So Gut Wie Vorüber

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Kapitel drei

Vor Cassies Augen wurde die Stadtlandschaft von Paris sichtbar. Hohe Wohngebäude und düstere Industrieblöcke verwandelten sich langsam in die baumreiche Vorstadt. Der Nachmittag war kalt und grau und stellenweise regnete und windete es.

Sie reckte ihren Hals, um die vorbeiziehenden Schilder sehen zu können. Sie fuhren in Richtung Saint Maur und zeitweise glaubte sie, ihr Reiseziel könnte dort liegen. Doch der Fahrer fuhr an der Ausfahrt vorbei und folgte weiter der Straße aus der Stadt hinaus.

„Wie weit ist es noch?“, fragte sie, um ein Gespräch zu beginnen. Doch er grunzte nur unbestimmt und drehte das Radio lauter.

Der Regen klopfte gegen die Fenster und sie spürte das kalte Glas an ihrer Wange. Sie wünschte sich ihre dicke Jacke aus dem Kofferraum herbei. Außerdem hatte sie einen Bärenhunger – sie hatte kein Frühstück gegessen und seither keine Gelegenheit gefunden, sich etwas zu essen zu kaufen.

Nach über einer halben Stunde erreichten sie das offene Land und fuhren am Ufer der Marne entlang. Bunt bemalte Binnenschiffe waren die einzigen Farbtupfer in der Trübheit. Nur wenige Menschen in Regenjacken liefen unter den Bäumen. Einige der Bäume waren bereits kahl, andere trugen noch immer rostbraune und goldene Blätter.

„Ziemlich kalt heute, nicht wahr?“, bemerkte sie und versuchte sich erneut an einer Unterhaltung mit dem Fahrer.

Seine einzige Antwort bestand aus einem gemurmelten ‚oui‘, doch wenigstens schaltete er die Heizung an und ihr Zittern stoppte. In der Wärme des Wagens nickte sie unruhig ein, während sie Kilometer für Kilometer zurücklegten.

Eine scharfe Bremsung und ein schrilles Hupen ließen sie aufschrecken. Der Fahrer schob sich an einem stehenden LKW vorbei, verließ den Highway und bog auf eine schmale, mit Bäumen gesäumte, Straße ab. Der Regen hatte sich verzogen und das frühabendliche Licht malte den Herbst in wunderschönen Farben. Cassie sah aus dem Fenster, bewunderte die hügelige Landschaft und das Patchwork aus Feldern und riesigen, dunklen Wäldern. Sie fuhren an einem Weinbaugebiet vorbei, wo die ordentlichen Rebenreihen sich am Hügel entlangschlängelten.

Mit verlangsamter Geschwindigkeit passierte der Fahrer ein Dorf. Helle Steinhäuser mit gebogenen Fenstern und steilen Ziegeldächern standen an der Straße. Dahinter sah sie offene Felder und als sie an einer Steinbrücke vorbeikamen, erhaschte sie einen Blick auf den Kanal, der von Trauerweiden gesäumt war. Die hohe Kirchturmspitze zog sie in ihren Bann und sie fragte sich, wie alt das Gebäude war.

Sie mussten nun bald da sein, vielleicht befand sich das Anwesen ja sogar in dieser Nachbarschaft. Doch sie verabschiedete sich schnell von dieser Vermutung, als sie das Dorf verließen und sich immer weiter durch die hügelige Landschaft bewegten. Schließlich hatte sie die Orientierung ganz verloren und auch die Spitze des Kirchturms war nun nicht mehr sichtbar. Das GPS wies darauf hin, kein Signal mehr zu haben und der Fahrer brummte verärgert. Schließlich nahm er sein Handy und betrachtete konzentriert die Karte, während er fuhr.

Und dann bogen sie rechts ab und fuhren zwischen zwei hohen Torpfosten hindurch. Cassie setzte sich aufrechter hin und starrte auf die lange Kieseinfahrt. Vor ihnen lag mächtig und elegant das Anwesen – die untergehende Sonne beleuchtete auf atemberaubende Weise die Steinwände.

Die Reifen knirschten auf dem Kies, als der Wagen vor einem großen und einschüchternden Eingang zum Stehen kam. Sie wurde nervös; das Gebäude war viel größer, als sie es sich vorgestellt hatte. Es war wie ein Palast mit hohen Schornsteinen und kunstvoll verzierten Türmchen. Sie zählte an der eindrucksvollen Front achtzehn Fenster mit aufwändiger Steinarbeit und vielen Details. Das Haus selbst überblickte einen gepflegten Garten mit sorgfältig getrimmten Hecken und befestigten Wegen.

