Читать книгу: «Die unfreiwilligen Reisen des Putti Eichelbaum (Steidl Pocket)», страница 2

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Dr. Bamberger, bei dem wir Deutschunterricht hatten und von dem wir gerade über die Tücken eines adversativ gebrauchten während belehrt worden waren, was uns schrecklich gelangweilt hatte, wurde blass. Wir waren mäuschenstill, als er dann seine Sachen packte und mit einem leisen »Lebt wohl, Jungen …« das Klassenzimmer verließ. Als ich mittags nach Hause kam, merkte ich sofort, dass noch mehr Schreckliches geschehen sein musste. Mein Vater war ernst und hatte Tränen in den Augen; auch meine Mutter hatte geweint.

Onkel Curt, so erfuhr ich dann, war an diesem 1. April vor seinem Anwaltsbüro von SA-Leuten angehalten, beschimpft und geschlagen worden!

Quer über den Preußenadler seines Notariatsschilds hatten sie einen gelben Streifen mit der Aufschrift JUDENSAU! geklebt, ihm selbst dann, als er versuchte, sich in seine Praxis zu retten, ein Pappschild um den Hals gehängt. Jude, der nicht gehorchen will! stand darauf, und damit wollten sie ihn die Linden entlang vor sich hertreiben! Nur durch das rasche und energische Eingreifen seiner Kollegen und Freunde Krauss und v. Godin war das verhindert worden.

Rechtsanwalt Dr. Georg Krauss, ein großer, stattlicher Mann mit sogenannten »Schmissen« – Narben von studentischen Säbelmensuren im Gesicht –, hatte die SA-Leute angebrüllt: Ob sie verrückt geworden wären, ob sie nicht wüssten, wen sie vor sich hätten?! Sie hatten keine Widerrede mehr gewagt und waren abgezogen. Aber schon wenige Tage später erhielt Onkel Curt ein amtliches Schreiben: Als »Nichtarier hatte man ihm das Notariat und die Zulassung als Rechtsanwalt mit sofortiger Wirkung entzogen!

Diese »Säuberung« des öffentlichen Dienstes und der freien Berufe betraf alle, die Juden waren oder, wie Onkel Curt und Tante Lottchen, von jüdischen Eltern oder Großeltern abstammten, auch wenn sie christlich getauft oder Dissidenten waren. Ausnahmen gab es nur für Frontkämpfer des Ersten Weltkriegs, die – wenn sie keine Vorgesetzten von Ariern waren – vorläufig weiter ihrem Beruf nachgehen durften.

»Dein Vater war doch Offizier«, sagte ich zu Putti.

»Ja, aber nicht an der Front – er hat sich 1914 zwar freiwillig gemeldet, aber sie brauchten ihn als Volljuristen dann im Verwaltungsdienst …«

Acht Wochen später reisten Curt, Lottchen und Putti Eichelbaum, der nun Richard hieß und einen eigenen Pass hatte, von Berlin ab. Am Bahnhof standen die Freunde und nahmen Abschied. Agnes weinte; es war Puttis zwölfter Geburtstag, und sie hatte ihm nicht mal einen Kuchen backen können! Die große Wohnung Badensche, Ecke Babelsberger Straße war schon vor zwei Tagen leergeräumt worden. Eichelbaums und sie hatten bis zu ihrer Abreise nebenan bei Hirschfelds Aufnahme gefunden. Gestern Abend waren dort plötzlich Männer von der Gestapo, der neuen Geheimen Staatspolizei, erschienen und hatten alles durchsucht, auch Eichelbaums Gepäck. Nur weil Onkel Curt Pässe, Visa und Fahrkarten für den nächsten Tag vorweisen konnte und weil Herr Hirschfeld und dessen Familie schwedische Staatsangehörige waren, hatte die Gestapo schließlich das Feld geräumt.

»Es war furchtbar«, weinte die sonst so resolute Agnes, »am liebsten würde ich mit den Herrschaften mitfahren, aber der Herr Doktor hat gesagt, das geht leider nicht – morgen mache ich weg von Berlin – ich fahre wieder nach Hause, nach Schlesien …«

Dann nahm sie ein zweites Mal Abschied von Putti.

Rechtsanwalt Dr. Krauss, der Tante Lottchen in die Arme geschlossen hatte, sagte plötzlich laut: »Seid froh, dass ihr diesen Dreckstall verlassen könnt! Ich wollte, ich könnte es auch – aber ich komme euch bald besuchen!«

Ein paar Leute drehten sich erschrocken um und gingen schnell weiter.

