DER HÖLLENEXPRESS

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»Wo hast du dich rumgetrieben? Zeig diesem Herrn ein Zimmer.« Er wandte sich wieder Nicholas zu. »Wenn die Soldaten nach Ihnen fragen, werde ich ihnen sagen, wo Sie sind.«

Nachdem sie die Platte des Tresens mit ihrem kräftigen, sonnengebräunten Arm angehoben hatte, trat Isabella einen Schritt zurück. »Folgen Sie mir, bitte.«

Das Zimmer war spärlich möbliert, aber sauber genug. An den Wänden hingen unscharfe Fotografien stämmiger Männer, die vor Lokschuppen posierten; neben einer Vase mit frischen Gardenien befanden sich ein weißer Porzellankrug und eine Wasserschüssel. Nicholas warf seinen Koffer auf das Bett und prüfte die Matratze, nur um feststellen zu müssen, dass sie mit Stroh gefüllt war und ihm vermutlich die schlimmste Nacht seines Lebens bescheren würde.

»Bitte entschuldigen Sie das Zimmer«, sagte Isabella in perfektem Englisch.

»Sie sprechen meine Sprache ganz wunderbar.«

»Unser Lehrer war aus England.«

»Ausgezeichnet. Ich hoffe, er unterrichtet Sie noch weiter.«

»Nein, er wurde erschossen.«

»Wir sind nicht alle schlecht, wissen Sie. Ich bin Nicholas.«

»Ich bin Isabella. Wir haben nur selten Gäste hier.«

»Nun, Sie sind nicht gerade in der Nähe von irgendetwas Wichtigem, oder? Ich bin verblüfft, dass überhaupt jemand diesen Ort findet. Ich sollte gar nicht hier sein. Es gab ein Problem mit dem Zug, der mich nach Hause bringen sollte. Ich bin aus London.«

»London.« Sie ließ sich den Klang auf der Zunge zergehen und genoss es sichtlich.

»Die aufregendste Stadt der Welt. Ich arbeite dort, wissen Sie. Ich habe eine Wohnung in der Park Lane, aber meine Familie kommt aus Herefordshire. Kennen Sie Herefordshire?«

Isabella senkte schüchtern ihre herrlichen Augen. »Ich habe Chelmsk noch nie verlassen.«

»Was, Sie waren noch nie irgendwo anders?«

»Nein.«

Nicholas trat einen Schritt auf sie zu. »Isabella, wissen Sie, wohin es ein hübsches Mädchen bringen kann?«

»Nein, wohin?«

»Überall hin, wohin es möchte.«

Ihre blauen Augen vergrößerten sich. Er beobachtete amüsiert, wie sie aus Verlegenheit rot wurde und aus dem Zimmer flüchtete.

»Und du bist so verdammt hübsch«, vertraute er dem Rücken ihrer sich entfernenden Gestalt an.

Die Verabredung

Noch lange, nachdem Isabella das Zimmer verlassen hatte, konnte Nicholas ihren Duft riechen, der ihn an wild wuchernde Sommerfelder und den weiten blauen Himmel erinnerte. Natürlich war da die Andersartigkeit des Mädchens vom Lande – die Frauen in London waren schlau und setzten ihre Reize geschickt ein, aber sie waren auch zu sehr geschminkt und schon verbraucht. Und in der letzten Zeit hatte er den Eindruck gehabt, dass der Nachwuchs schon gepflückt wurde, bevor seine Knospen aufblühen konnten, weggeschnappt von alten Lüstlingen, als ob sie sich Ansteckblumen für Premierenabende beschafften.

Er stieg die schmale Treppe hinab und stand im Dunkeln, um sie zu beobachten, während sie den Gästen der Schenke die Getränke an die Tische brachte. Die Männer grapschten nach ihrem Hintern und ihren Brüsten, wenn sie vorbeiging. Nicholas wusste, wie wichtig es war, dass er sich nicht in die Karten schauen ließ, aber als sie zum Schanktisch zurückkehrte, griff er unwillkürlich nach ihrem Arm.