Wie konnte sie sich mit einer Familie identifizieren, die so prachtvoll wohnte, wo sie doch selbst mit Nichts aufgewachsen war?

Sie realisierte, dass der Fahrer ungeduldig mit den Fingern gegen das Lenkrad klopfte. Offensichtlich würde er ihr nicht mit ihren Koffern helfen. Schnell kletterte sie aus dem Wagen.

Im gnadenlosen Wind fror sie sofort und eilte zum Kofferraum, um ihren Koffer herauszuheben, ihn über den Kies zu zerren und sich dann unter dem Vordach unterzustellen, um sich die Jacke zuzuziehen.

Es gab keine Klingel an der großen Holztür, lediglich einen großen Türklopfer aus Eisen, der kalt in ihrer Hand lag. Das Geräusch war überraschend laut und nur wenige Augenblicke später hörte Cassie Schritte.

Die Tür öffnete sich und vor ihr stand eine Hausangestellte in dunkler Uniform mit eng zurückgebundenem Pferdeschwanz. Hinter ihr konnte Cassie die große Eingangshalle mit opulenten Wandbehängen und einer riesigen Holztreppe am anderen Ende sehen.

Das Hausmädchen sah sich um, als die Tür zufiel.

Sofort spürte Cassie die Präsenz von Streit. Sie konnte die Spannung in der Luft fühlen wie einen näherkommenden Sturm; sie war in der nervösen Haltung des Mädchens, dem Knallen der Tür und den weitentfernten, chaotischen Schreien, die in Stille übergingen, erkennbar. Ihr Inneres zog sich zusammen und sie überkam der übermächtige Wunsch, wegzurennen, dem Fahrer nachzueilen und ihn zurück zu rufen.

Stattdessen blieb sie stehen und zwang sich zu einem Lächeln.

„Ich bin Cassie, das neue Au-Pair. Die Familie erwartet mich.“

„Heute?“ Das Mädchen wirkte besorgt. „Einen Moment.“ Als sie ins Haus eilte, hörte Cassie sie rufen: „Monsieur Dubois, bitte kommen Sie schnell.“

Eine Minute später eilte ein kräftiger Mann mit dunklem Haar, das im Ansatz bereits grau wurde, ins Foyer. Sein Gesicht war verzerrt. Als er Cassie an der Tür warten sah, blieb er ruckartig stehen.

„Du bist schon hier?“, sagte er. „Meine Verlobte meinte, du kommst erst morgen früh.“

Er drehte sich zu einer jungen Frau mit blond gebleichtem Haar, die ihm gefolgt war. Sie trug ein Abendkleid und ihr attraktives Gesicht war angespannt.

„Ja, Pierre. Ich habe die E-Mail ausgedruckt, als ich in der Stadt war. Die Agentur meinte, der Flug lande um vier Uhr morgens.“ Sie drehte sich zu einem verzierten Holztisch, schob einen venezianischen Briefbeschwerer aus Glas beiseite und fuchtelte abwehrend mit einem Blatt. „Hier. Siehst du?“

Pierre schielte auf die Seite und seufzte.

„Da steht vier Uhr nachmittags, nicht vormittags. Der Fahrer, den du gebucht hast, kannte offensichtlich den Unterschied.“ Er drehte sich zu Cassie und streckte seine Hand aus. „Ich bin Pierre Dubois. Das ist meine Verlobte, Margot.“

Das Dienstmädchen stellte er nicht vor. Stattdessen keifte Margot sie an, das Zimmer gegenüber den Kinderzimmern herzurichten und das Mädchen eilte davon.

„Wo sind die Kinder? Schon im Bett? Sie sollten Cassie kennenlernen“, sagte Pierre.

Margot schüttelte den Kopf. „Sie essen zu Abend.“

„So spät? Habe ich dir nicht gesagt, dass an Schultagen früher zu Abend gegessen werden soll? Sie haben zwar Ferien, sollten aber dennoch bereits im Bett sein, um ihre Routine nicht zu verlieren.“

Margot starrte ihn an und zuckte ärgerlich mit den Schultern, bevor sie mit klackernden Stöckelschuhen in den Gang zu ihrer Rechten stiefelte.