»Hattet ihr Schwierigkeiten mit – mit den Sachen?«, erkundigte sich Herr Goldstaub besorgt.

Tante Lottchen, sehr blass, die Tränen tapfer unterdrückend, verneinte stumm und deutete mit einer Kopfbewegung auf die weinende Agnes.

Onkel Curt nahm Herrn Goldstaub beiseite und sagte leise: »Lass uns hier lieber nicht davon reden – aber es ging besser, als man hoffen konnte …«

Eichelbaums ganze Wohnungseinrichtung samt dem vielen Tafelsilber und anderen Wertsachen, die mitzunehmen Juden nicht erlaubt war, rollte bereits in einem plombierten Waggon gen Süden. Geheime Staatspolizei und Zoll hatten nichts zu beanstanden gehabt. Die Kontrolle war im Lager der Möbelspedition vorgenommen worden. Dort hatte der bei den Behörden als besonders vertrauenswürdig empfohlene nunmehrige SA-Mann Beek – die Schalmeienkapelle war von der SA geschlossen übernommen worden – Stück für Stück mit den Listen verglichen und alles in Ordnung befunden, sodann als erfahrene Fachkraft mit allen erforderlichen Dokumenten, Stempeln und Plomben versehen lassen und auf den Weg gebracht. Von der Zürcher Filiale war der Empfang der Sendung bereits bestätigt worden. Herr Beek selbst hatte es sich nicht nehmen lassen, Agnes, die ihm bei der umständlichen Kontrolle sehr behilflich gewesen war, sofort zu verständigen, dass alles »richtig angekommen« wäre.

»Alles einsteigen!«

Mein Vater umarmte rasch noch einmal seinen alten Freund. »Du hast doch Rückfahrkarten genommen, Curt?«, hörte ich ihn fragen.

»Na, selbstverständlich, Hans! Was denn sonst?«

Als sich der D-Zug nach Stuttgart mit Kurswagen nach Zürich in Bewegung setzte, schrien alle durcheinander, winkten mit den Taschentüchern, drückten rasch noch einmal die aus den Fenstern hingestreckten Hände.

»Auf Wiedersehen«, rief als letzter Putti. Er war schon im Stimmbruch.

Juli 1933. 26.789 Personen im Deutschen Reich ohne Urteil in KZ-Haft. Viererpakt London-Paris-Rom-Berlin bringt Hitler internationale Anerkennung.

November 1933. 92,2% der deutschen Wähler stimmen für Hitlers Außenpolitik.

Januar 1934. Der NS-Einheitsstaat ist perfekt.

Februar 1934. Aufstand in Wien. Der katholisch-konservative Diktator Dollfuß setzt Militär gegen die SPÖ ein.

März 1934. In Deutschland beginnt der Autobahnbau, im April wird der monatliche »Eintopfsonntag« eingeführt, die Freizügigkeit bei der Wahl des Arbeitsplatzes wird abgeschafft.

25. April 1934. Gescheiterter Nazi-Aufstand in Österreich, bei dem Kanzler Dollfuß ermordet wird. Spannung zwischen Hitler und Mussolini auf dem Höhepunkt. Italienische Panzer stehen einmarschbereit am Brenner.

30. Juni / 1. Juli 1934. Sog. »Röhmputsch«, bei dem Hitler rund 1.000 seiner ältesten Kampfgefährten (und Mitwisser) umbringen lässt.

2. August 1934. Hindenburg im Alter von 86 Jahren gestorben. Hitler wird sein Nachfolger als Staatsoberhaupt (»Führer und Reichskanzler«).

Januar 1935. Volksabstimmung im Saargebiet: 90,5% für Anschluss an Deutschland. Die Anzahl der Arbeitslosen im Reich beträgt noch 2,9 Millionen.

Zürich – Lugano – Como – Mailand – Rom

Den ganzen 9. Juni 1933, seinen zwölften Geburtstag, verbrachte Putti auf der Eisenbahn. Es war eine lange Fahrt von Berlin über Leipzig, Zwickau, Plauen, Hof, Bamberg, Nürnberg, Ansbach nach Stuttgart und weiter nach Zürich, aber wider Erwarten verlief sie – wie er auf einer Postkarte aus Stuttgart mitteilte – »ganz lustig. Papa erzählte viele ulkige Geschichten von früher …«

Onkel Curt hatte bereits in Luckenwalde die Reiseflasche mit Cognac geleert und war, nachdem er sie von Putti beim Speisewagenkellner hatte auffüllen lassen und hin und wieder einen Schluck nahm, immer heiterer und gelassener geworden. Die Aufregungen des letzten Abends, die schlaflose Nacht und der traurige Abschied von Berlin und allen seinen Freunden schienen fast vergessen.