»Warum erlauben Sie den Männern das?«

Sie sah überrascht aus, als ob sie noch nie darüber nachgedacht hätte. »Ich habe keine Wahl. Eine Frau bedeutet hier nichts.«

»Können Sie nicht von hier verschwinden?«

»Das ist unmöglich.« Sie blickte verzweifelt zurück zu den schwankenden und grölenden Einheimischen.

»Isabella, der Krieg wird diese Stadt vernichten.«

»Ich weiß nichts vom Krieg.«

»Sie werden ihn bald genug kennenlernen. Wann haben Sie Feierabend?«

»Ich habe niemals Feierabend. Vater schließt nie, bevor nicht der letzte Mann nach Hause zu seiner Frau gegangen ist. Und die meisten von ihnen würden niemals heimgehen, wenn es diese Möglichkeit gäbe.«

Nicholas blickte die Einheimischen an, die an ihren Tischen herumlümmelten, und stellte sich ihre Gespräche vor, die vermutlich selten über Diskussionen von Kompost und den Vergleich von landwirtschaftlichen Gerätschaften hinausgingen. »Dann treffen Sie sich mit mir«, schlug er vor.

Isabella warf einen weiteren Blick auf die hartgesottenen Trinker in der Gaststube. Einer stampfte gerade den getrockneten Schlamm von seinen Stiefeln, um damit die Katze zu bewerfen.

»Isabella, Sie haben nichts zu verlieren und alles zu gewinnen. Welches ist das beste Restaurant in der Stadt?«

»Es gibt nur eines. Es heißt Zum Schwein

»Zum Schwein. Gut, dann treffen wir uns dort.«

Sie wandte sich wieder dem Tresen zu, ihre Gedanken waren in Aufruhr. »Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird, bis ich kommen kann.«

»Das ist egal. Ich werde warten.«

Auf dem Weg zum Restaurant ging Nicholas durch die verlassenen Straßen. Die Sonne war unvermittelt untergegangen, ohne den Himmel einzufärben, und von den Blechlaternen, die über der Straße hingen, fielen Kegel kalten Lichts herab. Unterwegs begegnete er einer unglaublich runzeligen alten Frau, die ein widerspenstiges, quiekendes Schwein trug. Ein betrunkener Bauer wurde aus einem Hauseingang geschleudert und fiel vor ihm in die Gosse, wo er sich heftig und ausgiebig übergab. Nicholas’ Unmut wuchs. Isabella verdient ein besseres Leben als das hier, dachte er wütend. Sie gehört an meine Seite in London. Wie gut wir zusammen aussehen würden, wenn wir das Café Royal betreten.

Er stand vor den Fenstern des Restaurants. Es war leer, mit Ausnahme eines dösenden Kellners, der braune Suppenflecken auf seiner Weste hatte und über der Theke zusammengesackt war.

Auf jedem der unbedeckten Holztische befand sich ein Arrangement aus getrocknetem Weizen, das um einen einzelnen, von Fliegeneiern und Maden befallenen Schweinefuß angeordnet war. Der Gedanke, hier zu speisen, ekelte ihn an. Er atmete tief durch und trat ein.

Es dauerte eine Minute, bis der Kellner sich aufraffen konnte. Vom unerwarteten Erscheinen eines Gastes überrascht, wischte er den Tisch ab und legte eine schmutzige, in Leder gebundene Speisekarte vor Nicholas. Es gab keine anderen Gäste im Restaurant. Nicholas studierte die Speisen mit Widerwillen und deutete auf ein unaussprechliches Gericht.

»Was ist das?«

»Das ist Schwein«, antwortete der Kellner.

»Und das hier?«

»Das ist auch Schwein.«

Seufzend starrte Nicholas aus dem Fenster und sah nach seiner Uhr.

***

»Was wollte er?«, fragte der Wirt.

