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b) Der im Primärrecht verankerte Schutz des Status der Kirchen – Art. 17 AEUV
aa) Allgemeine Einordnung

Nach jahrzehntelangem normativem Schweigen der EU zu ihrer Haltung gegenüber den Kirchen enthält das primäre Unionsrecht nunmehr seit Inkrafttreten des Lissaboner Vertrags mit Art. 17 AEUV erstmalig eine kirchenspezifische Norm.178 Angesichts der immer zahlreicheren Regelungen des Gemeinschaftsrechts mit mittelbar staatskirchenrechtlichem Bezug war eine derartige Regelung immer notwendiger geworden. Der erste Absatz dieses sogenannten „Kirchenartikels“179 lautet:

„Die Union achtet den Status, den Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften in den Mitgliedstaaten nach deren Rechtsvorschriften genießen, und beeinträchtigt ihn nicht.“

Nachdem das Gemeinschaftsrecht im juristischen Schrifttum insbesondere in den 1990er Jahren zunehmend als Gefahr für die nationalen staatskirchenrechtlichen Grundordnungen angesehen worden war, wurde dieses explizite Bekenntnis der Union zur einzelstaatlichen Stellung der Kirchen zunächst als Beleg für eine Entspannung auf diesem Gebiet angesehen.180 Der insoweit gewährleistete Schutz ist spezifischer und umfassender als die Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten nach Art. 4 Abs. 2 AEUV, zu der nach allgemeiner Auffassung auch die Regelung des Verhältnisses von Staat und Kirche gezählt wird.181 Denn der neue „Kirchenartikel“ enthält neben der Achtung der kirchlichen Rechtsstellung auch das Gebot deren Nichtbeeinträchtigung und erweist sich schon aus diesem Grund als wirkmächtiger.

Zwar begründet Art. 17 Abs. 1 AEUV inhaltlich keine neue Regelung, da dessen Wortlaut der inhaltsgleichen Erklärung Nr. 11 zum Amsterdamer Vertrag182 entnommen wurde. Jene Erklärung hatte jedoch als „soft law“ noch keine unmittelbare rechtliche Verbindlichkeit und ihre genaue Wirkungsweise war nicht unumstritten.183 Diesem Defizit wurde durch die Anhebung ihres materiellen Gehalts auf einen primärrechtlichen Rang abgeholfen. Die Regelung genießt infolgedessen seitdem unzweifelhaft normativen Charakter und geht dem Sekundärrecht vor. „Justiziable“ subjektive Rechte der Kirchen gegenüber der Union gewährt sie allerdings nicht.184 Objektiv-rechtlich bindet Art. 17 Abs. 1 AEUV aber sämtliche Organe, Institutionen und Einrichtungen der Union und kann insbesondere etwa im Rahmen einer Nichtigkeitsklage nach Art. 263 Abs. 2 AEUV oder innerhalb eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV Wirksamkeit entfalten.185

bb) Rechtlicher Gehalt des „Kirchenartikels“

Die Relevanz des „Kirchenartikels“ begründet sich in der Vielgestaltigkeit der einzelnen staatskirchenrechtlichen Regelungssysteme innerhalb der Unionsmitgliedstaaten. In Anbetracht dessen verkörpert Art. 17 Abs. 1 AEUV die grundlegende Intention der Gemeinschaft, diese nationale Heterogenität des Verhältnisses von Staat und den Kirchen nicht zu verletzen.186 Mückl spricht der Regelung insoweit folgerichtig eine „struktursichernde Wirkung“187 zu. Sie beinhaltet dementsprechend zunächst eine deklaratorische Bestätigung des Umstands, dass der EU nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung keine staatskirchenrechtliche Rechtsetzungskompetenz zugewiesen ist.188

