Читать книгу: «Tollkirschen und Brombeereis», страница 3
»Du? Hast? Meinen Schlüssel? Geklaut?« Jedes Wort klingt wie eine Frage. Endlich geht ihm ein Licht auf. »Aus meiner Sporttasche, wie? Und ich dachte, ich hätte ihn verlegt.« Seine Stimme hat einen harten, kalten Klang bekommen. »Raus hier.«
»Aber du liebst mich«, flüstere ich, obwohl er nicht wie jemand klingt, der mich liebt, der mich am liebsten in die Arme nehmen und trösten und küssen möchte, damit ich die Dunkelheit und den Bunker vergesse.
Müsste Daniel nicht Mitleid mit mir haben? Müsste er nicht, wenn schon aus keinem anderen Grund, mit mir zusammenbleiben, damit ich in dieser schweren Zeit Halt habe? Wie kann er mir zu allem anderen auch noch Liebeskummer zumuten?
Daniel sieht an mir vorbei ins Zimmer, als hätte er immer noch den Müll und das Durcheinander vor Augen, das ich beseitigt habe. Vielleicht schnappt er sich gleich den Papierkorb und leert ihn über dem Teppich aus, um den alten Zustand wiederherzustellen, und fegt Zettel und Bücher aus den Regalen, bis es aussieht, als würde es schneien, bis die Blätter durch die Luft wirbeln wie Schneeflocken.
Ich habe mir so gewünscht, dass die Leute mich behandeln, als wäre alles normal, als wäre ich nicht das Mädchen, das verschwunden war. Und Daniel ist der Einzige, der genau das tut. Er sieht nicht das Opfer, das geschont werden muss. Er sieht Messie, die mit Tom auf Partys gegangen ist und ihn geküsst hat, während sie mit Daniel befreundet war. Messie, die in die Umkleide eindringt und seine Tasche durchwühlt, die seinen Hausschlüssel klaut und in sein Haus einbricht und in seinen Privatsachen kramt.
Er sieht mich, wie ich bin, nicht, wie ich sein möchte, und das tut so weh, dass es kaum auszuhalten ist.
Ängstlich warte ich darauf, dass er noch etwas hinzufügt, aber er schweigt, und in meiner Luftröhre wohnt ein stechender Schmerz, der mir das Atmen erschwert. Sanft lege ich den Schlüssel mit den leise klimpernden Anhängern auf das Sofa und gehe aus dem Zimmer. An der Tür tritt Daniel zur Seite, damit ich ihn nicht streife.
Ich muss schlucken, aber irgendwie schaffe ich es, mich nicht nach ihm umzudrehen, während ich die Treppe hinuntersteige.
Aus der Küche ertönt leise Lobpreis-Musik, und gerade als ich die Hand nach der Haustürklinke ausstrecke, kommt Daniels Mutter in den Flur.
»Miriam?«, fragt sie.
Sie klingt nicht im Mindesten überrascht. Ach ja, mein Fahrrad am Zaun. Natürlich hat sie es auch bemerkt. Auffälliger hätte ich es wirklich nicht machen können.
Ich bringe es nicht fertig, über meine Dummheit zu lächeln. Die Haare fallen mir ins Gesicht, ich hoffe, sie verbergen meine Tränen.
»Wie schön, dich zu sehen«, sagt Frau Hartmann freundlich. »Komm doch noch mal kurz mit. Bestimmt hast du Durst, bei der Hitze draußen.«
Jetzt, da sie es sagt, merke ich, dass ich tatsächlich gerne etwas trinken würde. Vielleicht kommt das Brennen in meiner Brust vom Durst.
Sie legt mir die Hand auf die Schulter und führt mich zurück in die Küche, wo sie die Musik leiser dreht. Helle Stimmen wie Vogelgezwitscher singen »Hosanna« und »Praise the Lord«.
Frau Hartmann drückt mich auf einen Stuhl und kramt im Kühlschrank. »Weiß deine Mutter, dass du hier bist?«
»Ich hätte heute Nachmittagsunterricht gehabt. Sie erwartet mich noch nicht zurück.« Ich bin überrascht, dass mein Gehirn noch funktioniert. Dass ich reden kann, ohne in wildes Schluchzen auszubrechen.
»Daniel hat dir bestimmt gesagt, dass er zu seiner Schwester zieht.«
»Was? Er zieht zu Sarah?«
Sie setzt sich mir gegenüber, schiebt mir ein Glas Fanta zu. »Es ist das Beste so. Sie braucht jemanden, der sich um die Wohnung kümmert, um die täglichen Arbeiten, die anfallen. Was die Schule angeht, er wird schon klarkommen.«
Ich sitze da wie erschlagen, kann es immer noch nicht fassen. Daniel zieht weg? Und mir hat er nichts gesagt.