»Ich hab’s dir gesagt, Vater. Er ist ein englischer Herr.«

»So etwas gibt es nicht. Ich kenne diese Herren. Sie bringen nur Probleme.«

»Er war nur höflich.«

»Höflich!« Isabellas Vater warf ihr einen angewiderten Blick zu. Er berührte sanft den Arm seiner Tochter, aber sie wich zurück. »Ich will nur das Beste für dich. Sei glücklich mit dem, was du hast. Bitte, kümmere dich um deinen zukünftigen Ehemann.«

Isabella blickte zu Josef hinüber, der mit seinen Kumpanen am Kamin saß, und zögerte. Sie liebte ihren Vater und bemühte sich, ihm zu gehorchen, aber manchmal kam ihr das Leben erdrückend und vorhersehbar vor.

Josef war ein gut aussehender Mann aus einer anständigen Arbeiterfamilie. Er war nicht gebildet, neigte aber von seiner Natur her zur Gutmütigkeit. Es war vor längerer Zeit beschlossen worden, dass sie in der Peterskirche heiraten würden. Zweifellos würde sie das Erste seiner Kinder im nächsten Frühjahr zur Welt bringen. Es würden vier werden, meinte der Pfarrer: drei starke Jungs und ein Mädchen, um den Haushalt zu führen. Dieses Schema, vorhersehbar wie die vier Jahreszeiten, war eine Quelle der Freude im Leben der anderen Stadtbewohnerinnen, aber auch die Wurzel von Isabellas eigener Unzufriedenheit.

Nachdem sie ein Tablett mit Bier für Josef und seine ungehobelten Freunde – Ivan und Karek – gefüllt hatte, stellte sie die Krüge vor den Mann, den sie heiraten sollte. Sie konnte sehen, dass Ivan wieder versuchte, ihn betrunken zu machen. Eifersüchtig auf Josefs Erfolg bei ihr, versuchte er andauernd, seinen Freund in ein schlechtes Licht zu rücken.

»Die Koalitionsarmee wird den Bahnhof zerstören«, sagte Josef mürrisch.

»Unsere Kameraden kämpfen an ihrer Seite«, erinnerte Ivan ihn. »Wir bleiben als ihre Verbündeten oder rennen als ihre Feinde davon.«

»Ich kann Isabella nicht hier zurücklassen, Ivan. Schau sie dir an. Sie würden sie nicht am Leben lassen.«

»Oh ja, du hast dir einen kleinen Hitzkopf angelacht«, sagte Ivan laut genug, damit sie es auch hören konnte.

»Ich liebe sie«, gab Josef zu und nahm einen tiefen Schluck.

»Alle Männer der Stadt wollen sie. Und hatten sie vermutlich schon.« Ivan blickte verschlagen in Isabellas Augen.

»Alle außer dir, Ivan«, lachte Karek, der immer Probleme hatte, den Gesprächen zu folgen. Ivan holte aus und traf Karek am Ohr.

»Warum hast du das getan?« Karek hielt sein Ohr wie ein gescholtenes Kind.

»Isabella hebt sich für mich auf«, versicherte Josef seinen Kumpanen.

»Diese alte Leier?«, spottete Ivan. »Glaubst du wirklich daran? Hast du gesehen, wie sie den feinen Herrn aus der Stadt angeguckt hat?« Er schlug seinem Freund auf die Schulter. Isabella stand ein paar Schritte entfernt und lauschte.

»Heirate sie schnell und mach ihr ein Dutzend Babys«, riet Ivan. »Dann wird niemand einen zweiten Blick auf sie werfen. Vor allem nicht, wenn ihr die Brüste bis zum Bauchnabel herunterhängen.« Er schlürfte sein Bier und brüllte vor Lachen.

 

»Sie wird eine gute Mutter sein«, verkündete Josef.