Doch der Gehalt von Art. 17 Abs. 1 AEUV erschöpft sich nicht lediglich in einer derartigen (redundanten) Kompetenzklarstellung; vielmehr entfaltet der „Kirchenartikel“ hinsichtlich der mittelbaren Regelung staatskirchenrechtlicher Aspekte durch Gemeinschaftsrecht – wie etwa im Bereich des Arbeitsrechts – konstitutive Wirkung. Denn er regelt gerade diejenigen Fälle unbeabsichtigter Ingerenz der Union in nationale staatskirchenrechtliche Angelegenheiten durch scheinbar „religionsneutrales“ Recht.189 Insofern vermag Art. 17 Abs. 1 AEUV allerdings nach der ganz herrschenden Auffassung keine vollständige Bereichsausnahme zu begründen.190 Grundsätzlich unterliegen daher selbstverständlich auch die Kirchen der europäischen Rechtsetzung, sofern die einzelnen Regelungen keine Verletzung des „Kirchenartikels“ evozieren. Art. 17 Abs. 1 AEUV kann in diesem Sinne als „Kompetenzausübungsregel“191 bzw. als „negative Kompetenznorm“192 charakterisiert werden, die innerhalb ihres sachlichen Anwendungsbereichs eine Bindung der Kirchen an Gemeinschaftsrecht verhindert. Dies kann durch Sonderregelungen, also Bereichsausnahmen für religiöse Sachverhalte, sichergestellt werden.193 Darüber hinaus ist der „Kirchenartikel“ auch nach der Rechtsetzung von Bedeutung. So ist etwa die Rechtmäßigkeitsprüfung der Umsetzung einer Richtlinie im Lichte von Art. 17 Abs. 1 AEUV zu prüfen, da sich insofern Spielräume für die einzelnen Mitgliedstaaten eröffnen.194

In welchem Umfang und unter welchen Voraussetzungen Art. 17 Abs. 1 AEUV zur Anwendung gelangt und einen effektiven Schutz zugunsten der Kirchen bieten kann, ist durch eine Auslegung der unbestimmten Rechtsbegriffe „Status“, „achten“ und „nicht beeinträchtigen“ zu ermitteln. Diese Termini stellen unionsrechtliche Rahmenbegriffe dar und unterliegen mithin dem Letztentscheidungsrecht der europäischen Gerichtsbarkeit.195 Der EuGH hat sie bislang nicht konkretisiert.

(1) „Status“

Der Schutzbereich des „Kirchenartikels“ wird definiert durch den kirchlichen „Status“. Welche Aspekte der einzelstaatlichen staatskirchenrechtlichen Systeme diesem Begriff zuzuordnen sind, wird in der Literatur nicht immer einheitlich und mit unterschiedlicher Akzentuierung beantwortet. Nach allgemeinem Konsens sind jedenfalls die fundamentalen nationalen Prämissen des Verhältnisses von Staat und Kirche geschützt, auch sofern sie in scheinbar religionsneutralen Rechtsgebieten zur Entfaltung kommen. Der materielle Gehalt des Begriffs unterliegt damit einer nicht unerheblichen nationalen Varianz. So zählt Heinig die typischen traditionellen Prägungen im Sinne der staatskirchenrechtlichen Systementscheidungen und die Kernbereiche der Ausgestaltung der Staat-Kirche-Beziehungen zum Schutz des Art. 17 Abs. 1 AEUV, wovon allerdings „Petitessen“ des nationalen Religionsrechts ausgeschlossen seien.196 Eine ähnliche, institutionell geprägte Perspektive nimmt Schmidt ein, der den Kernbereich des bestehenden staatskirchenrechtlichen Gefüges in den Mitgliedstaaten erfasst sieht.197

Die subjektiv-rechtlich vermittelte Stellung der Kirchen hingegen betont etwa Schnabel, indem er diejenigen nationalen Normen vom „Status“-Begriff umfasst sieht, die den kirchlichen Freiheitsraum begründen.198 Nach dieser Lesart muss auch das für das kirchliche Arbeitsrecht essentielle Selbstbestimmungsrecht der Kirchen ihrem „Status“ nach Art. 17 Abs. 1 AEUV zugerechnet werden. Bliebe diese elementare Rechtsstellung unberücksichtigt, würde der „Kirchenartikel“ gerade aus deutscher Sicht einen ganz bedeutenden Teilbereich des kirchlichen Status ausklammern. Daher entspricht dieses Ergebnis auch der ganz überwiegenden Ansicht in der Literatur.199