»Bitte, versuch nicht, ihn dort zu erreichen.«
»Aber ...«, fange ich an und verstumme, denn ich weiß nicht, was ich sagen soll.
»Es ist auch für ihn nicht leicht«, sagt sie leise. Sie hält den Kopf, als würde sie horchen, ob er noch oben ist oder im Treppenhaus lauscht. »Er hat so schrecklich gelitten, als du weg warst, Miriam. Die ganze Zeit hat er dich nie aufgegeben. Er hat gesucht und gesucht. Ich weiß nicht, was mit ihm passiert wäre, wenn er dich nicht gefunden hätte.«
Ich wage es, in ihr Gesicht zu sehen. Vielleicht wünscht sie sich auch, jemand anders zu sein. Nicht die Frau, die einen Sohn hat, der halb wahnsinnig geworden ist vor Kummer. In dessen Zimmer das Chaos ausgebrochen ist und der neue Spuren im Gesicht hat, für die ich verantwortlich bin.
»Er liebt mich nicht mehr«, wispere ich.
Frau Hartmann schenkt mir ein Lächeln, das so warm und freundlich und traurig ist, das ich es lieber zurückgeben würde. Auf einmal habe ich Angst, was sie zu mir sagen könnte. Dass sie auch zu denen gehören wird, die keine Rücksicht darauf nehmen, dass ich ein traumatisiertes Entführungsopfer bin.
»Doch«, sagt sie leise, »er liebt dich, und wie. Er liebt dich so sehr, dass ich mir manchmal wünsche, er könnte einfach damit aufhören. Aber natürlich kann er das nicht. Man kann seine Gefühle nicht einfach abstellen. Du nicht, und er auch nicht.«
»Aber dann ... ich verstehe nicht, warum ...«
»Liebe ist nicht genug«, sagt Frau Hartmann. Sie spricht weiter, bevor ich protestieren kann. »Heutzutage wird den jungen Leuten eingeredet, dass die Liebe ausreicht, für alles. Aber das ist nicht wahr. Es braucht ein wenig mehr, um eine tragfähige Beziehung zu gestalten. Gemeinsame Ziele. Eine gemeinsame Basis. Ein Fundament, verstehst du? Damit es nicht nur ein Strohfeuer ist, das bei den ersten Schwierigkeiten erlischt.«
»Es ist kein Strohfeuer«, sage ich leise zu meinem Glas, das ich in den Händen drehe. Die Fanta glüht wie ein kleines Feuer, oder zumindest versuche ich, mir das vorzustellen. Unsere Liebe kann nicht so einfach erlöschen, sie ist dazu fähig, alle Schwierigkeiten zu überwinden. Zu wachsen. Zu halten. Oder?
»Das weißt du wahrscheinlich schon, aber Daniel ist ein Typ, für den es nur alles oder nichts gibt. Ganz oder gar nicht.« Sie lächelt versonnen, wahrscheinlich gefällt ihr das an ihrem Sohn. Ich spüre, dass sie stolz auf ihn ist. »Wenn man sich auf eine Freundschaft einlässt, weiß man vorher natürlich noch nicht, ob es passt. Ob man denjenigen gefunden hat, mit dem man sein Leben verbringen will. Aber wenn man sich besser kennenlernt und merkt, dass es eben doch nicht geht, trotz der gegenseitigen Anziehung, ist es dann nicht vernünftig, so früh wie möglich einen Schlussstrich zu ziehen?«
Ich will mich wehren. Ihr sagen, dass ich mir gerade ziemlich angepredigt vorkomme, vielen Dank auch, und ob das Daniels Meinung ist oder ihre?
Aber ich sage nichts. Ich höre ihr nur zu und male mit dem Fingernagel ein Muster in das beschlagene Glas.
»Auch wenn es wehtut, versuche es zu akzeptieren«, sagt sie behutsam. »Lass ihn einfach gehen, ja? Du bist so jung, du weißt nicht, was Gott noch alles für dich bereithält. Oder wen. Irgendwann findest du den Mann, der wunderbar zu dir passt, da bin ich mir sicher. So ein hübsches Mädchen wie du.«
Die Tränen quellen aus meinen Augen. Hastig fingere ich nach einem Taschentuch, wische mir übers Gesicht.