»Vielleicht«, sagte Ivan. »Aber die Armee wird bald hier eintreffen. Und bei einem Mädchen wie ihr werden die Soldaten zu Tieren.«

»Ich werde sie schützen.«

»Das wird nicht ausreichen. Du musst sie entjungfern«, antwortete Ivan. »Sag ihnen, dass sie eine Krankheit hat. Verunstalte ihr Gesicht. Sorge dafür, dass die Männer sie meiden. Du musst etwas tun, damit man sie nicht zweimal ansieht. Hier, nimm das. Und tue es bald.« Er zog ein gefährlich aussehendes Rasiermesser aus seinem Ledergürtel.

Isabellas Zweifel wurden in diesem Moment übermächtig. Sie überließ die nassen Biergläser ihrem Schicksal und eilte hinter den Schanktisch, wo sie ihre Schürze ablegte.

»Warte, Isabella«, rief Josef, der wusste, dass Ivan diesmal zu weit gegangen war.

»Das Fass muss gewechselt werden«, sagte ihr Vater.

Sie blickte ihm trotzig in die Augen. »Ich werde nur ein paar Minuten weg sein.« Sie ging zur Hintertür, musste aber feststellen, dass sie abgesperrt war. Die Schlüssel befanden sich in der Lederschürze ihres Vaters. Sie ging zur Theke zurück, schlich sich hinter ihren Vater und zog vorsichtig den Schlüsselbund aus seiner Tasche. Dann rannte sie zur Tür.

Isabella trug keine Jacke, wollte aber auch nicht riskieren, sich eine aus ihrem Zimmer zu holen. Sie flitzte in den Hof, wo sie abrupt stehenblieb, weil sie fürchtete, dass man ihr folgte. Sie drehte sich um und blickte durch das Fenster ins Innere der Schenke, wo Ivan und Karek gerade mit Josef anstießen. Sie hatten sie bereits vergessen.

Sie rannte zum Restaurant.

Dort fand sie Nicholas vor einem Teller mit einem gebratenen, in Scheiben geschnittenen Schweinskopf sitzend und ließ sich neben ihm nieder. Der Kellner erkannte, dass er Zeuge einer heimlichen Verabredung war, goss Isabella ein Glas Rotwein ein und entfernte sich dann diskret, um das weitere Geschehen aus seinen Augenwinkeln zu beobachten.

»Du bist gekommen.« Nicholas konnte sich gerade noch davon abhalten, sie zu küssen.

»Ich muss verschwinden.« Isabella sah verängstigt aus. »Sie haben davon gesprochen, mir das Gesicht zu zerschneiden. Damit die Soldaten nicht …«

»Hör mir zu, Isabella. Ein Teil deines Landes hat sich mit dem Feind verbündet. Sehr bald wird es unmöglich sein zu entscheiden, wem man trauen kann. Du wirst hier nicht sicher sein, wenn die Soldaten eintreffen.«

»Sie wollen, dass ich Josefs Kinder bekomme, weil er einen Direktionsposten bei der Eisengießerei erben wird. Sie ist das Herzblut der Stadt.« Sie warf einen langen, sehnsüchtigen Blick auf das Poster an der Wand, das für Zugreisen Reklame machte. »Ich habe London in Büchern gesehen«, vertraute sie ihm an. »Und ich war in meinen Träumen dort.«

»Du kannst morgen schon wirklich dort sein. Ich zahle dein Zugticket.« Sie zögerte, aber er rückte näher an sie heran. »Warum nicht? Was hast du denn zu verlieren?«

»Ich bin so verwirrt.« Sie berührte das Kreuz an ihrem Hals und fühlte sich, als ob sie sich rechtfertigen und sich für ihre eigene Unschuld schämen müsste. »Ich soll doch einen Mann aus unserer Stadt heiraten, wie alle Mädchen hier.«

»Bist du sicher, dass es das ist, was du dir vom Leben wünschst?«

Sie beobachteten durch das Fenster, wie draußen ein betrunkener Einheimischer vorbeiwankte und seiner dicken Frau an den fetten Hintern griff.