»Denkt nicht mehr daran, was gestern und vorher war«, sagte er, wenn Lottchen wieder nach ihrem Taschentuch zu suchen begann. »Das haben wir jetzt alles hinter uns, und in ein paar Stunden sind wir am Ziel. Wir machen nun Urlaub und freuen uns auf die Sommerfrische. Die Ferien haben schon begonnen!« Dann erzählte er, wie er als Sextaner mit den Eltern in ihr Sommerhaus nach Potsdam gezogen war, das dicht am Park vom Neuen Palais lag. Einmal sei er in diesem Park, wo zu spielen eigentlich verboten war, einem ein, zwei Jahre älteren Jungen begegnet, der sich ihm in den Weg stellte, ihn zu Boden stieß und rief: »Dir werde ich zeigen, wer hier Prinz ist!«

Aber da wäre plötzlich ein Reiter in weißer Uniform aufgetaucht, blitzschnell vom Pferd gestiegen und hätte seinem Gegner kräftig den Hintern versohlt mit den Worten: »Und dir werd ich zeigen, Oskar, wer hier Kaiser ist!«

Dies erkläre, hatte Onkel Curt hinzugefügt, seine zeitlebens etwas zwiespältigen Gefühle gegenüber dem Hause Hohenzollern. »Für Prinz Oskar und seine Brüder, die sich für Hitler haben einspannen lassen, habe ich nie etwas übriggehabt, aber Kaiser Wilhelm II. bin ich noch heute dankbar …«

Kurz vor Nürnberg war er dann eingeschlafen und erst in Stuttgart, wo ihr Kurswagen einem anderen Zug angehängt wurde, wieder aufgewacht, nun nicht mehr zum Spaßen aufgelegt. Je näher sie der Grenze kamen, desto unruhiger wurde er. Er hielt es dann im Abteil nicht mehr aus, begann auf dem Gang nervös auf und ab zu gehen, verschwand schließlich im WC, und als er ein paar Minuten später ins Abteil zurückkam, schien er sich wieder gefasst zu haben.

Das war schon kurz hinter Singen, und nachdem sie bei Schaffhausen die Grenze zur Schweiz passiert hatten, ohne von den nur flüchtig die Pässe kontrollierenden Beamten im Geringsten behelligt worden zu sein, schloss er erleichtert Frau und Sohn in die Arme.

»So, nun ist alle Angst vorbei! Jetzt sind wir in einem freien und anständigen Land!«

Und dann gestand er ihnen, was er kurz vor der Grenze getan hatte:

Er war im Geiste nochmals ganz genau durchgegangen, was ihnen bei einer strengen Kontrolle Schwierigkeiten bereiten könnte: Alle Papiere waren in Ordnung, kein Stempel fehlte; das Handgepäck enthielt absolut nichts, was Anstoß erregen konnte; jeder hatte nur so viel Geld bei sich, wie erlaubt war, und an Wertsachen nicht mehr, als was noch als normal gelten konnte – bis auf seine Taschenuhr!

Zwei Tage vor der Abreise hatte er sich von Goldstaubs noch dazu überreden lassen, von einem befreundeten Juwelier eine sehr teure Taschenuhr zu kaufen, die, trotz Vorzugspreis und Freundschaftsrabatt, ein kleines Vermögen gekostet hatte, die man aber im Notfall beleihen oder auch ohne großen Verlust würde verkaufen können. Gegen die Mitnahme einer Uhr konnte ja auch niemand etwas einwenden, aber da war ja noch die andere, die Armbanduhr am Handgelenk, Lottchens Hochzeitsgeschenk.

Als Jurist war er sich darüber im Klaren, dass ihm dies als Verbringung von nicht zum eigenen Gebrauch bestimmten Wertgegenständen ins Ausland und damit als Devisenvergehen zur Last gelegt werden konnte, und so hatte er die teure Taschenuhr aus dem WC-Fenster geworfen, um nicht in letzter Minute sie alle zu gefährden.

»Curtchen! Die schöne Uhr! Wie konntest du nur!«, hatte Lottchen zunächst ganz erschrocken gerufen, aber dann hatte auch sie die wieder aufkommenden Tränen unterdrückt und mitgelacht, denn die glückliche Ankunft in der Schweiz, wo man wieder Mensch sein konnte und keine Angst mehr zu haben brauchte, war ja etwas so Herrliches, dass man den Verlust einer Uhr, auch wenn sie aus Platin und mit Brillanten verziert gewesen war, leicht verschmerzen konnte.