»Ich muss los«, stoße ich hervor. »Danke für die Fanta.«
Ich stürze los, bin an der Haustür, bevor sie mich zurückholen kann. Schon zum zweiten Mal innerhalb von vierundzwanzig Stunden fliehe ich aus einem Haus.
4.
Daniel wird aus meinem Leben verschwinden. So einfach, so plötzlich.
Er liebt mich, er liebt mich nicht.
Er hat gelitten, ich habe ihm gefehlt, er fehlt mir, aber eine Basis fehlt.
Was ist das? Was hat sie gemeint?
Gedanken wirbeln in meinem Kopf herum, steigen wie Seifenblasen hoch, nur um gleich wieder zu zerplatzen. Wollte mir Frau Hartmann mitteilen, dass ich nicht gläubig genug bin für Daniel?
Ich wünsche mir so sehr, dass ich gut genug für ihn bin. Ja, ich wünsche mir sogar, ich könnte so glauben, dass er damit zufrieden ist. Doch wie soll ich das anstellen?
Man kann nicht einem anderen zuliebe glauben. In die Kirche gehen, das schon, oder schlau daherreden und sein Zimmer mit Bibelversen schmücken, für notleidende Kinder spenden und so tun, als ob man für den Herrn brennt – das alles durchaus, kein Problem. Aber glauben, weil man es sich vorgenommen hat, weil man es sich wünscht? Ich habe den Selbsttest gemacht und das ist das offizielle Ergebnis: Glauben funktioniert nicht auf Bestellung.
Was nun?
Muss man sich den Glauben schenken lassen? Darum bitten und dann die Hände aufhalten und warten? Ich weiß nicht, wie es geht. Wenn ich es wüsste, ich hätte es längst gemacht. Nur will ich nicht lügen. Das habe ich mir vorgenommen, mehr als alles: nicht zu lügen.
Meine Füße drücken die Pedale nach unten. Nach unten. Nach unten.
Und erreichen nie den Boden.
Vielleicht geht es gar nicht um den Glauben. Vielleicht ist Daniel der Meinung, dass wir die Welt aus zu unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten, dass wir zu verschieden sind. Vielleicht steht er mit beiden Beinen auf der Erde, fest in der Wirklichkeit verankert, während mir ständig der Boden unter den Füßen weggerissen wird. Ich schwebe. Die Erde unter mir ist nicht fest und solide, sondern von Erdbeben erschüttert, sie ist ständig in Bewegung, sie reißt auf und bildet Wellen und Falten, und obwohl ich bloß über Asphalt radle, stelle ich mir vor, dass unter mir das Meer ist und die Wüste, Sumpf und das Feinripp des Watts.
Erst als ich endlich vor unserer Garage anhalte, wo die Kirche einen breiten, scharf umrissenen Schatten auf die Auffahrt wirft, fällt mir ein, dass meine Mutter mich noch gar nicht zurückerwartet. Natürlich wird sie erraten, dass ich geschwänzt habe, und fragen, wo ich war. Was soll ich sagen? Dass ich noch mehr Boden unter den Füßen verloren habe, dass ich schwerelos geworden bin? Dass ich mir am liebsten ein Seil um den Knöchel binden würde, damit ich nicht davonfliege, in die Leere um mich herum?
Während ich die Stufen zu unserer Eingangstür hochsteige und die Hitze der Steinstufen durch meine dünnen Schuhsohlen dringt, überlege ich, wie ich mich herausreden soll.
Wie war das noch mit dem Vorsatz, weniger zu lügen? Daniel hasst Lügen, während sie für mich schon selbstverständlich geworden sind.
Auch das ist so etwas zwischen uns, seine unbedingte Ehrlichkeit und meine kreative Umformung der Realität. Was haben meine Eltern eigentlich für eine Basis? Bei ihnen funktioniert es, jedenfalls sieht es für mich danach aus. Was ist es bei ihnen? Was hält sie beieinander? Als Frau eines Pastors wäre es natürlich ungünstig, wenn meine Mutter nicht fromm genug wäre oder plötzlich zum Buddhismus übertreten würde. Aber da muss doch noch mehr sein, oder?
Mir fallen verschiedene Schlagwörter ein, vor meinen inneren Augen formen sie sich zu Flecken auf einem weißen Blatt Papier:
Humor. Haben sie beide.
Unwiderstehliche gegenseitige Anziehungskraft.
Mama kann kochen und achtet sehr auf Gesundheit.
Damit bin ich noch nicht zufrieden. Wie wäre es schlicht und einfach mit Liebe?
