Читать книгу: «Sturmkap», страница 2

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»REISE, REISE!«

Das war der Weckruf an Bord, angelehnt ans englische »rise«, aber eingedeutscht. Wer nicht aufstand, wurde wachgerüttelt. Etwa zehn Minuten blieben, bis die Wache auf Deck begann; diese zehn Minuten nutzte man für eine kurze Wäsche und Zähneputzen. Die Waschräume lagen vorn an der Steuerbordseite, unterhalb des Backdecks, und achtern, unterhalb des Poopdecks, ganz hinten im Heck.

Ich war rechtzeitig zum ersten Wachantritt an Deck, wo der Erste Offizier die Arbeit verteilte. Zu meinem Erstaunen und meiner Enttäuschung schien niemand Notiz von mir zu nehmen. Keiner beachtete mich, den Jüngsten an Bord. Ich wurde einem Leichtmatrosen zugeteilt, mit dem ich die Stützen des Laderaums mit Sackleinwand umwickelte, damit sich keine Feuchtigkeit an den eisernen Trägern bildete und die geladenen Kalisäcke nicht nass wurden. Der Leichtmatrose hieß Willy Buch, ein groß gewachsener, blonder Kerl, 18 Jahre alt, mit einem breiten Kreuz.

»Min Jung, wo kommst du her?«, fragte er.

»Aus Cuxhaven.«

»Ach was! Cuxhaven? Ich auch!«

Willys Vater war Fischdampferkapitän. Wir plauderten über die Stadt mit dem Wahrzeichen Kugelbake und suchten nach gemeinsamen Bekannten, was mir half, meine Unsicherheit zu überspielen. Willy, der seine dritte Reise mitmachte, gab mir Ratschläge und erklärte, wie der Alltag funktionierte: Für jeden Mast war ein Toppmatrose zuständig, der kleinere Reparaturen in der Takelage selbst erledigte. Größere Reparaturen übernahmen die Segelmacher, Deckschlosser (»Meister« genannt, weil sie sogar mit schwerem Gerät in die Takelage kletterten) und ein Zimmermann, den wir im Bordjargon »Blaubüddel« oder »Blau« riefen.

Meine Aufgabe als Schiffsjunge war es zunächst nur, möglichst eifrig hinterherzulaufen. Ich sollte zusehen, lernen, ich sollte mir einprägen, wo die Taue und Seile der Takelage verliefen, wie die Segel aufgegeit wurden, welcher Handgriff bei welchem Kommando zu erledigen war. Das Handwerkszeug eines Segelschiffmannes. Es war anfangs sehr verwirrend.

Am Morgen des 16. Mai 1939 warfen wir die Leinen los. Unter einem blauen Himmel zog uns der Schlepper Simson Richtung Nordsee. Langsam schoben wir die Elbe hinunter und verabschiedeten St. Pauli und Blankenese nach einem alten Brauch mit »Three Cheers«: »Hipp, hipp, hurra!« Dann wurde der Fluss breiter.

Ein letzter Abschiedsgruß ertönte, als wir den Reededampfer, die Alte Liebe, vor Cuxhaven passierten. Einige Freunde meiner Familie waren an Bord der Alte Liebe, um mir zuzuwinken und ein Foto zu schießen. Als ich sie sah, spürte ich ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch, denn nun war endgültig klar, dass es kein Zurück mehr gab. Der Schlepper Simson dampfte davon, und auf der Priwall setzte man die Segel. Bald darauf verschwand die Küstenlinie hinter dem Horizont.

19. MAI 1939
IM ÄRMELKANAL
NEBEL

In der Nähe der weißen Küste von Dover, wo der Ärmelkanal am schmalsten ist, legte sich Nebel auf das Wasser. Dichter, weißer, schwerer Nebel. Der Kapitän entschied, etwas abseits des normalen Schiffswegs vor Anker zu gehen. Wenn sich nun auch noch der Wind legte, trieben wir blind und unkontrolliert in der starken Strömung. Um uns herum war das stumpfe Brüllen der Nebelhörner anderer Schiffe zu hören. Auch wir schlugen die große Glocke auf der Back, aber ihr Klang konnte leicht überhört werden. Eine solche Lage ist für jedes Segelschiff gefährlich: Ohne Motorkraft kann die Besatzung nur treiben und muss hoffen, dass kein anderes Schiff aus der Nebelwand auftaucht und nicht mehr ausweichen kann. So erging es der Preußen, einem Fünfmaster, der von einem Dampfer gerammt wurde und vor den Klippen von Dover strandete.