„Antoinette?“, rief sie. „Ella? Marc?“

Sie wurde von donnernden Füßen und lauten Rufen belohnt.

Ein dunkelhaariger Junger rannte in das Foyer und hielt eine Puppe an den Haaren. Er wurde dicht von einem jüngeren, pummeligen Mädchen verfolgt, das laut weinte.

„Gib mir meine Barbie zurück!“, schrie sie.

Sie kamen rutschend ins Stehen, als sie die Erwachsenen sahen und der Junge rannte zur Treppe. Dabei verfing sich seine Schulter an der gebogenen Seite einer großen, blau-goldenen Vase.

Cassie schlug die Hände schockiert über dem Mund zusammen, als die Vase auf ihrem Sockel taumelte und dann auf dem Boden zerbarst. Bunte Glassplitter verteilten sich auf dem dunklen Holzboden.

Die Schockstille wurde von Pierres wütendem Bellen gebrochen.

„Marc! Gib Ella ihre Puppe zurück.“

Schlurfend und schmollend bewegte sich Marc an dem Trümmerhaufen vorbei. Widerwillig gab er Pierre die Puppe, der sie an Ella überreichte. Ihr Schluchzen verstummte und sie glättete die Haare der Puppe.

„Das war eine Durand Vase“, zischte Margot den Jungen an. „Antik. Unersetzlich. Hast du keinen Respekt für die Besitztümer deines Vaters?“

Er schwieg zur Antwort nur missmutig.

„Wo ist Antoinette?“, fragte Pierre und klang frustriert.

Margot sah nach oben und als Cassie ihrem Blick folgte, sah sie ein dünnes, dunkelhaariges Mädchen am oberen Ende der Treppe. Sie schien einige Jahre älter als ihre Geschwister zu sein. Sie trug ein elegantes und perfekt gebügeltes Kleid und wartete mit einer Hand an der Brüstung, bis sie die volle Aufmerksamkeit ihrer Familie hatte. Dann kam sie mit erhobenem Kinn die Treppe hinunter.

Erpicht darauf, einen guten Eindruck zu machen, räusperte Cassie sich und versuchte sich an einer freundlichen Begrüßung.

„Hallo Kinder. Mein Name ist Cassie. Es freut mich sehr, hier zu sein und nach euch sehen zu dürfen.“

Ella lächelte schüchtern zurück, während Marc unerbittlich gen Boden starrte. Antoinette sah sie lange und herausfordernd an. Dann, ohne ein Wort, wandte sie ihr den Rücken zu.

„Bitte entschuldige mich, Papa“, sagte sie zu Pierre. „Ich habe noch Haussaufgaben zu erledigen.“

„Natürlich“, sagte Pierre und Antoinette stolzierte wieder die Treppe hinauf.

Cassie spürte, wie ihr Gesicht vor Scham glühte, so bewusst abgelehnt worden zu sein. Sie fragte sich, ob sie etwas sagen, die Situation bereinigen oder Antoinettes unhöfliches Verhalten irgendwie erklären sollte. Aber sie war nicht in der Lage, die passenden Worte zu finden.

 

Margot murmelte wütend. „Ich hab’s dir doch gesagt, Pierre. Die Teenagerlaunen beginnen bereits.“ Cassie bemerkte, dass sie nicht als einzige von Antoinette ignoriert worden war.

„Wenigstens macht sie ihre Hausaufgaben, obwohl ihr niemand dabei hilft“, konterte Pierre. „Ella, Marc, warum stellt ihr euch Cassie nicht anständig vor?“

Kurze Stille. Offensichtlich würde sich hier niemand ohne Diskussion vorstellen. Aber vielleicht konnte sie die Spannung mit einigen Fragen auflösen.

„Also, Marc, ich kenne zwar deinen Namen, aber ich wüsste nur zu gerne, wie alt du bist“, sagte sie.

„Ich bin acht“, murmelte er.

Es war leicht, eine Ähnlichkeit zwischen ihm und Pierre auszumachen. Das widerspenstige Haar, das starke Kinn, die hellblauen Augen. Sie runzelten sogar die Stirn auf ähnliche Art und Weise. Die anderen Kinder hatten auch dunkles Haar, aber Ella und Antoinette hatten feinere Gesichtszüge.

„Und Ella, wie alt bist du?“

„Ich bin fast sechs“, verkündete Ella stolz. „Ich habe am Tag nach Weihnachten Geburtstag.“

„Das ist ein prima Tag, um Geburtstag zu haben. Ich hoffe, das bedeutet, dass du extra viele Geschenke bekommst.“

Ella lächelte überrascht, als hätte sie diesen Vorteil bisher nicht bedacht.