Während ich warte, setze ich mich auf die oberste Stufe, obwohl die Hitze mir gnadenlos auf die Pelle rückt, und dichte, denn gerade ist mir eingefallen, dass ich mal lyrisch begabt war.
Was uns verbindet, kann ich nicht benennen.
Da ist zu viel, es sprengt ein einzeln Wort.
Musik und Sommer, Rosenschokolade ...
Dir ist es nicht genug, stumm gehst du fort.
Ich wünschte nur, ich würd’ dich besser kennen.
Schade ...
Oh, da muss ich noch ein wenig dran arbeiten. Zu reimen ist immer schwierig, aber während ich daran tüftle, muss ich wenigstens nicht darüber nachdenken, dass ich Daniel verloren habe. Endgültig.
Nachdem ich eine Viertelstunde lang abwechselnd gedichtet und geklingelt habe, öffnet Silas plötzlich und beendet damit schlagartig mein inzwischen auf zwanzig Zeilen angewachsenes Gedicht.
»WAS?« Offenbar habe ich ihn von irgendeinem Computerspiel weggelotst.
»Wo sind die denn alle?« Ich schiebe mich an ihm vorbei ins Haus.
»Zum Arzt«, antwortet er genervt.
»Ist was passiert?«, frage ich erschrocken.
»Tabita kriegt eine feste Zahnspange. Hast du das etwa vergessen?«
Hab ich. Weder auf mein Gedächtnis noch auf sonst etwas ist bei mir Verlass.
»Dann sind sie nicht beim Arzt, sondern beim Kieferorthopäden«, korrigiere ich ihn automatisch. Besser fühle ich mich dadurch nicht.
In dieser Nacht weine ich in Tabitas Kissen, und sie streichelt eine Weile meine Schulter, bevor sie sich entnervt abwendet. »Jetzt hör endlich auf. Ich muss schlafen, morgen schreiben wir einen Chemietest.«
»Ich kann nicht«, wimmere ich. »Daniel ist weg.«
»Wie, weg?«
»Er wird umziehen. Noch vor den Ferien. Jetzt.«
»Wie, er zieht weg? Er kann nicht einfach umziehen. Er hat noch ein Schuljahr vor sich. So kurz vor dem Abi zieht doch niemand um!«
»Zu seiner Schwester«, erkläre ich schniefend. »Sie kommt wohl immer noch nicht so gut allein zurecht, wegen ihres Beins.«
Daniel und seine Schwester Sarah stehen sich sehr nah. Ich weiß, dass er sich große Sorgen um sie gemacht hat, nicht nur, als sie nach ihrem Unfall im Koma lag, sondern auch später. Sarah kann nicht Auto fahren, und Treppensteigen ist eine Qual für sie.
»Es ist vernünftig«, murmele ich, »wenn er bei ihr wohnt. Dann kann er für sie einkaufen und sie mit dem Auto zum Arzt fahren, sobald er den Führerschein hat, und Sarah muss nicht in der Wohnung hocken und sich von Knäckebrot und Leitungswasser ernähren.«
»Und nun?«, will sie wissen.
Die Adresse könnte ich rauskriegen, auch wenn Frau Hartmann mich gebeten hat, ihren Sohn in Ruhe zu lassen. Ich könnte ihm einen Brief schreiben, auf den er niemals antworten wird. Ich könnte versuchen, die Telefonnummer von Sarah Hartmann herauszufinden. Ich könnte mich in den Zug setzen und hinfahren.
»Nichts, nun«, sage ich. »Es ist aus.«
Es fühlt sich wie ein kleiner Eisbrocken an, der in meinem Magen sitzt. Eine winzige giftige Kugel, die so bitter ist, dass ich brechen möchte.
Seltsamerweise weiß ich, dass ich nicht daran sterben werde, aber selbst wenn, es wäre mir egal.
So fühlt sich Hoffnungslosigkeit an.
»Lass mich mal kurz raus.« Tabita klettert über mich rüber, wobei sie mir unsanft das Knie in die Seite stößt, und kramt in ihrem Bücherregel. »Rück mal an die Wand. Ich brauche die Lampe.«
Verwundert gehorche ich. Was hat sie vor?
»So, wo fangen wir an ... Ah, hier. Hier hat Eliza entdeckt, dass der angebliche Graf Mortimer nicht der ist, der er zu sein scheint. Er hat ein dunkles Geheimnis. Womöglich hat er etwas mit einem Geheimbund zu tun, der in den finsteren Nächten in London sein Unwesen treibt.«
»Äh, was?«, frage ich.