Außer dem Kollisionsschott hinter der Ankerkette hatte unser Segelschiff keine weiteren wasserdichten Schotten. Nach einer Kollision würden wir volllaufen und dann sinken wie ein Kreidefels. Selbst geübte Schwimmer hätten es schwer gehabt, zu überleben, denn im undurchdringlichen Nebel findet man Schiffbrüchige nur durch Zufall.

Wir warteten ab. Die Nebelhörner tuteten. Dann geschah das, was alle befürchtet hatten: Wie ein böser Geist schob sich der Bug eines Dampfers aus der Nebelwand! Unser Kapitän rannte vom Hochdeck nach vorn und schlug die Glocke nun selbst, so hart, laut und schnell es ging. Der Dampfer aus Dänemark schien das zu hören und uns nun zu sehen. Er drehte bei – in letzter Sekunde. In einer Entfernung von weniger als 50 Metern schrammte sein Steven an uns vorbei. Etwa 50 Meter fehlten zur Katastrophe, das ist nicht viel auf dem Wasser. Wir atmeten auf.

Tags darauf löste sich der Nebel zu unserer Erleichterung auf. Rasch stellte sich Routine an Bord ein. Zur ersten Phase einer Reise gehören das Schrubben des Decks und die Grundreinigung des Schiffs. Die Matrosen nutzten jede Gelegenheit, uns Junge mit den unterschiedlichen Handarbeiten vertraut zu machen. Sie zeigten uns auch, wie man Taue knotet und Drähte spleißt.

Dann wurden die Wachen eingeteilt: In diesem alten, überlieferten Ritual wählten der Erste und der Zweite Offizier im Wechsel ihre Leute aus. Traditionell unterstand die Backbordwache (die so hieß, weil sie an der Backbordseite des Schiffes schlief) dem Ersten Offizier. Auf Schiffen, die mit wenig Besatzung aus vielen Nationen fuhren, kam dieser Wahl ziemliche Bedeutung zu: Der Offizier mit der besseren Menschenkenntnis fuhr hinterher bestimmt besser.

Ein Anfänger wie ich spielte keine besondere Rolle, und es war Zufall, dass ich der Backbordwache des Ersten Offiziers zugeteilt wurde. In den nächsten Tagen merkte ich, dass man sich erst an den neuen Schlafrhythmus gewöhnen musste. Eine Wache dauerte vier oder sechs Stunden, im ständigen Wechsel. Je stürmischer das Wetter wurde, desto öfter fielen Freiwachen aus, das sollten wir noch früh genug merken.

Ich zog in eine andere Unterkunft um. Die Schiffsjungen und Jungleute schliefen unter dem erhöhten Poopdeck in drei ziemlich kleinen Räumen. Ich bekam eine Koje an der eisernen Bordwand zugewiesen, was – wie ich später feststellte – nicht gerade ein Vorteil war: War es warm, lief Kondenswasser die Schweißnähte herunter, und in der Kälte bildeten sich daran Eiszapfen.

Nach zwei Tagen im Ärmelkanal kamen uns – nur eine halbe Seemeile entfernt – drei Dampfer in einem Mini-Konvoi entgegen. Drei Urlaubsschiffe der nationalsozialistischen Organisation Kraft durch Freude, deren Aufgabe es war, Freizeitaktivitäten im Dritten Reich zu organisieren und gleichzuschalten. An Deck der Schiffe befanden sich eigenartig viele Passagiere.

Wir sahen genauer hin und entdeckten: Das waren keine Touristen, das waren Soldaten in Uniformen. In grauen Uniformen. Als sie die vier Masten der Priwall sahen, wurden es immer mehr. Ein paar tausend Mann, schätzten wir. Es waren Einheiten der Legion Condor auf der Rückkehr aus dem Bürgerkrieg in Spanien.

Auf uns Schiffsjungen machte die Begegnung wenig Eindruck; die kriegerische Rhetorik, die 1939 immer aggressiver wurde, spielte keinerlei Rolle im Bordleben. Wir sprachen nicht über Politik, wir sprachen nicht über Hitler. Wir waren mit dem Regime aufgewachsen, wir kannten nichts anderes. Alle waren in der Hitlerjugend oder im Jungvolk gewesen, jeder kannte die vormilitärische Ausbildung. Unsere Eltern hatten uns nicht davor bewahren können.