Nur eine Mindermeinung klammert dieses sowohl für das kirchliche Wirken als auch für das deutsche staatskirchenrechtliche Grundgefüge entscheidende Fundament aus dem Schutzbereich des „Kirchenartikels“ aus.200 Deren Vertreter verkennen aber, dass insbesondere die rechtliche Existenz eines kirchlichen Selbstbestimmungsrechts einen wesentlichen Bestandteil der nationalen staatskirchenrechtlichen Identität begründet und insofern wesentlicher Ausdruck des historisch gewachsenen Verhältnisses von staatlicher und kirchlicher Sphäre ist. Entsprechend ist die außerordentliche Bedeutung dieses Freiheitsrechts im deutschen staatskirchenrechtlichen Schrifttum seit jeher unbestritten.201 Gerade eine derartige nationale Besonderheit intendiert aber Art. 17 Abs. 1 AEUV zu schützen. Wie unterschiedlich diesbezüglich die staatlichen Grundentscheidungen ausfallen können, wird noch im Rahmen des in dieser Arbeit vorzunehmenden Rechtsvergleichs dargestellt werden. Aus diesem kontrastierenden Vergleich lässt sich sodann auch ableiten, wie identitätsbildend und charakterisierend das kirchliche Selbstbestimmungsrecht und deren davon abgeleitete Rechtsstellung im Arbeitsrecht für das deutsche Staatskirchenrecht ist.202

Daher kann auch nicht der Auffassung gefolgt werden, eine kirchliche Aktivität ökonomischer Prägung – obgleich karitativer Natur – sei vom Schutzbereich des Art. 17 Abs. 1 AEUV grundsätzlich nicht mehr umfasst.203 Vielmehr ist diese Ansicht als Relikt des überkommenen Ansatzes zu verstehen, dass die Kirchen insbesondere auf europäischer Ebene lange Zeit nur „im säkularen Gehäuse ihres Handelns“204 wahrgenommen wurden und dabei unberücksichtigt blieb, dass sie insofern auch glaubensverkündigend tätig werden können. Gerade diese „kirchenblinde“ Perspektive ist es aber, die durch Art. 17 Abs. 1 AEUV korrigiert werden soll. Andernfalls bliebe ein ganz wesentlicher Teil des spezifischen deutschen Schutzes kirchlichen Wirkens sowie ihres Selbstverständnisses und damit ihr spezifischer nationaler Status unberücksichtigt.205 Der „Kirchenartikel“ erfasst nämlich gerade auch diejenigen staatskirchenrechtlichen materiellen Rechtspositionen, die sich in vermeintlich religionsneutralen Bereichen auswirken und kann insofern auch insbesondere das Arbeitsrecht umfassen.206

Für dieses Ergebnis spricht auch ein systematisches Argument: Schließlich werden die Kirchen wegen der fehlenden staatskirchenrechtlichen Kompetenz der EU vor allen Dingen dann von europäischen Normen erfasst, wenn sie ökonomisch handelnd – etwa als Arbeitgeber – in Erscheinung treten.207 Würde der Schutz von Art. 17 AEUV nun gerade diesen bedeutsamen Teil kirchlichen Wirkens per se ausklammern, verbliebe vom „Kirchenartikel“ infolge seines erheblich geschrumpften Anwendungsbereichs nicht viel mehr als eine redundante Kompetenzzuweisungsnorm.

(2) „Achten“ und „Nichtbeeinträchtigen“

Eine Differenzierung hinsichtlich der Rechtsfolgen zwischen dem Gebot der Achtung und dem Verbot der Beeinträchtigung scheint wenig zielführend zu sein.208 Es spricht viel dafür, die Begriffe als einheitlichen Ausdruck der von der Gemeinschaft intendierten Wahrung des kirchlichen Status zu verstehen. Dabei ist lediglich festzustellen, dass der Ausdruck der „Nichtbeeinträchtigung“ weitreichender und deutlicher gegenüber demjenigen der „Achtung“ erscheint, welcher sich leicht interpretatorischen Relativierungen ausgesetzt sehen könnte.209 Entscheidend ist vielmehr, mit welcher Konsequenz Art. 17 Abs. 1 AEUV den nationalstaatlich begründeten Status der Kirchen schützt, soweit dieser im Rahmen allgemeiner europäischer Rechtsetzung tangiert wäre. Im Schrifttum finden sich zur Bestimmung der insoweit aufgeworfenen Frage nach der Schutzintensität zwei Ansätze.

Nach einer Auffassung impliziere Art. 17 Abs. 1 AEUV eine Verhältnismäßigkeitsprüfung, sodass im Rahmen einer Abwägung im Sinne praktischer Konkordanz für den Einzelfall entschieden werden müsse, ob die kirchliche Rechtsstellung oder das Regelungsziel vorzugswürdig ist.210 Ein erheblicher Teil der Vertreter dieser Auffassung messen dem Beeinträchtigungsverbot dabei umso höheres Gewicht zu, je stärker eine staatskirchenrechtliche Rechtsvorschrift spezifischer Ausdruck des nationalen Staat-Kirche-Verhältnisses ist.211 Demnach genösse jedenfalls als besonderes Fundament des deutschen Staatskirchenrechts das kirchliche Selbstbestimmungsrecht und die daraus resultierende Rechtsstellung der Kirchen im Arbeitsrecht einen besonders hoch einzuschätzenden Schutz.