Statt einer Antwort beginnt Tabita mir vorzulesen. Freiwillig hätte ich so einen Liebesroman nie angerührt, doch jetzt kann ich nicht anders, als zuzuhören. Schon bald fesselt mich Elizas tragische Liebesgeschichte – auch wenn ich sie ein bisschen lächerlich finde.
»Und sie ist nie auf die Idee gekommen, dass der Mann mit der Samtmaske der Mörder ist? Wieso steigt sie bloß in diese Kutsche?«
»Sei still«, befiehlt Tabita und liest weiter. »Eliza lehnte den Kopf gegen das Polster und versuchte, ihre Hände unauffällig aus den Fesseln zu ziehen, doch es wollte ihr einfach nicht gelingen. Mortimer, schluchzte sie. Mortimer, komm und rette mich.«
Aber Mortimer ist in Wirklichkeit ein Pirat, und sein Schiff sticht gerade in See. Wird er rechtzeitig ins Wasser springen, um zurück in den Hafen zu schwimmen und Eliza zu befreien?
Irgendwann schlafe ich ein, und als ich als Nächstes die Augen aufschlage, ist es schon hell und ich höre Tabita und Silas im Bad streiten. Leider habe ich nicht mitbekommen, ob der geheimnisvolle Mortimer die schöne Eliza gerettet hat oder ob sie in den Fängen des bösen Diebes ihr Leben lassen musste. In meinen Gedanken sitzt sie immer noch in der Kutsche, die über das raue Pflaster des nächtlichen London rattert. Regenwasser spritzt auf, Schritte erklingen, jemand scheint hinter ihr her zu rennen. Sie fährt durch eine dunkle, gefährliche Welt, und der Mann, den sie liebt, lässt sich nicht blicken.
Manchmal träume ich, dass alle davon wissen. Alle.
Das hätten wir jetzt nicht gedacht, würden sie sagen.
Nicht von dir.
Ich weiß nicht, was schlimmer wäre, die Verachtung oder das Mitleid. Aus solchen Albträumen erwache ich schweißgebadet.
Wenn sie es wüssten, könnte ich mir gleich die Kugel geben.
Wenn ich tot wäre, denke ich dann, würde es mich nicht kümmern. Falls jemand davon erfährt, und ich bin tot, wäre es mir egal.
Dort im strahlenden Licht werde ich nichts denken, mir um nichts Sorgen machen.
Dort im strahlenden Licht werde ich nichts mehr fühlen.
5.
Man müsste es mir an der Nasenspitze ansehen. Ich bin nicht bloß »das Mädchen, das Schlimmes erlebt hat«, wobei die meisten Leute denken, sie wüssten genau, was das ist.
Ab heute bin ich auch das Mädchen, dessen Exfreund weggerannt und sogar in eine andere Stadt gezogen ist.
Aber das weiß niemand. Mandy hat es noch nicht erfahren. Jedenfalls hoffe ich das.
Als sie sich an mich heranpirscht, während ich im Flur auf den Beginn meiner Deutsch-Prüfung warte, liegt etwas in ihren kühlen Augen, das mir Angst macht. Wetten, sie weiß es doch? Und nun wird sie es mir genüsslich unter die Nase reiben. Einfach nur, um mir wehzutun. Mandy weiß nichts von Opferschutz, und während es mir bei allen anderen tierisch auf die Nerven geht, dass sie mich schonen, wünsche ich mir beinahe, Mandy würde sich auch an diese unausgesprochene Abmachung halten, mir gegenüber vorsichtig zu sein.
»Na, wie geht’s?«, fragt sie lässig. »Hast du dich auch gut vorbereitet?«
»Bestens«, antworte ich so kühl wie möglich.
Kaum zu glauben, dass wir mal Freundinnen waren. Mandy genießt es, wenn jemand Angst vor ihr hat. Das ist für sie wie eine Droge.
»Dann ist ja alles gut. Ich hatte zwar gedacht, dass es dich ein wenig mehr kümmert, aber ... na ja, ist auch egal. Er würde sich über einen Besuch freuen, aber seine Probleme gehen dich im Grunde nichts mehr an. Kann ich verstehen.«
»Er würde sich über einen Besuch freuen?«, platze ich heraus, obwohl ich mir fest vorgenommen habe, kein Wort zu sagen, um ihr keine Munition zu liefern. »Daniel? Nein, ganz bestimmt nicht. Ich weiß, dass er mich nicht sehen will.«
Damit habe ich ihr eine neue Waffe in die Hand gegeben. Nun weiß sie, dass Daniel nichts mehr mit mir zu tun haben will und wie sehr ich darunter leide.