Die Schweizer – das wussten sie ja von wiederholten Ferienaufenthalten im Berner Oberland und im Tessin – waren liebenswürdige, besonders ausländischen Gästen gegenüber stets sehr zuvorkommende Leute, und als sie dann in Zürich, wo sie spätabends eintrafen, ihre vorausbestellten Hotelzimmer betraten, fanden sie ihre Erwartungen bestätigt:

Der Direktor hatte es sich nicht nehmen lassen, einen großen Blumenstrauß für die gnädige Frau, Obst und Pralinen für den Herrn Sohn und eine gute Flasche für den geschätzten Herrn Doktor, der das Haus wieder einmal beehrte, auf die hoffentlich angenehm befundenen Zimmer zu schicken – mit den Komplimenten der Hoteldirektion, versteht sich.

Auch an den folgenden beiden Tagen, die sie noch in Zürich verbrachten, um die Lagerung des großen Gepäcks, der Möbel und des Hausrats zu regeln und ein paar Besorgungen zu machen, wurden sie als bevorzugte Gäste behandelt. Schließlich war Herr Rechtsanwalt Dr. Eichelbaum schon wiederholt zu wichtigen und langwierigen Vertragsverhandlungen hier abgestiegen und hatte im Auftrag seiner Berliner Mandanten prominente Vertreter der Zürcher Bankwelt empfangen.

Auch diesmal traf er sich mit seinen schweizerischen Geschäftsfreunden, von denen einer ihm sein Chalet bei Davos anbot. »Sie können dort mit Ihrer Familie gern ein paar Monate Urlaub machen und sich erholen. Es wird Ihnen guttun. Es liegt wunderbar einsam, in einem prächtigen Skigebiet! Wir selbst werden – leider! – nicht vor Weihnachten dazu kommen, dort hinzufahren …«

Als Putti seinen Vater von diesem freundlichen Angebot erzählen hörte, war er begeistert: ein richtiges Blockhaus in den Bergen, wie es die Trapper in Amerika bauten, vielleicht sogar mit Schießscharten! Keine Schule weit und breit, nur noch Ferien, und nahe dem Haus ein Gebirgsbach, wo man Forellen fangen und probieren könnte, mit einer Bratpfanne Gold zu waschen!

Aber – und zu Lottchens großer Erleichterung – der Vater erklärte, er habe das großzügige Angebot natürlich nicht angenommen. Zwar reichte ihr Geld, das sie nach Bezahlung aller Steuern und Sonderabgaben nach Zürich hatten transferieren können, bei sehr sparsamer Lebensführung noch für ein bis anderthalb Jahre, jedoch müsste er sich nun rasch umsehen nach Möglichkeiten, beruflich wieder festen Fuß zu fassen.

Seit Hitler mit dem Ermächtigungsgesetz vom neuen Reichstag diktatorische Vollmachten für die nächsten vier Jahre erhalten hätte, müsste man sich darauf einrichten, dass der braune Spuk nicht so schnell vorüber sein würde, wie man anfangs gehofft hätte. Zur Eröffnung einer Anwaltspraxis bekäme er in der Schweiz keine Erlaubnis, und zum Nichtstun und Geldausgeben wäre es hier zu teuer. Also müsste er entweder bald eine Verdienstmöglichkeit finden oder sie müssten Weiterreisen, vielleicht nach Italien, wo das Leben etwas billiger wäre. Morgen hätte er eine Verabredung in Lugano – mit einem Schweizer, den er von früher her kenne und der ihn schon wiederholt zu seinem juristischen Berater hatte haben wollen. Wenn dies noch der Fall wäre, könnte ihnen dieser einflussreiche Mann wohl auch die Erlaubnis zu längerem Aufenthalt in der Schweiz verschaffen, und sie würden bleiben. Wenn nicht, müssten sie es in Italien versuchen.

So fuhren sie also am nächsten Morgen weiter nach Lugano, und unterwegs lasen sie die Zeitungen, auf die sich Puttis Vater, seit sie Deutschland verlassen hatten, geradezu stürzte und alles, was für sie von Interesse war oder wichtig werden konnte, genauestens studierte, wohl auch seiner Familie vorlas, wenn er sie damit zu ermuntern hoffte.