Die davon abweichende Ansicht interpretiert den Schutzgehalt von Art. 17 Abs. 1 AEUV hingegen weitreichender im Sinne eines strikten Schutzverständnisses. Danach dürfe der rechtliche Status der Kirchen nach dem jeweiligen mitgliedstaatlichen Recht im Sinne eines kategorischen Gebots nicht durch unionsrechtliche Ingerenzen geschmälert werden.212 Nur dieses Verständnis vermag zu überzeugen. Denn der Wortlaut des „Kirchenartikels“ bietet keinerlei Anhaltspunkt für ein Abwägungserfordernis und bietet insbesondere hinsichtlich der Statuierung des Beeinträchtigungsverbots keinen Auslegungsspielraum. Zudem müsste bei einer Abwägung das Rechtsgut des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts aus der Perspektive der Union gewichtet werden; dies würde eine staatskirchenrechtliche Kompetenz der Gemeinschaft erfordern, die Art. 17 Abs. 1 AEUV gerade negiert.213 Dieses strikte Verständnis hat auch keine Bereichsausnahme zur Folge, da weiterhin eine Anwendung europäischen Rechts auf die Kirchen selbstverständlich dort zu erfolgen hat, wo ihre nationale Rechtsstellung nicht beeinträchtigt ist. Würden die Kirchen aber mittelbar durch einen Rechtsakt der Union in ihrer spezifisch mitgliedstaatlich gewährten Rechtsposition verletzt, so sind sie aus dessen Anwendungsbereich herauszunehmen.

c) Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG

Die am 27. November 2000 vom Rat der EU erlassene Richtlinie 2000/78/EG214 zur Schaffung eines Diskriminierungsschutzes in Beschäftigung und Beruf kann als exemplarischer Beleg für das erhebliche Einwirkungspotential scheinbar staatskirchenrechtlich neutralen europäischen Sekundärrechts auf die Rechtsstellung der Kirchen angesehen werden. Als Kompetenzgrundlage für ihren Erlass diente Art. 13 EG, der seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon nunmehr in Art. 19 AEUV normiert ist.215

Art. 1 RL 2000/78/EG bestimmt die Zielsetzung der Richtlinie dahingehend, in der gesamten EU einen Rahmen zur Bekämpfung von unmittelbaren und mittelbaren Diskriminierungen wegen einer Behinderung, der Religion oder Weltanschauung, des Alters oder der sexuellen Orientierung zu schaffen. Damit konkretisiert die Richtlinie den primärrechtlichen Grundsatz der Nichtdiskriminierung nach Art. 21 Abs. 1 GRCh.216 Ausnahmen vom Verbot der Diskriminierung lässt Art. 4 Abs. 1 RL 2000/78/EG grundsätzlich nur zu, wenn ein diskriminierungsrelevantes Merkmal aufgrund der Art einer bestimmten beruflichen Tätigkeit oder der Bedingungen ihrer Ausübung eine wesentliche und entscheidende berufliche Anforderung darstellt, sofern es sich um einen rechtmäßigen Zweck und eine angemessene Anforderung handelt.

Durch Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie wird den Mitgliedstaaten darüber hinaus eröffnet, weitergehende Rechtfertigungsmöglichkeiten für kirchliche Arbeitgeber umzusetzen. Dies veranschaulicht, dass der Rat bei ihrem Erlass keinesfalls „kirchenblind“ vorgegangen ist:

„Die Mitgliedstaaten können in Bezug auf berufliche Tätigkeiten innerhalb von Kirchen und anderen öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, Bestimmungen in ihren zum Zeitpunkt der Annahme dieser Richtlinie geltenden Rechtsvorschriften beibehalten oder in künftigen Rechtsvorschriften Bestimmungen vorsehen, die zum Zeitpunkt der Annahme dieser Richtlinie bestehende einzelstaatliche Gepflogenheiten widerspiegeln und wonach eine Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung einer Person keine Diskriminierung darstellt, wenn die Religion oder die Weltanschauung dieser Person nach der Art dieser Tätigkeiten oder der Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation darstellt. Eine solche Ungleichbehandlung muss die verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Grundsätze der Mitgliedstaaten sowie die allgemeinen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts beachten und rechtfertigt keine Diskriminierung aus einem anderen Grund. Sofern die Bestimmungen dieser Richtlinie im übrigen eingehalten werden, können die Kirchen und anderen öffentlichen oder privaten Organisationen, deren Ethos auf religiösen Grundsätzen oder Weltanschauungen beruht, im Einklang mit den einzelstaatlichen verfassungsrechtlichen Bestimmungen und Rechtsvorschriften von den für sie arbeitenden Personen verlangen, dass sie sich loyal und aufrichtig im Sinne des Ethos der Organisation verhalten.“

Durch den vielfältigen Bezug auf die bestehenden mitgliedstaatlichen Bestimmungen verdeutlicht sich der „passive“ Charakter der kirchenspezifischen Ausnahme; weder verpflichtet sie, noch berechtigt sie, neue Privilegien zugunsten der Kirchen einzuführen.217 Vielmehr soll sie mit der Wahrung eines bestimmten status quo dem staatskirchenrechtlichen Bestandsschutz dienen. Diese Berücksichtigung des nationalen kirchlichen Status entspricht den Anforderungen des Art. 17 Abs. 1 AEUV. Dass sich der Rat der Europäischen Union bereits vor dessen Inkrafttreten mit dem Lissaboner Vertrag zur Verabschiedung dieser Regelung entschloss, ist vor allen Dingen auf die politische Wirkung der Erklärung Nr. 11 zum Vertrag von Amsterdam zurückzuführen.218 Dies geht ausdrücklich aus Erwägungsgrund Nr. 24 der Richtlinie hervor: Darin wird festgehalten, dass die Mitgliedstaaten spezifische Bestimmungen über die wesentlichen, rechtmäßigen und gerechtfertigten beruflichen Anforderungen für die Ausübung kirchlicher Arbeitsverhältnisse festlegen können, da die Europäische Union den Status der Kirchen in den einzelnen Mitgliedstaaten achtet und nicht beeinträchtigt. Es spricht daher viel dafür, daraus den Willen der Gemeinschaft abzuleiten, durch die Richtlinie 2000/78/EG nicht in die von den einzelnen nationalen Rechtsordnungen unterschiedlich umfangreich gewährte arbeitsrechtliche Entscheidungsfreiheit zugunsten der Kirchen eingreifen zu wollen.219

Dementsprechend kann die materielle Reichweite des Kirchenprivilegs aus Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie nicht als allgemeingültiger europäischer Standard ausgelegt werden, sondern ist vielmehr in Relation zu den einzelstaatlichen Rechtstraditionen zu ermitteln.220 Somit handelt es sich bei ihr in partieller Abweichung vom Grundprinzip der Rechtsharmonisierung um eine variable Ausnahmeregelung, die in Bezug auf das besonders geschützte Gebiet des Staatskirchenrechts Raum für nationale Spezifika lässt. Dies gilt gegenwärtig ohnehin vor dem Hintergrund der primärrechtlichen Regelung des Art. 17 Abs. 1 AEUV. Das darin verankerte Beeinträchtigungsverbot des nationalstaatlichen Status der Kirchen verpflichtet den EuGH, eine derartige staatskirchenrechtlich relevante Vorschrift unter Berücksichtigung der spezifischen mitgliedstaatlichen verfassungsrechtlich gewährleisteten kirchlichen Privilegien auszulegen und somit den Grundsatz der einheitlichen Auslegung zu durchbrechen.221

In Anbetracht dessen ergibt sich für den nationalen Gesetzgeber auch ein erweiterter Umsetzungsspielraum. Wird die Unionsrechtskonformität von mitgliedstaatlichen Regelungen bezweifelt, die in Umsetzung von Art. 4 Abs. 2 der Richtlinie 2000/78/EG entstanden sind, so ist dieser durch Art. 17 Abs. 1 AEUV eröffnete Spielraum bei deren Rechtmäßigkeitsprüfung zwingend zu beachten.

17Thüsing, Kirchliches Arbeitsrecht, 1; so auch v. Campenhausen/Unruh, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 137 WRV Rn. 78.

18Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, 2019.