»Daniel? Ach, der arme, süße Daniel«, flötet Mandy, und nun lächelt sie doch, dieses wunderbare Mandy-Lächeln, auf das sämtliche Jungs unserer Klasse sabbernd warten. »Du gehst nur seinetwegen nicht zu Tom zurück, stimmt’s? Du lässt ihn einfach sterben, ohne ihn noch ein einziges Mal zu sehen, ohne Abschied zu nehmen, nur weil dein Freund dann eifersüchtig wäre. Wie egoistisch ist das denn, hm?«
Jetzt verstehe ich gar nichts mehr.
»Tom?«
»Tom liegt im Sterben«, sagt Mandy und quetscht ein Tränchen aus ihren schönen Augen. »Wusstest du das etwa nicht? Hat er dir das nicht verraten?«
Tom und Daniel sind Freunde gewesen, jedenfalls eine Weile, bis ich Tom geküsst habe oder er mich. Danach sind sie sich aus dem Weg gegangen. Aber Daniel hätte doch bestimmt mitbekommen, wenn Tom krank gewesen wäre? Und was ist mit Bastian? Der hätte mir das ja auch sagen können. Haben alle davon gewusst und geschwiegen, um mich zu schonen, weil ich das Mädchen bin, das man wie etwas Zerbrechliches behandeln muss?
Mandy macht ein todtrauriges Gesicht, obwohl sie die Situation mit Sicherheit unwahrscheinlich genießt.
»Tja, so ist das nun mal. Ich dachte bloß, du solltest das wissen. Weil wir schließlich Freundinnen waren. – So, ich muss jetzt in den Unterricht.«
Da kommen schon die anderen Schüler, die mit mir zusammen die Nachprüfung schreiben. Frau Doggermann schließt den Raum auf und nickt mir aufmunternd zu.
Ich stütze das Kinn in die Hände und starre auf den Aufgabenzettel.
Tom liegt im Sterben.
Oh Gott, denke ich. Das ist nicht wahr, oder? Daniel ist weg, und nun geht Tom auch? Tom, der Junge mit den schwarzen Haaren und dem unglaublichen Lächeln, den ich jahrelang heimlich beobachtet habe, dem ich Gedichte geschrieben habe, ein Junge zum Pferdestehlen. Mein Tom?
Ich will zu Rosi. Ich will nach Hause. Ich will irgendwohin, wo ich sicher bin vor solchen schrecklichen Nachrichten. Als könnte das die Information in meinem Kopf wieder löschen. Delete. Aus.
Unnötig zu sagen, dass ich heute in meinem Lieblingsfach nicht gerade geglänzt habe. Irgendwie habe ich doch noch was hingekritzelt, hoffentlich reicht es für eine Vier. Es ist mir beinahe egal, denn nun geht es um etwas viel Wichtigeres: Was ist mit Tom? Wie ernst ist es?
Also nehme ich an diesem Nachmittag den Bus und fahre los, in die hübsche Wohnsiedlung, in der Tom zu Hause ist. Erst unterwegs fällt mir ein, dass ich meiner Mutter nicht Bescheid gesagt habe, was ich vorhabe. Bestimmt sitzt sie schon händeringend am Telefon und fürchtet sich vor dem Anruf der Polizei, die ihr mitteilt, dass man mich blutüberströmt in einem Gebüsch gefunden hat. Ich müsste sie anrufen, aber aus irgendeinem Grund bringe ich es nicht über mich. Ihre besorgte Stimme könnte ich jetzt nicht ertragen. Erst muss ich sehen, wie es Tom geht, ob er noch lebt. Während der Bus mit aufreizender Langsamkeit von einer Haltestelle zur nächsten kriecht, jedes Mal röchelnd die Türen öffnet und mit einem asthmatischen Schnaufen wieder anfährt, wächst die Panik in mir, ich könnte zu spät kommen. Mandy hat gesagt, er liege im Sterben. Wie lange kann man wohl im Sterben liegen? Entweder ist man krank oder tot. Gibt es etwas dazwischen? So etwas wie »halb tot«?