Auf der Priwall gab es keine Bord-SA wie auf manch anderem Frachtschiff. Niemand grüßte mit ausgestrecktem Arm. Man rief auch nicht: »Heil Hitler«, man sagte zum Wachwechsel: »Moin«. Nur einer der älteren Jungen las in »Mein Kampf« und ging uns gelegentlich mit »Weisheiten« daraus auf die Nerven. Er galt als komischer Außenseiter und wurde von den anderen gemieden. Für uns waren ganz andere Dinge interessant: Filme wie »Die Neufundlandfischer« oder »F.P.1 antwortet nicht«, mit Hans Albers in der Hauptrolle. Wir lasen die Groschenromane von Tom Shark, dem König der Detektive, oder die Abenteuer des Agenten John Kling. Mädchen waren überhaupt kein Thema, wie aus einem Gefühl heraus, dass es besser wäre, nicht über sie zu reden, weil sie ohnehin zu weit weg waren. Zum Reden und Lesen kamen wir aber ohnehin selten. In der Freizeit schlief man vor Erschöpfung schnell ein.

IM MAST

Wir Schiffsjungen ließen keine Liebe und keine Kinder zurück, also fiel uns der Abschied von zu Hause nicht schwer. Die ersten Tage auf See sind für einen Seemann, der Familie zu Hause weiß, eine Qual. Eine finstere Zeit, in der man sich bisweilen nach dem Sinn des eigenen Tuns fragt. Es gab Schiffe, auf denen begegnete man dem Kapitän nach dem Auslaufen tagelang nicht, weil er sich in seiner Unterkunft verkrochen hatte.

Die Arbeitsroutine während der Wachen hilft, den Schmerz zu lindern. Jeder Tag ähnelt einem Kreislauf, dessen Wiederholungen sich mit der Monotonie des Meeres in einen Zustand verweben, in dem die Zeit kaum eine Rolle spielt. Die Tage und Wochen gehen vorbei. Wer die See liebt, liebt auch genau diese Routine an Bord.

Woran ich mich gewöhnen musste, war das Gefühl, zu keiner Sekunde und zu keinem Moment allein zu sein. In meiner Gruppe, die für den Kreuzmast und den Besammast verantwortlich war, freundete ich mich bald mit einigen Jungs an: mit Bruno Pichner, einem hünenhaften Leichtmatrosen. Mit Cassen Eils, einem frechen Kerl von der Nordseeinsel Norderney. Mit Willy und dem rothaarigen Joachim Lange, der sich vorstellte, als wir oben in den Rahen lagen und ich mit weichen Knien überlegte, wie ich jemals wieder hinunterklettern könnte.

»Gestatten, Roter Gollo«, sagte er und streckte mir mit breitem Grinsen die Hand entgegen. Ich lachte so heftig, dass ich beinahe abgestürzt wäre. Wer zum ersten Mal in den Mast klettert, hat sonst nicht viel zu lachen. Man muss mit der Mischung aus Respekt und Erfurcht fertig werden. 56 Meter hoch waren die Masten der Priwall. Wer zum ersten Mal hinaufsollte, wurde von einem erfahrenen Matrosen begleitet, zur Sicherheit und zur mentalen Unterstützung. Was an einer Stelle am Mast, an der Mars, an der man einen etwa drei Meter breiten Überhang hochklettern musste, auch nicht weiterhalf. Es kostete Selbstüberwindung weiterzusteigen. Ohne Sicherheitsseil.

Von Unfällen wusste jeder Matrose. Auf der Padua, einem Schwesterschiff, brach in einem Sturm die Stenge des Vormastes, auf dem sechs Seeleute in der Takelage standen, um Segel einzuholen. Alle stürzten ins Meer und ertranken. Überhaupt kam es an Bord der Padua beinahe auf jeder Reise zu einem Unglück mit Todesfolge. Immer wieder stürzte jemand vom Mast in die Tiefe. Auf der baugleichen Priwall hingegen geschah selten etwas. Warum manche Schiffe das Unglück anziehen und manche im Glück zu segeln scheinen – dafür gibt es keine Erklärung, nur den Aberglauben.