„Antoinette ist die älteste. Sie ist zwölf“, sagte sie.

Pierre klatschte in die Hände. „Okay, jetzt ist Schlafenszeit. Margot, zeig Cassie das Haus, nachdem du die Kinder zu Bett gebracht hast. Sie muss wissen, wie sie sich hier zurechtfinden kann. Aber mach schnell. Wir müssen um sieben los.“

„Ich muss mich noch fertig machen“, antwortete Margot säuerlich. „Du kannst die Kinder ins Bett bringen. Und ruf einen Butler für dieses Chaos. Ich werde Cassie das Haus zeigen.“

Pierre atmete scharf ein, sah zu Cassie und presste dann die Lippen zusammen. Sie nahm an, dass ihre Anwesenheit ihn dazu verleitet hatte, seine Worte hinunterzuschlucken.

„Ab ins Bett“, sagte er und die zwei Kinder folgten ihm unwillig die Treppen hinauf. Sie freute sich, zu sehen, dass Ella sich umdrehte und ihr kurz zuwinkte.

„Komm mit mir, Cassie“, befahl Margot.

Cassie folgte Margot durch die Tür zu ihrer Linken und fand sich in einer formellen Lounge mit exquisiten, glanzvollen Möbelstücken und Wandteppichen wieder. Der Raum war groß und kühl, im riesigen Kamin brannte kein Feuer.

„Diese Lounge wird selten benutzt und die Kinder sind hier nicht erlaubt. Der Hauptspeisesaal befindet sich dahinter, dort gelten dieselben Regeln.“

Cassie fragte sich, wie oft der massive Mahagonitisch benutzt wurde. Er wirkte makellos und sie zählte sechzehn Stühle mit hohen Rücken. Drei weitere Vasen, die der ähnelten, die Marc zerbrochen hatte, standen auf dem dunkel polierten Sideboard. Sie konnte sich keine fröhlichen Essensunterhaltungen an diesem nüchternen und stillen Ort vorstellen.

Wie musste es sich anfühlen, in einem solchen Haus aufzuwachsen? Mit dem Wissen, dass manche Räume wegen Möbeln, die beschädigt werden konnten, tabu waren? Sie nahm an, ein Kind könnte das Gefühl haben, weniger wert zu sein als ein Möbelstück.

„Wir nennen dies den Blauen Raum.“ Es war eine kleinere Lounge mit marineblauen Tapeten und großen Glastüren. Cassie vermutete, dass diese auf eine Veranda oder in einen Innenhof führten, aber es war dunkel und sie konnte im Glas lediglich die Reflektion der gedämmten Lichter des Zimmers erkennen. Sie wünschte sich für das Haus Lampen mit einer höheren Wattzahl – die Räume waren allesamt trüb beleuchtet und in jeder Ecke lauerten die Schatten.

Ihr fiel eine Skulptur ins Auge. Der Sockel der Marmorstatue war zerbrochen worden, also lag sie mit dem Gesicht nach oben auf einem Tisch. Die Gesichtszüge wirkten leer und unbeweglich, als bedecke der Stein das Gesicht eines toten Menschen. Die Extremitäten waren klobig und einfach geschnitzt. Cassie zitterte und mied den unheimlichen Anblick.

„Das ist eines unserer wertvollsten Stücke“, informierte Margot sie. „Marc hat es letzte Woche umgeworfen. Wir werden es bald reparieren lassen.“

Cassie dachte an die zerstörerische Energie den Jungen und die Art und Weise, wie seine Schulter zuvor an der Vase hängengeblieben war. War es ein reiner Unfall gewesen? Oder hatte er das unbewusste Bedürfnis verspürt, das Glas zu zerbrechen, um in einer Welt, wo Besitztümer Priorität haben zu schienen, bemerkt zu werden?

Margot führte sie auf gleichem Weg zurück. „Die Zimmer in diesem Flur bleiben verschlossen. Die Küche befindet sich in dieser Richtung zur Rechten, dahinter sind die Quartiere der Bediensteten. Zur Linken befindet sich außerdem ein kleiner Salon und der Raum, wo wir als Familie essen.“

Auf dem Weg zurück passierten sie einen grau gekleideten Butler mit Besen, Kehrschaufel und Bürste. Er stellte sich zur Seite, als sie an ihm vorbeigingen, aber Margot beachtete ihn überhaupt nicht.