Endlich spuckt mich der fauchende, keuchende Bus aus, und ich stehe verloren vor der Siedlung und sammle meinen ganzen Mut in mir. Es fühlt sich ungewohnt an, Angst zu haben, beinahe habe ich vergessen, was das ist. Denn trotz meiner Schlafprobleme und meiner Unfähigkeit, die Dunkelheit auszuhalten, gibt es Gefühle, die mir fremd geworden sind. Früher habe ich innerlich gebebt, wenn ich zum Beispiel in eine fremde Wohnung eingebrochen bin, was, wie ich gestehe, durchaus vorgekommen ist. Jetzt kümmert mich kaum noch etwas. Ich bin eine Maschine, die ihre Termine abspult, und wenn auf meiner Liste steht, dass ich in einer Umkleidekabine oder einem Jungenzimmer etwas überprüfen will, dann tue ich das einfach.
Doch jetzt nimmt es mich schon mit, an einer Tür zu klingeln.
Ich lege mir die Worte auf der Zunge zurecht. Wenn seine Mutter öffnet, werde ich mich erst vorstellen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie meinen Namen kennt, ob Tom je von mir gesprochen hat. An ihrem Gesicht werde ich hoffentlich erkennen, wie schlimm es um Tom steht. Ob sie geweint hat, oder ob sie lächelt, weil es ihm heute besser geht? Dann kann ich sie fragen, ob er im Krankenhaus ist oder wo ich ihn finde. Oder falls sie in Schwarz öffnet, dann weiß ich erst recht Bescheid.
Die Tür geht auf.
»Ich bin Miriam Weynard«, fange ich an, stutze, denn der Junge, der vor mir steht, unterbricht mich.
»Messie?«
»Tom!« Ich kann es kaum glauben, er steht leibhaftig vor mir! Mit einem Aufschrei falle ich ihm um den Hals, und er presst mich an sich. Ich atme in sein T-Shirt, spüre seine Wärme durch den dünnen Stoff, ich klammere mich an ihn. »Du lebst«, flüstere ich.
»Messie«, sagt er noch einmal.
»Ich hatte solche Angst, dass ich nicht mehr rechtzeitig komme.«
»Nicht mehr rechtzeitig?«
Ich löse mich aus der Umarmung, trete einen Schritt zurück, ohne ihn loszulassen, und betrachte ihn. Er ist blass und hat dunkle Ringe unter den Augen, und ich kann seine Rippen fühlen. Wie viel Gewicht hat er verloren? Er kommt mir vor wie ein Gespenst seiner selbst, aber er lächelt.
»Mandy hat es mir gesagt«, erkläre ich. »Von deiner Krankheit.«
»Oh.« Tom klingt bestürzt.
»Du hättest anrufen können. Ich wäre gekommen, sofort. Jederzeit. Das weißt du doch?«
»Tatsächlich?«, fragt er leise, und ich denke daran, wie wir uns verabschiedet haben. Ich habe ihn stehen lassen und bin weggegangen. Nein, er hatte keinen Grund, mich anzurufen.
»Was für eine Krankheit ist es?« Natürlich ist es unhöflich, das einfach so geradeheraus zu fragen. So etwas tut man nicht. Aber wie gesagt, ich bin wie auf Autopilot, und auf meiner Liste steht: Tom besuchen, falls er noch lebt. Natürlich muss ich wissen, wie viel Zeit ihm noch bleibt, was »im Sterben liegen« bedeutet.
»Ist es Krebs?«, taste ich mich behutsam voran. »Wenn du nicht darüber reden willst ... Ist schon okay, wirklich.«
»Wer hat dir gesagt, dass ich Krebs habe?«, fragt Tom.
»Mandy hat es angedeutet.« Ängstlich betrachte ich sein Gesicht, suche nach Anzeichen für die Krankheit. Seine Haare hat er noch, alle Wimpern sind an Ort und Stelle. Nach einer Chemotherapie sieht er nicht aus. Aber was hat er dann?
»Komm erst mal rein.« Tom zieht mich ins Haus. Von seiner Mutter keine Spur.
»Ist sonst niemand da? Muss sich nicht jemand um dich kümmern?«
Tom zögert kurz. »Ich bin lieber allein, wenn ich mich nicht gut fühle.«
»Ich kann auch gehen«, sage ich schnell, aber er legt den Arm um meine Schultern und führt mich hoch in seine Dachwohnung. Tom hat das gesamte Obergeschoss nur für sich. Das Bett ist nicht gemacht, es herrscht ein recht großes Durcheinander, aber ich entdecke nichts von dem, was ich erwartet habe: kein Tropf, keine Stapel von Laken und Tüchern, Flaschen und Tablettenschachteln.
»Bist du wirklich krank?«, entfährt es mir.
