist an das Karma gebunden. Äußere Einflüsse allerdings verunreinigen dieses Karma. Je nach Reinheitsgrad kann die Seele unterschiedliche Farben haben. Durch Askese, Feuer oder Eis kann sie aber immer wieder gereinigt werden. Aber pass bitte auf dich auf!“ Er lächelte, drückte ihre Hand und ließ sie mit aufgerissenen Augen am Tisch zurück.
Ist er wahnsinnig – oder bin ich es?, fragte sie sich. Ich muss die Stimmen zum Schweigen bringen. Sie verschwendete keinen Gedanken mehr an ihren Hunger oder an das, was Rick gesagt hatte, sondern eilte sofort auf ihr Zimmer. Dort öffnete sie den kleinen Koffer, den sie in Sicherheit bringen sollte. Es war alles dort. Unter Hans’ Kleidung verbargen sich seine Waffen. Die Polizei hatte offenbar keine Ahnung.
Matilde nahm einen der ordentlich gefalteten schwarzen Pullover auf und hielt einen Augenblick inne. Er fühlte sich sehr fein und warm an. Wie bei einem Akt unermesslichen Vergnügens streifte sie ihn langsam über und betrachtete sich im zersplitterten Spiegel. Sie sah sich Hans gegenüber, wie er am Fenster gestanden hatte. Wie lächerlich es wirken müsste, wenn sie jetzt Frauenkleider trüge. Er grinste sie an.
Sie nahm eine Waffe in die Hand, eine Luger 32, und zwei Trommelmagazine. Anschließend zog sie ihre eigene schneefeste Kleidung und die Schuhe an. Nur eine Mütze und Lederhandschuhe lieh sie sich von Hans aus. Sie schulterte ihr Gewehr John und fühlte sich bereit für die bevorstehende Unternehmung.
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