»Josef ist ein guter Mann.«

»Aber dein Vater hat ihn gewählt, nicht du.«

»Nein, darum geht es nicht …«

»Dann komm mit nach London.«

»Sie würden mir das nie erlauben.«

»Die Gelegenheit ist kein Dauergast, Isabella. Eine Möglichkeit wie diese kommt vielleicht nie wieder. Du wirst niemals wissen, was geworden wäre.«

Isabella blickte wieder auf das gerahmte Bild des Zuges an der Wand. Sie konnte ihr Spiegelbild über den Zug gelegt sehen. Ihr ganzes Leben lang war sie von Bildern des Reisens umgeben gewesen. Nicholas nutzte ihre Unsicherheit.

»Mit jeder Minute kommt die Gefahr näher. Schau dich an – was werden die Soldaten sehen? Ein Vergnügen, das man sich nimmt und dann wegwirft. Das Leben verläuft nicht auf einem Schienenstrang so wie deine Züge. Jetzt ist vielleicht der einzige Moment in deinem Leben gekommen, an dem du eine Wahl treffen kannst. Du bist frei und kannst gehen, wohin auch immer du willst, wenn du …«

»Was?«

»… an die Kraft der Liebe glaubst.«

Die Gunst des Augenblicks nutzend, zog Nicholas ihr Gesicht an sich heran und küsste sie; ein langes, nachhaltiges Treffen der Münder. Sie hatte die Mädchen und ihre Bauernburschen beim Stadtfest beobachtet, aber das hier war eine andere Art von Kuss, anders als die keusche, pflichtbewusste Art wie Josef küsste; es fühlte sich gewagt und feurig an.

Aber sie war diejenige, die den Kuss beendete. Der Pfarrer sagte, dass sich alle Mädchen zwischen der Verdammnis und dem Paradies entscheiden mussten. Mädchen, die einem Mann versprochen waren und mit einem anderen herummachten, würden in der Hölle landen. Aber sie war neugierig darauf, den anderen Pfad ihres Lebens zu sehen, zu wissen, was noch sein könnte. Während die anderen Mädchen kaum über ihr Schicksal nachdachten, war Isabellas größte Schwäche schon immer ihre Neugier gewesen.

»Bitte, Isabella, ich will es für dich.«

»Siehst du denn nicht? Das ist Wahnsinn.«

»Nein, der Krieg ist Wahnsinn, und es ist die einzig vernünftige Antwort für dich.« Nicholas glaubte selbst, was er sagte, auch wenn es nicht das erste Mal war, dass er solche Sätze zu einem Provinzmädchen sagte.

»Ich kann nicht einfach alles zurücklassen und mit dir gehen.«

»Es ist nur die Angst, die dich hier hält, Isabella. Die Angst vor dem Unbekannten. Du musst die Gelegenheit beim Schopf packen.« Er küsste sie noch einmal und berührte ihre Zunge mit der seinen. »Flüchte mit mir. Wir packen unsere Sachen und nehmen den Zug um Mitternacht.«

»Aber mein Vater …«

»Jetzt sind sie bestimmt schon alle betrunken. Ich werde dir die Welt zu Füßen legen. Sag ja.« Er küsste sie ein drittes Mal, noch intensiver als zuvor, und sie fühlte, wie sie unter seinen Bann geriet. Eine neue Welt öffnete sich zu ihren Füßen, und sie war willens, den Sprung zu wagen.

»Ja«, hörte sie sich selbst sagen. »Ich kenne einen Weg.«

Die Warnung

Auf dem Bahnsteig hing noch der beißende Kohlenrauch des gerade ausgefahrenen Zuges in der Luft. Ein junges Paar in englischer Reisekleidung, einem Stil, der sich vor allem durch ungleichmäßig breite Streifen auszeichnete, stand neben seinem Gepäck, zu dem auch Schläger für Tennis, Federball und Kricket zählten. Es grenzte an ein Wunder, dass sie keinen Campingtisch mitgebracht hatten. Der Mann hatte eine beginnende Glatze, deutete seine zunehmende Leibesfülle an und trug ein blau-weißes Cricket-Jackett. Selbst in einem Bastrock wäre er nicht noch mehr fehl am Platze erschienen.