Der Westflügel war wie das Spiegelbild zum Ostflügel. Große, abgedunkelte Räume mit exquisiten Möbelstücken und Kunstwerken. Leer und leise. Cassie zitterte und sehnte sich nach einem gemütlichen, hellen Licht oder dem vertrauten Geräusch eines Fernsehgeräts. Wenn so etwas in diesem Haus überhaupt existierte. Sie folgte Margot die riesige Treppe in den zweiten Stock hinauf.

„Der Gästeflügel.“ Drei makellose Schlafzimmer mit Himmelbetten, die von zwei geräumigen Gesellschaftszimmern separiert wurden. Die Zimmer waren ordentlich und unpersönlich wie Hotelzimmer und die Bettlaken sahen aus, als hätte man sie glattgebügelt.

„Und hier ist der Familienflügel.“

Cassies Stimmung hellte sich auf. Endlich ein Teil des Hauses, in dem Leute lebten.

„Das Kinderzimmer.“

Zu ihrer Verwirrung warte ein weiterer leerer Raum auf sie, der lediglich eine hohe Krippe mit vergitterten Seiten beherbergte.

„Und hier sind die Schlafzimmer der Kinder. Unsere Suite befindet sich am Ende des Ganges um die Ecke.“

Drei geschlossene Türen. Margots Stimme verebbte und Cassie nahm an, dass sie nicht nach den Kindern sehen wollte – nicht einmal, um Gute Nacht zu sagen.

„Das ist Antoinettes Zimmer, hier ist Marcs und Ellas ist unserem am nächsten. Dein Zimmer liegt gegenüber dem von Antoinette.“

Die Tür stand offen und zwei Dienstmädchen beeilten sich, das Bett zu machen. Das Zimmer war riesig und eiskalt; die einzigen anderen Möbelstücke waren zwei Lehnsessel, ein Tisch und eine große, hölzerne Garderobe. Schwere, rote Vorhänge verhüllten die Fenster. Ihr Koffer war am Fuß ihres Bettes abgestellt worden.

„Du wirst die Kinder hören, wenn sie weinen oder rufen – bitte kümmere dich dann um sie. Morgen früh müssen sie um acht Uhr angezogen und fertig sein. Sie werden nach draußen gehen, also suche ihnen warme Kleidung heraus.“

„Das werde ich, aber …“ Cassie nahm allen Mut zusammen. „Könnte ich etwas zu essen bekommen? Ich habe im Flugzeug zum letzten Mal etwas gegessen.“

Margot starrte sie perplex an und schüttelte dann den Kopf.

„Die Kinder haben früh zu Abend gegessen, weil wir ausgehen. Die Küche ist jetzt geschlossen. Morgen um sieben wird Frühstück serviert. Kannst du bis dahin warten?“

„Ich – ich nehme an.“ Ihr war schlecht vor Hunger und die Süßigkeiten in ihrer Tasche, die eigentlich für die Kinder gedacht waren, plötzlich eine unwiderstehliche Versuchung.

„Und ich muss der Agentur mailen und sie wissen lassen, dass ich angekommen bin. Wäre es möglich, das W-Lan-Passwort zu erhalten? Mein Handy hat hier kein Netz.“

Nun wurde Margots Blick leer. „Wir haben kein W-Lan und es gibt hier kein Handynetz. Das Haustelefon befindet sich in Pierres Arbeitszimmer. Um eine E-Mail zu senden, musst du in die Stadt gehen.“

Ohne auf Cassies Antwort zu warten, drehte sie sich um und ging in Richtung ihres Schlafzimmers.

Auch die Dienstmädchen waren verschwunden; sie hatten Cassies Bett in kühler Perfektion hinterlassen.

Sie schloss die Tür.

Niemals hätte sie sich träumen lassen, Heimweh zu verspüren. Aber in diesem Moment sehnte sie sich nach einer freundlichen Stimme, dem Geplapper des TV-Geräts und dem Chaos eines gefüllten Kühlschranks. Teller in der Spüle, Spielzeug auf dem Boden, YouTube-Videos auf dem Handy. Das glückliche Chaos einer normalen Familie. Ein Leben, von dem sie sich vorgestellt hatte, ein Teil werden zu dürfen.