19Zitiert nach Richardi, NZA 2015, 1481; ders., Arbeitsrecht in der Kirche, § 4 Rn. 31; vgl. dazu auch Eder, ZTR 2013, 119. Zu can. 231 § 2 CIC, demzufolge bei der Beschäftigung von Laien auch das weltliche Recht zu beachten ist, vgl. Overbeck, in: Essener Gespräche 46 (2012), 7 (11). Aus Perspektive der französischen Rechtslehre siehe auch Bamberg/Schlick, in: Le droit du travail dans les églises, 9 (12 f.).

20Richardi, Diskussionsbeitrag in: Essener Gespräche 46 (2012), 27.

21Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird in dieser Arbeit das generische Maskulinum verwendet und auf die gleichzeitige Nennung der maskulinen und femininen Substantivvarianten verzichtet. Jegliche Personenbezeichnungen umfassen daher beide Geschlechter.

22Umfassend dazu Richardi, Arbeitsrecht in der Kirche, § 1 Rn. 17 ff.; Keßler, Die Kirchen und das Arbeitsrecht, 33; Thiel, Kleines Kompendium zum kirchlichen Arbeitsrecht, 1 f.

23Fuhrmann, ZAT 2015, 145 (148), misst dem kirchlichen Arbeitsrecht in diesem Sinne eine „Zwitterstellung“ bei.

24Ausführlich dazu unter Zweiter Teil A.III. 1. a).

25In Österreich kommt dies durch die Übernahme des Leitbilds der kirchlichen Dienstgemeinschaft innerhalb der Rechtslehre zum Ausdruck, vgl. dazu statt vieler Runggaldier, in: Arbeitsrecht und Kirche, 145 (150 und 156). Auch in England ist das besondere Wesen des kirchlichen Dienstes anerkannt, vgl. Calvert/Hart, Law & Justice 2000, 4 (18); Ahdar/Leigh, Religious Freedom in the Liberal State, 339 und 373 f. In Frankreich wird kirchlichen Einrichtungen ein sogenannter caractère propre zuerkannt, siehe exemplarisch nur die Entscheidung des Conseil d’État: CE, 20.07.1990, Dr. soc. 1990, 865; als Ausdruck dessen werden kirchliche Betriebe als sogenannte „entreprises de tendance“ begriffen, siehe statt aller Riassetto, in: Droit français des religions, Rn. 1820 (1881).

26So etwa im Fall der kirchlichen Mitarbeitervertretungsordnungen, die das deutsche Betriebsverfassungsrecht ersetzen, siehe dazu unter Zweiter Teil A.III. 3. a) bb).

27Ehlers, in: Sachs, Art. 140 GG Rn. 5; Mückl, in: HStR VII, § 159 Rn. 1; aus der österreichischen Rechtslehre Gampl, Leitfaden Staatskirchenrecht, 1.

28Hense, in: Religion und Weltanschauung im säkularen Staat, 9 (42), spricht von einer „Schieflage“ zugunsten der Kirchen; auf eine „Missverständlichkeit“ weist hin Pree, Österreichisches Staatskirchenrecht, 1; ähnlich auch Unruh, Religionsverfassungsrecht, Rn. 5.

29Heinig, Öffentlich-rechtliche Religionsgemeinschaften, 497.

30So z.B. bei Walter, Religionsverfassungsrecht, 200 f.; Unruh, Religionsverfassungsrecht, Rn. 4 ff.; Hense, in: Religion und Weltanschauung im säkularen Staat, 9 (39 ff.); Czermak, Religions- und Weltanschauungsrecht, Rn. 26 f. Vgl. dazu auch den Tagungsband Heinig/Walter (Hg.), Staatskirchenrecht oder Religionsverfassungsrecht?.

31Für einen fortgesetzten Gebrauch des Begriffs Staatskirchenrecht plädieren überzeugend bspw. Waldhoff, in: Essener Gespräche 42 (2008), 55 (81 ff.); Mückl, in: HStR VII, § 159 Rn. 3 f.; v. Campenhausen, Staatskirchenrecht, 39 f.

32Vgl. Neureither, NVwZ 2011, 1492 (1497).

33Waldhoff, in: Essener Gespräche 42 (2008), 55 (80).

34Ausdrücklich für eine Verwendung des Begriffs in diesem Kontext Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts, 54 f. Dagegen plädieren für eine Verwendung des Begriffs „Religionsverfassungsrecht“ in diesem Zusammenhang Hense, in: Religion und Weltanschauung im säkularen Staat, 9 (41); Vachek, Das Religionsrecht der Europäischen Union, 16.