Tom braucht wieder eine Weile, um zu antworten. »Du bist hier, weil du gehört hast, dass es mir schlecht geht«, sagt er. »Das ist ... oh Messie, ich bin total gerührt. Obwohl ich ja eigentlich nicht wollte, dass jemand davon erfährt. Ich kann es nicht ertragen, wenn alle mich anstarren. Wenn jeder, der mich sieht, nur einen Gedanken hat: dass ich ... dass meine Zeit bald zu Ende geht.«
Er wendet sich mir zu, bemerkt, dass ich sein Zimmer inspiziere, lächelt traurig. »Ich kann es nicht ertragen, wenn alles nach Krankheit riecht«, flüstert er. »Desinfektionsmittel, Arzneien ... das ist wie der Hauch des Todes. Normalität, verstehst du? Ich will bloß Normalität.«
Oh, das verstehe ich nur zu gut. Vielleicht bin ich sogar die Einzige in der ganzen Stadt, die genau weiß, wovon er redet.
»Ja«, flüstere ich.
Erneut schlingt er die Arme um mich. Beinahe habe ich vergessen, wie gut sich das anfühlt. Tom fühlt sich gut an. »Es ist ... ich spreche nicht gern darüber«, murmelt er in mein Haar. »Es ist nicht operabel, die Ärzte kommen nicht dran. Sie haben mich wieder nach Hause geschickt.«
»Ein Tumor?« In meiner kleinen Seifenblasenwelt tauchen immer größere und schrecklichere Ängste auf. Bis jetzt konnte ich hoffen, dass Mandy sich geirrt hat.
Er küsst mich auf die Schläfe, erwischt halb mein tränennasses Auge, lacht. Dann verändert sich seine Stimme, bemüht sich um die Normalität, die er so schrecklich ersehnt.
»Möchtest du was trinken? Ist ziemlich stickig hier drin. Wir können auch rausgehen.«
Wird dir das nicht zu viel, will ich fragen, schlucke die Worte noch rechtzeitig runter. Genau das möchte er ja nicht. Dass man ihn ununterbrochen bemitleidet und umsorgt und ihn ständig fragt, wie es ihm geht und was er gerade braucht.
»Ist gut«, sage ich gespielt munter, während es mir das Herz zerreißt.
Die vielen Stufen wieder hinunterzusteigen, fällt ihm sichtlich schwer, aber ich sage kein Wort und biete ihm nicht an, ihm zu helfen. Wir treten in den Garten hinaus, scheuchen eine übelgelaunte Katze von der Liege, machen es uns bequem. Den ganzen Nachmittag liegen wir nebeneinander in der Sonne, teilen uns einen iPod – jeder einen Stöpsel im Ohr – und hören Musik.
Später, als die Schatten länger werden und die Luft kühler, bietet er an, mich mit dem Auto nach Hause zu bringen.
Ich erschrecke. Immer, wenn er mich mitnehmen will, ist er betrunken oder ich bin durchnässt oder sonst etwas stimmt nicht. Ich bin es nicht gewöhnt, dass es klappt, wir beide in einem Wagen, und dass dabei nicht irgendetwas passiert.
»Kannst du denn fahren?«
»Du meinst, in meinem Zustand?« Er lächelt und wirkt plötzlich ein, zwei Jahre jünger. Wir haben zu lange in der Sonne gelegen, nun spüre ich, dass meine Haut brennt, und sehe einen rötlichen Schimmer auf seinem Nasenrücken und seiner Stirn. »Keine Sorge. Ich habe bloß manchmal, ähm, Ausfälle.«
»Ausfälle?«
Er räuspert sich, scheint zu überlegen, wie viel er mir anvertrauen will. »Blindheit zum Beispiel. Gleichgewichtsstörungen. Kopfschmerzen.«
Entsetzt starre ich ihn an, doch Tom lächelt bloß, beugt sich vor und küsst mich auf den Mund. Es ist ein ganz kurzer und leichter Kuss, zart wie ein Streicheln. »Keine Sorge«, sagte er. »Das kündigt sich vorher immer an. Die Fahrt bis zu euch kriege ich wohl noch hin.«
»Aber …«
»Keine Widerrede«, sagt Tom und grinst, und ich lächle zurück.
Blindheit, denke ich. Stürze. Schmerzen.
Ich halte seine Hand, so fest es nur geht.
»Er hat dich nach Hause gebracht«, sagt Tabita am Abend, als ich zu ihr ins Bett schlüpfe, in die Geborgenheit ihrer Nähe, ihrer Lampe, ihrer Geschichten. »Tom.«
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