»Verpasst!«, rief Thomas aus. »Wie ist das möglich?«

Miranda war vier Jahre älter als ihr Ehemann und legte bereits die zänkische Natur ihrer Mutter an den Tag. Ihr attraktiver Mund war in der letzten Zeit zunehmend verkniffen, vor allem, wenn sie an Geld dachte. Ihre Augen schienen mit jedem Tag argwöhnischer und schmäler zu werden.

»Du hast behauptet, dass sie niemals pünktlich abfahren«, beschuldigte sie ihn.

»Verdammt und zugenäht!« Thomas versetzte seinem Koffer einen Tritt. Der Bahnhofsvorsteher war verschwunden. Ansonsten war keine Menschenseele zu sehen.

»Thomas, erinnere dich daran, wer du bist! Ich habe dir gesagt, dass wir uns früher auf den Weg hätten machen sollen. Nun, jetzt lässt sich nichts mehr ändern. Wir müssen zurückgehen.« Miranda bückte sich, um ihre Reisetaschen aufzunehmen. Sie war sehr gut in der Lage, für sich selbst zu sorgen. In der Tat, mit einem Ehemann wie Thomas war sie dazu leider auch gezwungen.

»Wir können nicht zurückgehen, Miranda. Selbst wenn wir alles andere außer Betracht lassen, habe ich kein Geld für eine weitere Übernachtung eingeplant.«

»Wie ich dir schon sagte, wir hätten England niemals verlassen sollen«, verkündete sie wenig hilfreich.

»Es muss doch jemanden hier geben, der uns sagen kann, wann der nächste Zug fährt.«

Ausgesprochen albern aussehend stolzierte er den Bahnsteig entlang, bis er zum Fahrkartenschalter kam. Als er mit den Fingerknöcheln auf den hölzernen Tresen klopfte, erhob sich urplötzlich der Bahnhofsvorsteher hinter dem Schalter und versetzte ihm einen Schreck.

»He, Sie da. Hören Sie, haben Sie hier das Sagen? Der Zug ist weg.«

»Dann haben Sie ihn verpasst.«

»Ich gehe davon aus, dass es noch einen geben wird, oder?«

»Nein, es gibt keinen mehr. Sie können hier von gar nichts ausgehen. Heute fährt kein Zug mehr.«

»Aber was sollen wir dann machen? Wir können nicht zurückgehen. Falls es Ihnen entgangen sein sollte, das Land bewegt sich auf einen Bürgerkrieg zu.«

»Dann werden Sie sich für eine Seite entscheiden müssen, Engländer.« Der Vorsteher räusperte sich und spuckte auf den Boden. In der letzten Zeit war das Ausspucken vor Ausländern zu einer Art Nationalsport geworden. Er knallte das Fensterchen des Fahrkartenschalters zu.

Miranda hatte es sich auf ihrem Gepäck bequem gemacht. Es war noch immer heiß und sie schwitzte. »Ist man denn nirgendwo in Europa sicher?«, fragte sie, während sie sich den Hals mit einem Taschentuch abtupfte. »Es ist, als ob die ganze Welt verrückt geworden wäre.«

»Es soll doch noch einen Zug geben«, sagte Thomas verwundert. »Ich bin mir sicher, dass ich gehört habe, wie vorhin jemand im Café davon sprach.«

Miranda fächelte sich Luft zu. »Wann?«

»Ich bin mir nicht sicher. Gegen Mitternacht, denke ich. Aber der Bahnhofsvorsteher …«

»Und was ist, wenn die Armee vorher eintrifft?«

Thomas überlegte sich gerade eine Antwort, als irgendein Tier einen unheimlichen Schrei im aufsteigenden Dunst in den Weizenfeldern jenseits des Bahnhofs von sich gab.

»Was um Himmels willen war das?« Miranda versuchte einen Blick zu erhaschen.