Stattdessen befand sie sich bereits in einem bitteren und komplizierten Konflikt. Sie war nie in der Position gewesen, sofort mit den Kindern Freundschaft zu schließen – nicht mit den Familiendynamiken, die sich bereits abgespielt hatten. Dieser Ort war Schauplatz eines Krieges und während sie möglicherweise in der jungen Ella eine Alliierte finden konnte, fürchtete sie, dass Antoinette ihr gegenüber bereits feindlich gestimmt war.

Das Deckenlicht, das zuvor noch geflackert hatte, versagte plötzlich ganz. Cassie durchsuchte ihren Rucksack nach ihrem Handy, packte im Taschenlampenlicht so viel aus, wie sie konnte und schloss es schließlich an die einzige, sichtbare Steckdose am anderen Ende des Raumes an. Dann stolperte sie durch die Dunkelheit zurück in ihr Bett.

Kalt, beklommen und hungrig kletterte sie zwischen die kühlen Laken und zog sie bis zum Kinn nach oben. Sie hatte erwartet, sich nach dem Treffen mit der Familie hoffnungsvoller und optimistischer zu fühlen. Doch stattdessen zweifelte sie an ihrer Fähigkeit, mit ihnen klar zu kommen und fürchtete sich vor dem kommenden Tag.

Kapitel vier

Die Statue stand in Cassies Türrahmen und war von Dunkelheit umhüllt.

Die leblosen Augen und auch der Mund waren geöffnet, als sie sich auf sie zubewegte. Die haarfeinen Risse um die Lippen weiteten sich, dann begann das ganze Gesicht, auseinanderzufallen. Marmorfragmente regneten nach unten und rasselten auf dem Boden.

„Nein“, flüsterte Cassie, aber bemerkte dann, dass sie sich nicht bewegen konnte. Sie war in ihrem Bett gefangen, ihre Arme und Beine erstarrt, obwohl ihr panischer Verstand sie anflehte, zu verschwinden.

Die Statue kam mit ausgestreckten Armen auf sie zu, während Steinsplitter von ihren Extremitäten fielen. Die Skulptur begann, zu schreien; es war ein hohes und dünnes Geräusch. Dabei sah sie, was sich unter der Marmorhülle verbogen hatte.

Das Gesicht ihrer Schwester. Kalt, grau, tot.

„Nein, nein, nein!“, rief Cassie und ihre eigenen Rufe weckten sie.

Der Raum war kohlrabenschwarz und sie hatte sich zu einem zitternden Ball zusammengerollt. Sie setzte sich panisch auf und suchte nach einem Lichtschalter, den es nicht gab.

Es war ihre schlimmste Angst … die, die sie tagsüber zu verdrängen versuchte, sich aber immer wieder in ihre Albträume schlich. Die Angst, dass Jacqui verstorben war. Warum sonst hätte ihre Schwester einfach damit aufgehört, sich zu melden? Warum hatte sie seit Jahren weder Briefe noch Anrufe erhalten?

Vor Angst und Kälte zitternd realisierte Cassie, dass das Geräusch der klappernden Steine tatsächlich von den Regentropfen stammte, die im Wind wehten und gegen das Fensterglas trommelten. Und sie hörte ein weiteres Geräusch. Das Schreien eines Kindes.

„Du wirst die Kinder hören, wenn sie weinen oder rufen – bitte kümmere dich dann um sie.“

Cassie war verwirrt und orientierungslos. Sie wünschte, ein Nachttischlicht anschalten und sich ein paar Minuten nehmen zu können, um sich zu beruhigen. Der Traum war so real gewesen, dass sie noch immer das Gefühl hatte, darin gefangen zu sein. Doch das Schreien musste bereits begonnen haben, als sie noch schlief – vielleicht hatte es ihren Albtraum sogar ausgelöst. Sie wurde dringlich gebraucht und musste sich beeilen.

Sie schob die Decke von sich und entdeckte, dass das Fenster nicht vollständig verschlossen gewesen war. Regen war durch die Öffnung gedrungen und der untere Bereich der Bettdecke war tropfnass. Sie stieg aus dem Bett und in die Dunkelheit und begab sich in die Richtung, wo sie ihr Handy vermutete.

Eine Wasserpfütze auf dem Boden hatte die Fliesen in Eis verwandelt. Sie rutschte aus, verlor den Halt und landete mit einem schmerzhaften Knall auf ihrem Rücken. Ihren Kopf stieß sie sich an dem Bettgestell an und dann sah sie nur noch Sterne.