Ein besonderes Unglücksschiff war die britische Viermastbark Wanderer, der während ihrer Jungfernfahrt im Bristolkanal alle vier Masten brachen, bevor sie in den ersten Hafen einlief. Jede Fahrt forderte Tote oder Verletzte, und kein Matrose ging ohne zwingenden Grund auf die Wanderer. Sie war an einem Freitag aus der Werft gekommen, was als schlechtes Omen galt. Kein Kapitän lief an einem Freitag mit seinem Schiff aus. Der Freitag brachte Unglück.

Wer nicht aus eigenem Antrieb den Mast hochkletterte, wurde hochgetrieben. Mit Ohrfeigen. Mit Gebrüll. Von den Matrosen, von den anderen Schiffsjungen. Es galt, seine Angst und den Instinkt zu besiegen. Jeder musste seine Furcht überwinden, weil das Wohlergehen aller davon abhing. Mit den Stürmen der Roaring Forties, wie die Region südlich des 40. Breitengrads genannt wird, würde die Priwall nur dann fertig, wenn jeder in der Mannschaft sein Bestes gab. Ausnahmen? Ausfälle? Durfte es nicht geben. Ich war anfangs nicht schwindelfrei, aber ich gewöhnte mich an die Höhe.

Von oben im Mast betrachtet sah das Schiff aus wie ein schmales Brett. Das Meer war so unglaublich weit, von einer Schönheit und von einer Magie, die einen andächtig machte. Ich konnte Delfine erkennen, die das Schiff begleiteten. Immer wieder sprangen ihre silbernen Körper aus dem Wasser. Der Ozean erschien mir als gewaltiges Blau, in dem das Schiff so seltsam klein wirkte, so zerbrechlich und kaum geeignet, die schweren Stahlrohre zu tragen, auf denen ich gerade stand.

Vielleicht klingt es merkwürdig, aber man spricht wenig an Bord eines Segelschiffs, weil die Natur einen schweigen lässt. Es ist noch nach Wochen auf dem Wasser eindrucksvoll, in einer freien Minute den Himmel zu beobachten. Kein Motorengeräusch ist zu hören, nur das Pfeifen des Windes.

Zu den Aufgaben in der Takelage gehörte es unter anderem, die Gordinge der Kreuzrahen von der Royalrah abwärts zu überholen. Gordinge sind dünne Drähte, mit denen die Segel aufgegeit werden. Ich lernte, sie hinter einem Leitblock zusammenzubinden, aber nicht zu fest, damit sie nicht auf den Segeln liegen und scheuern konnten. Bald hatten wir alle Handgriffe so verinnerlicht, dass wir sie bei starkem Wind und auch nachts ausführen konnten. Taschenlampen benutzten wir nicht. Davon wird man nur nachtblind, weil sich das Auge nicht an die Dunkelheit gewöhnen kann. Mondlicht genügte, dass wir uns an Deck und auch in der Rigg orientieren konnten. Man sagt, dass Segelschiffleute mit Katzenaugen sehen.

»SPECHTS GEHEIMNIS«

Unter vollen Segeln passierte die Priwall die Leuchttürme der bretonischen Insel Ouessant und steuerte hinaus auf den Atlantik. Zwei Tage waren wir in der Biskaya unterwegs, als uns ein Bananendampfer entgegenkam, der auf der Rückreise von Kamerun nach Deutschland war. Das Schiff stampfte immer näher heran, bis es auf Brüllweite war.

»Wollt ihr Bananen rüberholen?«, schrie jemand.

Einer der Jungen der Priwall, Hermann Meyer hieß er, war Sohn des Kapitäns auf dem Bananendampfer. Am liebsten hätten wir im Chor zurückgeschrien: »Oh ja, jede Menge!«, doch unser Kapitän lehnte die Offerte zu unserem Bedauern ab, weil er keine Verzögerung der Fahrt wünschte. Hinterher meinte er, dass es sich nicht gehöre, an Bord eines stolzen Segelschiffs Bananen zu essen.