»Hört mal! Arturo Toscanini, der große Dirigent, hat seine Teilnahme an den Bayreuther Festspielen abgesagt – aus Protest gegen die Behandlung seiner jüdischen Künstlerkollegen durch die Nazis! Diese Backpfeife müsste Hitler doch eigentlich zur Besinnung bringen – solche Blamage vor der Weltöffentlichkeit kann er sich nicht leisten … Donnerwetter! Schmeling hat in New York den Kampf um die Weltmeisterschaft verloren – gegen den jüdischen Boxer Max Baer! Na, das freut mich aber – das wird die Nazis furchtbar ärgern!«

»Sie werden sagen: Das kommt davon, wenn man sich mit Juden einlässt«, hielt ihm seine Frau entgegen.

Putti aber, der sich dann die Sportseite erbat, fühlte sich hin und her gerissen. Ausgerechnet Maxe, sein Idol und das aller seiner Freunde, durch K. o. in der zehnten Runde um die fast sichere Weltmeisterschaft gebracht! Hätte es nicht ein anderer sein können, irgendein Muskelprotz von der SA? Andererseits war es natürlich eine tolle Sache, dass es ein jüdischer Boxer den Deutschen mal richtig gezeigt hatte und gegen den großen Max Schmeling Sieger geworden war!

»Ich weiß nicht«, meinte dazu seine Mutter. »Juden sollten sich nicht so vordrängen – es genügt doch, wenn man der Zweit- oder Drittbeste ist …«

»Und was ist mit Einstein?«, fragte Putti.

Die Eltern lachten.

Als sie durch den St.-Gotthard-Tunnel fuhren, hörte Putti den Vater sagen: »So, Lottchen, jetzt haben wir auch die Sprachgrenze hinter uns – gleich sind wir im Ticino, im Tessin, und da wird nur noch Italienisch gesprochen!«

Es schien ihn zu freuen, Putti aber erschrak.

Gewiss, der Papa konnte sich auf Italienisch unterhalten. Er liebte diese Sprache, die wie Musik klang. Aber was sollte er jetzt machen? Außer mit den Eltern würde er mit niemandem mehr reden können!

Hoffentlich, dachte er, bekommt Papa heute Abend von dem Schweizer Herrn ein gutes Angebot, und wir können dann in Zürich wohnen oder in einer anderen Stadt, wo Deutsch gesprochen wird, auch endlich die Kisten auspacken, die noch beim Spediteur stehen, und die elektrische Eisenbahn aufbauen …

Also drückte er die Daumen, dass Herr Dr. Hürlimann Papa helfen würde.

Es war ein kleiner, schon ziemlich alter Herr mit weißen Haaren, der dann im Hotel mit ihnen das Abendessen einnahm – nur eine Tasse Bouillon, etwas Quark und einen Apfel, denn er hatte einen äußerst schwachen Magen, und aus Rücksicht auf Herrn Dr. Hürlimann aßen sie das Gleiche.

Nach dem frugalen Mahl zogen sich die beiden Herren in ein Nebenzimmer zurück. Dr. Hürlimann, vom Hoteldirektor selbst unter vielen Verbeugungen dorthin begleitet, bestellte für die Unterredung eine Flasche kohlensäurefreies Mineralwasser mit zwei Gläsern und erklärte, dies ginge nun auf seine Rechnung.

Das Gespräch dauerte nicht sehr lange.

»Ich war froh«, hörte Putti seinen Vater davon berichten, »als er um halb zehn Uhr aufstand und sagte, er wäre es gewöhnt, um diese Zeit zu Bett zu gehen … Dieser Geizkragen! Allein in Deutschland hat er Abermillionen in Beteiligungen stecken. Ihm gehören Kinos, Filmgesellschaften, Varietés, Tanzpaläste und halbseidene Klubs. Außerdem hat er stille Beteiligungen an Flugzeug- und anderen Werken – doch sogar das abscheuliche Mineralwasser hat er zu bezahlen ›vergessen‹!«

»Das ist doch unwichtig, Curtchen, vergiss die Hauptsache nicht!«

»Die Hauptsache war, dass er mich ausgefragt hat, ob Gefahr bestände, dass die Nazis seine Nachtbars und ähnliche Lokalitäten schließen könnten, was ich leider verneinen musste, und ob schon aufgerüstet werde, was er sich erhofft, ich hingegen befürchte und vermute, aber nicht weiß …«

»Und hat er dir ein Angebot gemacht?«

»Allerdings – er schlug mir vor, die komplizierten Vertragswerke, die bisher meine Kollegen Krauss und Godin mit mir ausgearbeitet haben, fortan allein für ihn zu machen und zum halben Honorar! Natürlich habe ich das abgelehnt, aber er hoffte, ich würde es mir gewiss noch anders überlegen – doch da irrt er sich!«

»Gewiss, Curtchen, eine unerhörte Zumutung, aber …«, hörte Putti seine Mutter noch sagen. Dann wurde die Verbindungstür zum elterlichen Schlafzimmer leise geschlossen, und er verstand nicht mehr, was sie noch miteinander besprachen.