„Verdammt“, flüsterte sie, setzte sich auf die Knie und wartete darauf, dass sich Kopfschmerz und Schwindel legten.

Sie krabbelte über den Boden und tastete nach ihrem Handy, mit der Hoffnung, dass es dem Wasser nicht zu nahe gekommenwar. Zu ihrer Erleichterung war diese Seite des Zimmers trocken geblieben. Sie schaltete die Taschenlampe an und stellte sich unter Schmerzen auf die Füße. Ihr Kopf hämmerte und ihr Shirt war klatschnass. Sie zog es aus und ersetzte es mit den ersten Kleidungsstücken, die sie finden konnte – Jogginghosen und ein graues Oberteil. Barfuß eilte sie aus dem Zimmer.

 

Mit dem Handylicht suchte sie an den Wänden nach einem Lichtschalter, aber konnte keinen finden. Vorsichtig folgte sie dem Taschenlampenstrahl in Richtung des Schreiens und gelangte schließlich zu dem Zimmer, das der Suite der Dubois am nächsten lag. Ellas Zimmer.

Cassie klopfte schnell und ging hinein.

Endlich, Licht. Im Glühen der Deckenbeleuchtung konnte sie das Einzelbett sehen, das in der Nähe des Fensters stand. Ella hatte ihre Decken von sich getreten und schrie im Schlaf, wo sie die Dämonen ihres Traums bekämpfte.

„Ella, wach auf!“

Cassie schloss die Tür und setzte sich auf die Bettkante. Sie nahm das Mädchen an den Schultern und fühlte, dass sie zitterte. Ihr dunkles Haar war matt und ihr Pyjamaoberteil verdreht. Sie hatte ihre blaue Decke ans Bettende getreten und fror vermutlich furchtbar.

„Wach auf, alles ist gut. Es ist nur ein Traum.“

„Sie kommen, um mich zu holen!“, schluchzte Ella und versuchte, sich aus ihrem Griff zu lösen. „Sie kommen, sie warten an der Tür!“

Cassie hielt sie fest und schob sie in eine sitzende Position. Dann zog sie ein Kissen hinter ihren Rücken und glättete ihr Oberteil. Ella zitterte vor Angst und Cassie fragte sich, ob ihr Albtraum ein wiederkehrender war. Was ging in Ellas Leben vor, das einen so realen Terror in ihren Träumen auslösen konnte? Das kleine Mädchen war total traumatisiert und Cassie hatte keine Ahnung, wie sie sie am besten beruhigen konnte. Sie erinnerte sich nur ungenau an Jacqui, ihre Schwester, die mit einem Besen imaginäre Monster aus einem Schrank gewischt hatte. Aber die Angst hatte ihre Wurzeln in der Realität gehabt. Die Albträume hatten begonnen, nachdem Cassie sich während der betrunkenen Wut ihres Vaters in einem solchen Schrank versteckt hatte.

Sie fragte sich, ob auch Ellas Angst in einem realen Ereignis begründet war. Sie musste versuchen, das herauszufinden, aber fürs erste war es wichtig, sie davon zu überzeugen, dass die Dämonen verschwunden waren.

„Niemand ist hinter dir her. Alles ist gut. Sieh selbst. Ich bin hier und das Licht ist an.“

Ella öffnete die Augen. Tränenerfüllt starrte sie Cassie für einen Moment an, dann drehte sie ihren Kopf und fokussierte ihren Blick auf etwas hinter ihr.

Von ihrem eigenen Albtraum verängstigt und Ellas Beharren, „sie“ sehen zu können, beunruhigt, sah sich Cassie schnell um. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, als die Tür polternd aufging.

Margot stand mit den Händen in den Hüften im Türrahmen. Sie trug ein türkisfarbenes Seidengewand und ihr blondes Haar war locker geflochten. Ihre perfekten Gesichtszüge wurden nur von Mascara-Überresten getrübt.

Sie tobte vor Wut und Cassie spürte, wie ihre Eingeweide sich zusammenzogen.

„Warum hat das so lange gedauert?“, keifte Margot. „Ellas Schreien hat uns aufgeweckt, das ging stundenlang so! Wir waren lange aus – wir bezahlen dich nicht dafür, unseren Schlaf zu stören!“

Cassie starrte sie an, von der Tatsache verwirrt, dass Ellas Wohlergehen vermutlich nicht von Wichtigkeit war.