35Nachweise bei Messner, in: Droit français des religions, Rn. 5 (8).

36Nachweise bei Sandberg, Law and Religion, 7 ff.

37Siehe nur die Lehrbücher von Gampl, Österreichisches Staatskirchenrecht, 1971; Pree, Österreichisches Staatskirchenrecht, 1984; Schwendenwein, Österreichisches Staatskirchenrecht, 1992.

38Darauf verweisen auch Hense, in: Religion und Weltanschauung im säkularen Staat, 9 (41); Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts, 55.

39Den Begriff des „Staatskirchenrechts“ erachten als unzureichend oder irreführend etwa Spielbüchler, ÖAKR 39 (1990), 24; Schinkele, öarr 57 (2010), 180 (181); a.A. Pabel, in: FS Korinek, 223 (224). Von einer Hinwendung zum Begriff „Religionsrecht“ zeugen die Lehrbücher von Kalb/Potz/Schinkele, Religionsrecht, 2003; Potz/Schinkele, Religionsrecht im Überblick, 2005.

40Die Titel der Lehrbücher zum Staatskirchenrecht stellen zunehmend die Religionsgemeinschaften in den Vordergrund, vgl. Boyer, Le droit des religions en France, 1993; Volff, Le droit des cultes, 2005; Delsol/Garay/Tawil, Droit des cultes, 2005. Ein Plädoyer für eine Verwendung des Begriffs „droit des religions“ findet sich bei Messner, in: Droit français des religions, Rn. 5 (10 ff.).

41Davon zeugen die zahlreichen Aufsatzsammlungen unter dem Titel „Law and Religion“, wie etwa Ahdar, Law and Religion, 2000; O’Dair/Lewis, Law and Religion, 2001; Doe/Sandberg, Law and Religion: New Horizons, 2010. Für eine Verwendung des Begriffes „religion law“, siehe Sandberg, Law and Religion, 7 ff.

42Robbers, VVDStRL 59 (2000), 231 (245 f.); McClean, in: Staat und Kirche in der Europäischen Union, 603; Heintzen, in: FS Listl, 29 (42); Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts, 78. Eine Darstellung des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche in Schottland, Wales und Nordirland findet sich bei McClean, in: Trennung von Staat und Kirche, 13 (16 ff.).

43Vgl. Robbers, VVdStRL 59 (2000), 231 (242); Basdevant-Gaudemet, in: Staat und Kirche in der Europäischen Union, 171 (175); Heintzen, in: FS Listl, 29 (40 f.); Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts, 62 und 146 f.; Winter, in: FS Hollerbach, 893 (899).

44Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts, 148 m.w.N.

45Rabel, in: Gesammelte Aufsätze III, 5.

46Grossfeld, AcP 184 (1984), 289 (305).

47Ähnlich auch Haase, JA 2005, 232 (234).

48Vgl. dazu die Darstellungen der verschiedenen Staatskirchenrechtsmodelle bei v. Campenhausen/de Wall, Staatskirchenrecht, 338 ff.; Stern, Staatsrecht der Bundesrepublik, Bd. IV/2, 1411 ff.; siehe aber auch Robbers, ZevKR 42 (1997), 122 (125 ff.), der diese Einteilung kritisch hinterfragt und die These der Konvergenz – einer zunehmenden Angleichung der europäischen Staatskirchensysteme – vertritt. Eher kritisch zur Konvergenzthese Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts, 391 m.w.N.

49Die besondere Geeignetheit Österreichs wegen der staatskirchenrechtlichen Parallelen betonen auch Keßler, Die Kirchen und das Arbeitsrecht, 327; Schäfer, Kirchliches Arbeitsrecht im Wandel, 297 f.

50Muckel, DÖV 2005, 191 (197).

51Vgl. dazu Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts, 62 f.

52Diesen Begriff erläutern umfassend Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 4 f.; Ebert, Rechtsvergleichung, 23; Rheinstein, Einführung in die Rechtsvergleichung, 32.

53Vgl. dazu Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 4; Ebert, Rechtsvergleichung, 23; Rheinstein, Einführung in die Rechtsvergleichung, 32 f.

54Vgl. Rheinstein, Einführung in die Rechtsvergleichung, 32; Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 5; Koch/Magnus/Winkler v. Mohrenfels, IPR und Rechtsvergleichung, § 13 Rn. 10.