»Hat sich angehört wie ein Schwein. Ist wahrscheinlich in eine Falle geraten.« Thomas faltete seine Karte auseinander und folgte der Bahnlinie. »Hier sind wir. Chelmsk – Snerinska – Schlopelo – Blankenberg – Zoribskia, nur diese Haltepunkte, dann nichts. Das ergibt absolut keinen Sinn.« Er drehte die Karte um, um sie seiner Frau zu zeigen. Die Stelle, an der sich die Endstation befand, war abgerieben worden, so als ob sie nicht länger existierte. »Wir sind in dieses Land gekommen. Es muss doch auch einen Weg aus ihm heraus geben.«

Miranda war verzweifelt. »Das ist nicht länger neutrales Gebiet, Thomas. Sie schließen die Grenzen.«

»Wir müssen schneller sein als die Armee.« Thomas schirmte seine Augen gegen die tief stehende Sonne ab, während er nach Anzeichen für Leben suchte. Es gab nichts außer den endlosen grünen und gelben Feldern.

»Und wenn sie hier eintreffen? Vielleicht werden wir erschossen.«

»Dann müssen wir den letzten Zug nehmen.«

»Welchen Zug? Es steht keiner mehr auf dem Fahrplan.«

Ihr Ehemann streckte sein Kinn hervor. »Wir dürfen den Glauben nicht verlieren, Miranda.«

Thomas berührte das Kreuz an seinem Hals, und nicht zum ersten Mal bereute Miranda, dass sie einen Pfarrer vom Land geheiratet hatte. Er sah nach seiner Taschenuhr und blickte sorgenvoll die Schienen entlang.

»Kannst du irgendetwas sehen?«, fragte sie.

Thomas litt unter Sehschwäche, aber er konnte einen fernen Schimmer ausmachen, der sich im dunklen Wald bewegte.

»Ist das der Zug?«

»Nein«, antwortete Thomas bedrückt. »Ich denke, es ist die Armee.«

Die Büsche am Ende des Bahnsteigs raschelten plötzlich und teilten sich. Aus ihnen kam ein schmutziger Junge hervor, der auf die Pflastersteine trat. Seine Kleidung war zerlumpt und er trug keine Schuhe. Seine stechenden blauen Augen zeigten Hinweise auf Wahnsinn.

Thomas wollte sich von einem Kind nicht einschüchtern lassen. Er schritt auf den Bengel zu und sprach ihn an.

»Kleiner Junge, kannst du mich verstehen?«

Der Junge starrte ihn an, dann zog er etwas Lebendiges aus seinen ungekämmten Haaren und nahm es in den Mund. »Wir sprechen alle Englisch. Wir hatten einmal einen Englischlehrer hier. Wir mochten unseren Lehrer sehr.«

 

»Prima. Wann geht der nächste Zug?«

»Kein Zug.« Der Junge kratzte sich am Kopf, auf der Suche nach weiteren Läusen.

»Ich dachte, es soll einer um Mitternacht kommen.«

»Etwas kommt um Mitternacht.«

»Was willst du damit sagen?«

»Etwas, das wie ein Zug aussieht.« Der Junge untersuchte ein neues, sich windendes Insekt, das er zwischen seinen Fingern hielt. Dann verspeiste er es.

»Wo fährt er hin?«

»Darfst ihn nicht ansehen. Wende dich ab, wenn du hörst, dass die Schienen singen. Halte die Ohren zu, wenn du die Pfeife hörst. Um Mitternacht musst du rennen. Dich verstecken.« Der Junge drehte sich weg, um zu gehen.

»Warte …«

Aber es war zu spät. Der Junge war bereits in dem dunkler werdenden Waldgebiet verschwunden.

»Was hat er gesagt?«, wollte Miranda wissen.

Thomas konnte die Sorge in ihrer Stimme hören. »Nichts, das einen Sinn ergibt«, teilte er ihr mit.

»Was sollen wir tun?«

»Was bleibt uns übrig?«, sagte Thomas. »Wir warten.«

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