„Es tut mir leid“, sagte sie. Ella klammerte sich an sie und es war ihr unmöglich, aufzustehen und ihrer Arbeitgeberin gegenüberzutreten. „Ich kam sofort, als ich sie gehört habe. Aber das Licht in meinem Zimmer ist durchgebrannt, es war stockdunkel, also habe ich eine Weile gebraucht, um …“

„Ja, zu lange – und das ist deine erste Warnung! Pierre arbeitet lange und wird wütend, wenn die Kinder ihn wecken.“

„Aber …“ Mit einer Welle der Entschlossenheit begann Cassie zu sprechen. „Hätten Sie nicht nach Ella sehen können, als Sie sie schreien hörten? Es ist meine erste Nacht und ich kenne mich im Dunkeln nicht aus. Ich werde mich bessern, das verspreche ich, aber es ist Ihr Kind, das einen Albtraum hatte.“

Margot machte einen Schritt auf Cassie zu, ihr Gesicht war angespannt. Kurz dachte Cassie, sie würde ihr eine bissige Entschuldigung entgegenschleudern, sodass sie gemeinsam eine angestrengte Waffenruhe finden konnten.

Aber das geschah nicht.

Stattdessen zog Margot blitzschnell ihre Hand heraus und schlug Cassie hart ins Gesicht.

Cassie biss einen Aufschrei zurück und blinzelte ihre Tränen weg, während Ellas Schreien eskalierte. Ihre Wange brannte, ihre Kopfbeule pochte und ihr Verstand drehte sich, als sie realisierte, dass ihr Arbeitgeber gewalttätig war.

„Vor dir hat ein Küchenmädchen deine Aufgaben erledigt. Wir haben viele Bedienstete, das wird auch in Zukunft kein Problem sein. Das ist deine zweite Warnung. Ich toleriere weder Faulheit noch Widerworte von Angestellten. Eine dritte Warnung wird eine sofortige Kündigung mit sich ziehen. Und jetzt bring das Kind zum Schweigen, damit wir endlich etwas Schlaf bekommen.“

Sie marschierte aus dem Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.

Verzweifelt nahm Cassie Ella in die Arme und war unglaublich erleichtert, als ihre lauten Schluchzer leiser wurden.

„Es ist okay“, flüsterte sie. „Alles ist gut, mach dir keine Sorgen. Nächstes Mal werde ich den Weg schneller finden und eher bei dir sein. Möchtest du, dass ich heute Nacht bei dir schlafe? Wir können das Nachttischlicht anlassen, um besonders sicher zu sein?“

„Ja, bitte bleib hier. Du kannst mir dabei helfen, sie aufzuhalten“, flüsterte Ella. „Und lass das Licht an. Ich glaube nicht, dass sie es mögen.“

Das Zimmer war in neutralen Blautönen eingerichtet, doch die Nachttischlampe mit ihrem pinken Schirm war hell und beruhigend.

Selbst als sie Ella tröstete, fühlte Cassie den Drang, sich zu übergeben und realisierte, dass ihre Hände furchtbar zitterten. Sie schob sich unter die Decken und war froh über ihre Wärme, weil ihr eiskalt war.

Wie konnte sie für jemanden arbeiten, der sie vor den Kindern verbal und körperlich angegriffen hatte? Es war undenkbar, unverzeihlich und brachte zu viele eigene Erinnerungen zurück, die sie verdrängt hatte. Am Morgen würde sie sofort packen und verschwinden.

Aber … sie hatte noch keine Bezahlung erhalten. Sie würde bis zum Monatsende warten müssen, um überhaupt Geld zu haben. Sie konnte nicht einmal die Fahrt zum Flughafen, geschweige denn die Kosten einer Ticketänderung, bezahlen.

Außerdem waren da die Kinder.

Wie konnte sie sie in den Händen dieser gewalttätigen, unvorhersehbaren Frau lassen? Sie brauchten jemand, der sich um sie kümmerte – vor allem die kleine Ella. Sie konnte nicht hier sitzen, sie trösten, ihr versprechen, dass alles gut werden würde und dann am nächsten Morgen einfach verschwinden.

Mit einem Gefühl der Übelkeit stellte Cassie fest, dass sie keine Wahl hatte. Sie konnte nicht gehen. Sie war finanziell und moralisch dazu verpflichtet, zu bleiben.

Sie würde versuchen müssen, den Balanceakt, den Margots Temperament darstellte, zu bewältigen, um eine dritte und letzte Abmahnung zu vermeiden.

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