55Dazu im Einzelnen Zweigert, in: FS Schmitthoff, 403 (405 f.); Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 33 ff.; Ebert, Rechtsvergleichung, 26 ff.; Koch/Magnus/Winkler v. Mohrenfels, IPR und Rechtsvergleichung, § 13 Rn. 11 ff.; von der Prüfung eines konkreten „sozialen Problems“ ist die Rede bei Rheinstein, Einführung in die Rechtsvergleichung, 32 f.

56Ähnlich Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 32 und 42.

57Dieses „vertiefte Verständnis“ versteht als grundsätzliches Ziel des Rechtsvergleichs Schlachter, RdA 1999, 118.

58Vgl. dazu auch Schlachter, RdA 1999, 118.

59Winter, in: FS Hollerbach, 893 (895); Robbers, in: Essener Gespräche 27 (1993), 81 (88); ders., ZevKR 42 (1997), 122; Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts, 69.

60Schlachter, RdA 1999, 118 (124).

61So auch Sacco, Einführung in die Rechtsvergleichung, 13 ff.; Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 14; Starck, JZ 1997, 1021 (1023 f.); Mückl, Europäisierung des Staatskirchenrechts, 67.

62Zweigert, in: FS Schmitthoff, 403 (405); ähnlich auch Zweigert/Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 14.

63Großfeld, AcP 184 (1984), 289 (306).

64Ein solches Rechtsgebiet existiert in einem engeren Sinne ohnehin nicht. Denn das kirchenarbeitsrechtlich relevante europäische Recht wird lediglich durch ein Konglomerat einzelner Normen gebildet, die einer umfassenden Regelungsdichte entbehren; vgl. insofern auch allgemein zum Europäischen Arbeitsrecht Seifert, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 39 Rn. 1.

65Die gestiegene Bedeutung europäischer Rechtsetzung auch auf dem Gebiet des kirchlichen Arbeitsrechts spiegelt sich in einer erhöhten Publikationsdichte zu dieser Thematik wider. So lag bereits den folgenden monographischen Darstellungen der Ansatz einer detaillierten Untersuchung der einzelnen Regelungen des spezifisch Europäischen kirchlichen Arbeitsrechts zugrunde: Schäfer, Das kirchliche Arbeitsrecht in der europäischen Integration, 1997; Müller-Volbehr, Europa und das Arbeitsrecht der Kirchen, 1999; Hanau/Thüsing, Europarecht und kirchliches Arbeitsrecht, 2001. Siehe dazu auch die umfangreiche Erörterung von Thüsing, Kirchliches Arbeitsrecht, 215 ff. Eine vertiefte Analyse der Auswirkungen des europäischen Antidiskriminierungsrechts findet sich bei Kehlen, Europäische Antidiskriminierung und kirchliches Selbstbestimmungsrecht, 2003; Reichegger, Die Auswirkungen der Richtlinie 2000/78/EG auf das kirchliche Arbeitsrecht, 2005; Triebel, Das europäische Religionsrecht am Beispiel der arbeitsrechtlichen Antidiskriminierungsrichtlinie 2000/78/EG, 2005; Fink-Jahmann, Das Antidiskriminierungsrecht und seine Folgen für die kirchliche Dienstgemeinschaft, 2009; Schoenauer, Die Kirchenklausel des § 9 AGG im Kontext des kirchlichen Dienst- und Arbeitsrechts, 2010. Die Folgen der auf die EMRK gestützten Rechtsprechung des EGMR für die von kirchlichen Arbeitgebern gegenüber ihren Arbeitnehmern geforderten Loyalitätsobliegenheiten beleuchtet Lodemann, Kirchliche Loyalitätspflichten und die Europäische Menschenrechtskonvention, 2013.

66So auch C. Schubert, KuR 2016, 165, die dabei aber den Aspekt der staatskirchenrechtlichen Grundentscheidungen nicht besonders hervorhebt.

67Dies sind seit dem am 1. Dezember 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon der Vertrag über die Europäische Union (EUV) und der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV). Sie sind nach Art. 1 Abs. 3 S. 1 EUV „Grundlage der Union“.

68Zur Geltung des allgemeinen Grundsatzes der begrenzten Einzelermächtigung nach Art. 5 Abs. 1 S. 1 EUV auch im Zusammenhang des Arbeitsrechts, siehe Seifert, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 39 Rn. 6.

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