Aber er wusste jetzt, dass es mit der Schweiz nichts geworden war und dass er nun rasch Italienisch würde lernen müssen. Ein paar Worte hatte er ja schon von Papa beigebracht bekommen: Un piccolo gelato, per favore! So bekam man ein kleines Eis – aber wie erklärte man dem Mann hinter dem hohen Tresen, dass man ein großes haben wollte, oder zwar keins mit Bananen- und Melonengeschmack, sondern mit Vanille und Schokolade oder Erdbeeren? Leider konnte man, wenn man vor der Theke stand, nicht in die Gefäße sehen und dann auf das Gewünschte zeigen.

Am nächsten Tag fuhren sie weiter nach Como. Diesmal dauerte die Fahrt nicht lange. Die Stadt, die ganz nahe der schweizerischen Grenze an einem schönen See lag, gefiel Putti sehr. Auch stiegen sie wieder in einem Hotel ab, wo alle Deutsch verstanden. Als Erstes schrieben sie dann Ansichtskarten an alle guten Freunde in Deutschland. Papa las vor, was er zu berichten hatte:

Como. Hotel Barchetta, 15. Juni 1933.

Meine Lieben, obiges ist unsere vorläufige Adresse. Wir werden in Como bleiben, zunächst wenigstens, und uns die Post von hier abholen. Wir sind ganz froh, so schwer der Entschluss auch war.

Natürlich sind wir noch nicht ganz zur Besinnung gekommen. Aber die wunderbare Natur und die – innere – Ruhe, die man hier hat, sind schon etwas wert. Wir möchten gern von Euch hören – schreibt also bald!

Sobald wir festeren Fuß gefasst haben, hört Ihr mehr von uns. Wie es beruflich sein wird, habe ich natürlich keine Ahnung. Vorläufig ist es eine Art Sommerfrische – Hochzeitsreise mit Kind.

Herzlichste Grüße und alles Gute

Euer Curt.

»Und was hast du deinen Freunden zu berichten?«, fragte er Putti.

Putti, der noch bei der ersten Karte und über die Anrede Lieber Bernt! kaum hinausgekommen war, überlegte. Schließlich sagte er: »Naja, dass es hier Palmen gibt und dass man vielleicht schwimmen gehen kann, und dass es für mich sehr langweilig ist, weil ich überhaupt keine Freunde habe und erst sehr wenig Italienisch kann …«

Doch dieser betrübliche Zustand änderte sich schon bald. Nach knapp zwei Wochen im Hotel, wo es für Leute, die von ihren Ersparnissen leben mussten, auf die Dauer zu teuer war, fanden die Eltern ein möbliertes Ferienhaus, das zum 1. Juli zu vermieten war, und zogen dorthin um.

Die kleine Villa lag hoch über der Stadt am Monte Maurizio. Eine steinerne Treppe mit Hunderten von Stufen und so schmal, dass sie hintereinander hinaufsteigen mussten, war zu erklimmen, und von oben hatte man eine herrliche Aussicht auf Como und den See, allerdings auch auf eine Seidenspinnerei. Das Rauschen ihrer Spindeln war so laut, dass sie die Fenster schließen mussten, damit sie sich ohne zu schreien verständigen konnten. Puttis Eltern, noch außer Atem vom steilen Aufstieg, sahen sich entgeistert an.

»Du sagtest doch, Curtchen, es sei hier so wunderbar still – nur Vogelgezwitscher und fernes Glockenläuten …!?«

Er nickte bekümmert und schien nachzudenken. Dann rief er: »Richtig! Die junge Frau von der Agentur sagte, sie sei im Augenblick so beschäftigt, dass sie mir das Haus erst abends, nach Geschäftsschluss, zeigen könnte, besser noch am Sonntagvormittag, weil es dann heller sei …«

» … und vor allem ruhiger, weil sonntags die Maschinen abgestellt sind! Wahrscheinlich hat dir die Frau schöne Augen gemacht, und du bist auf ihre Tricks hereingefallen wie einer, der zum ersten Mal zum Jahrmarkt in die Stadt kommt. Und du willst ein Jude sein!?«

»Was heißt hier: wollen?«

Sie lachten noch, als es an der Haustür klopfte.

Putti öffnete, und eine Frau mit einem Blumenstrauß kam herein. »Herzlich willkommen«, sagte sie auf Deutsch und schüttelte ihnen die Hände. »Ich sehe, Sie sind vergnügt. Das freut mich. Ich bin Frau Erbslöh, Ihre Nachbarin. Mein Mann leitet die Fabrik, die solchen Krach macht, aber man gewöhnt sich daran … Ich bin gekommen, um zu sehen, ob ich Ihnen irgendwie behilflich sein kann. Wir sind aus Elberfeld, und Sie sind aus Berlin, nicht wahr? Und Ihr Gatte, der Herr Doktor, ist Rechtsanwalt. Jedenfalls freuen wir uns, mal wieder Deutsch reden zu können, und mit so vornehmen und gebildeten Leuten … Glauben Sie mir: Hier lässt es sich gut leben – vor allem ruhiger als jetzt in Deutschland, wenn Sie verstehen, was ich meine … Und Ihrem netten Jungen wird es hier auch gefallen – wie heißt du denn? Richard? Sie werden dich Riccardo nennen, aber das macht ja nichts! Mein Karl, der wird Carlo gerufen – er ist so alt wie du – zwölf, nicht wahr? Er wird sich sehr freuen über einen deutschen Freund gleich nebenan!«


Putti und seine Eltern nach der Ankunft in Como, 1933

Dank Frau Erbslöh, die Lottchen gleich unter ihre Fittiche nahm, gab es keine Haushaltsprobleme und keine Anpassungsschwierigkeiten. Sie besorgte jemanden aus der Fabrik, der den verstopften Ausguss reinigte, die Propangasflasche für den Küchenherd auswechselte und den Warmwasserhahn im Bad mit einer neuen Dichtung versah; sie kannte die Quellen für frische Landeier, Butter, Honig, Bauernbrot und Gemüse, einen guten und keineswegs teuren Friseur und eine zuverlässige Zugehfrau, die einmal wöchentlich gründlich putzte, und sie wusste auch, wo es – unter dem Ladentisch, weil verbotenerweise aus der Schweiz eingeschmuggelt – die bereits in Prag erscheinenden Zeitungen der deutschen politischen Emigranten zu kaufen gab – eine Mitteilung, die Puttis Eltern aufhorchen ließ.

Frau Erbslöh hörte gar nicht auf zu reden, so froh war sie, endlich mal wieder mit, wie sie sagte, »richtigen Deutschen reden zu können, die keine Nazis sind«.

Auch Putti, der eigentlich nur darauf brannte, Karl Erbslöh kennenzulernen und den alles Übrige nicht sonderlich interessierte, war erstaunt über so viel Unbekümmertheit. Frau Erbslöh aber erklärte ganz unbefangen: »Como ist nicht groß – hier wissen die Leute alles über Fremde, die keine Touristen sind. Die Frau von der agenzia, die Ihnen das Haus vermietet hat, sagte schon heute früh zu mir: ›Signora Anna‹ – so nennen sie mich hier –, ›das sind noble, gebildete Leute, ein dottore aus Berlin mit einer eleganten Dame zur Frau und einem Sohn, so alt wie Ihr Carlo. Ihre Möbel sind in Zürich – sie haben gewiss Deutschland verlassen müssen …‹ Und Carlotta, die Sekretärin meines Mannes, ist die Cousine der Dame an der Rezeption des Hotels Barchetta, wo Sie bis jetzt gewohnt haben, und die gewiss einen Blick auf die Ansichtskarten geworfen hat, die Sie nach Deutschland geschickt haben – jedenfalls sagte sie mir, Sie seien ausgewandert … Die Leute hier sind ja so neugierig! Und so froh, wenn jemand kein Faschist und kein Nazi ist … Sie kommen doch heute Abend zu uns auf ein Glas Wein, nicht wahr? Mein Mann freut sich schon sehr darauf! Ach, da kommt ja auch mein Karl, der es nicht abwarten kann, Ihren Richard kennenzulernen!«

Für Putti wurde Como, nachdem Karl Erbslöh ihm alles Interessante gezeigt und sich mit ihm angefreundet hatte, nun tatsächlich zur Sommerfrische und war gar nicht mehr langweilig. Fast vergaß er, dass es für ihn und die Eltern kein Berliner Zuhause, keine Rückkehr zu alten Freunden und zu Agnes mehr gab.

Er wurde nur immer wieder daran erinnert, wenn die Eltern davon sprachen, aber auch sie waren jetzt gefasster und mitunter sogar ganz fröhlich, vor allem, wenn sie Erbslöhs besuchten oder diese zu ihnen kamen, was abwechselnd beinahe jeden Abend der Fall war.

Herr Erbslöh, der Direktor der lärmenden Seidenfabrik, war ein kräftiger Mann um die Fünfzig mit dünnem Haarkranz um den eckigen Schädel, Sommersprossen und kleinem Schnurrbart. Er erklärte schon bei der ersten Begegnung, seine Pranken vorweisend, er sei eigentlich nur ein einfacher Prolet, der es in mehr als dreißig Jahren »wackerer Maloche« für kapitalistische Ausbeuter zum Werkmeister und nun sogar zum Direktor eines Zweigbetriebs gebracht habe. Außerdem sei er Marxist und in Elberfeld als »Roter« bekannt. Hätte ihm die Geschäftsleitung nicht diesen Auslandsposten zugeschanzt, säße er jetzt wohl im KZ, sofern ihn die Wuppertaler SA-Rabauken nicht schon totgeschlagen hätten. Er sei genauso froh wie der Herr Doktor, hier in Como in Sicherheit zu sein und in Ruhe die Weltrevolution abwarten zu können, und gegen Juden habe er gar nichts, im Gegenteil, er begrüße ein Bündnis der bürgerlichen Intelligenz mit dem Proletariat, das dem Klassenkampf eine neue Qualität gebe.

Puttis Vater, der überhaupt nicht auf die Weltrevolution, sondern nur auf die Wiederkehr von Ruhe und Ordnung in Deutschland wartete, nicht die geringste Neigung zum Klassenkampf verspürte und im vorigen Jahr noch für Hindenburg gestimmt hatte, fand Herrn Erbslöh, wenn er seine politischen Ansichten verbreitete, etwas anstrengend. Aber er war dankbar für die große Hilfe, die Frau Erbslöh für Lottchen bedeutete, und froh darüber, dass Putti nun wieder einen Freund hatte und ganz glücklich zu sein schien.

Schon etwa drei Wochen nach ihrem Einzug in die vom Fabriklärm umbrandete Villa, wo man die nächtliche und sonntägliche Stille als doppelt wohltuend empfand, kam überraschend Georg Krauss aus Berlin zu Besuch. Er hatte sich eine Geschäftsreise in die Schweiz genehmigen lassen und einen Abstecher zum Freund und Kollegen in Como gewagt.

Dr. Krauss brachte unerlaubterweise »für Curt noch eingegangene Honorare« mit, fast ein Monatseinkommen guter Zeiten, für Lottchen deren Lieblingspralinen, für Putti als nachträgliches Geburtstagsgeschenk eine Trapperausrüstung nebst Taschenlampe, außerdem eines meiner Lieblingsbücher, Emil und die Detektive, das ich ihm mitgegeben hatte.

»Kästner hat jetzt Schreibverbot«, berichtete Georg Krauss den Erwachsenen, und überhaupt habe sich der Druck noch verstärkt. Alle Parteien und Gewerkschaften waren aufgelöst, sämtliche dem Regime missliebigen Zeitungen verboten. Es gab nur noch die Organisationen der Nazis und deren Presse, an Literatur kaum anderes als »Blut und Boden«-Verherrlichung. Im Mai waren in allen Universitätsstädten »artfremde« Bücher öffentlich verbrannt worden – »Die größte Schande für ein Kulturvolk, die es überhaupt gibt!«, wie Dr. Krauss laut und deutlich erklärte, obwohl sie bei dieser Unterhaltung im Freien, auf einer Caféterrasse mitten in Como, an der Piazza vor dem Dom, saßen. Dr. Krauss hatte sie alle eingeladen, auch Erbslöhs, mit denen er sich sofort gut verstand.

»Und diese Dreckskerle, die unser Land in Schande bringen, werden vom Ausland auch noch hofiert! England, Frankreich und Italien haben heute einen Pakt mit der Hitler-Regierung geschlossen! Damit werten sie dieses Schurkenregime auf und billigen stillschweigend alle Missetaten!«


Rechtsanwalt Dr. Georg Krauss; während des Zweiten Weltkriegs als Verwaltungsoffizier in Frankreich. Nach dem Krieg war er 1. Generalkonsul der BRD in New York.

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26 мая 2021
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372 стр. 37 иллюстраций
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9783958299498
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