Besonders wir Jungen fluchten, natürlich nur so laut, dass es keiner der Offiziere oder Matrosen mitbekam. Unsere Verpflegung war miserabel, was Qualität und Menge betraf. Das Essen war unser Gesprächsthema Nummer eins: Mehr noch als um Detektiv Tom Shark oder Agent John Kling ging es um unsere traurige Dauerdiät aus Hülsenfrüchten, aus Salzgemüse, aus ekligem Salzfleisch und gesalzenem Speck, aus Haferschleim und »Spechts Geheimnis«. So hieß der Kaffee oder besser gesagt eine Art Kaffee, der aus gepressten Kaffeeplatten gekocht wurde. Diese sahen aus wie Schokoladenriegel, schmeckten aber äußerst bitter. Zwei Riegel genügten, um eine Kanne zu füllen, aber niemand wollte wissen, was eigentlich das Geheimnis von »Spechts Geheimis« war.

Besonders das Salzfleisch, in stinkenden Fässern gelagert, und die Kartoffeln waren, je länger die Reise dauerte, kaum zu genießen und gerade noch im Labskaus zu ertragen. Frische Kartoffeln faulten in der feuchten Seeluft schnell und verbreiteten einen penetranten Gestank. Sie wurden durch getrocknete Kartoffeln ersetzt, eine sonderbare Erfindung mit eigenartigem Geschmack. Wir waren überzeugt, dass manche unserer gesalzenen Mahlzeiten – eine Kühlung gab es an Bord nicht – bereits mehrfach den Äquator gequert hatten. Dass die Ernährung auf britischen Schiffen noch scheußlicher sein sollte – dort nannte man das Essen ohne Umschweife »Salted Horse« (gesalzenes Pferd) –, tröstete kaum.

Der Geiz der Reeder ging so weit, dass man uns Seeleuten nicht mal das in der Speiserolle vorgeschriebene Pfund Margarine zugestand. Man händigte uns zwar ein Pfund aus, aber nicht ein halbes Kilo, sondern ein Pfund nach englischer Maßeinheit. Was eigentlich auch egal war, denn das Streichmittel, das man »Margarine« nannte, war mehrfach geschmolzen und hatte sich danach durch Abkühlung wieder erhärtet. Von den beiden Schichten, die sich in der Dose gebildet hatten, war eine durchsichtig und klar, die andere grau und mehlig. Keine Ahnung, was man mit dem Zeug anfangen konnte – zum Verzehr war es kaum geeignet.

Manchmal versuchte unser Schiffskoch, den Speiseplan mit Frikadellen aus Schwarzbrot und Sojaöl zu ergänzen, was allerdings genauso appetitlich war, wie es sich anhört. Trotzdem aßen wir alles, was wir bekamen, denn viel war es nicht. Hunger war unser ständiger Begleiter. Zwei Schweine lebten in einem Verschlag an Deck. Zwei recht stattliche Hausschweine, für die auf der Hälfte der Strecke die Reise zu Ende war. Wir konnten es kaum erwarten, dass sie geschlachtet wurden, wobei ich als Letzter in der Bordhierarchie nicht gerade das Filetstück abbekam. Von den Schweinen blieb nichts übrig.

Einigen Matrosen kam eine Idee, wozu der Salzspeck noch zu gebrauchen war: Sie köderten damit einen großen Hai, der die Priwall stundenlang verfolgt hatte. Als der Raubfisch – etwa dreieinhalb Meter lang – schließlich anbiss, herrschte große Aufregung. Mit Vorsicht hievten die Fänger das Monstrum, das wild mit dem Schwanz um sich schlug, an Deck. So kam es auf unsere Speisekarte. Der Hai schmeckte nicht so gut wie ein Delfin oder einer der fliegenden Fische, die manchmal morgens auf Deck lagen, aber immerhin.

Es kam vor, dass mancher seine Wochenration Proviant mit einem Mal aufaß. Anschließend war man auf die Almosen der Kameraden angewiesen. Nachschlag aus der Bordküche? Ausgeschlossen. In meinem Leben war ich nur einmal seekrank. Zumindest war das die offizielle Version. In Wahrheit hatte ich nämlich eine Dose Corned Beef, die auf wundersame Weise den Weg aus der Kombüse in meine Tasche gefunden hatte, auf einmal aufgegessen. Neben dem Kaffeeverschnitt tranken wir Tee, also bräunlich gefärbtes Regenwasser, das in einem großen Tank gesammelt wurde. Drei Mann teilten sich eine Holzpütze, wie die kleinen Behälter genannt wurden. Das musste zum Trinken, zum Waschen und zum Reinigen der Kleidung genügen. Unser Arbeitszeug roch schon nach kurzer Zeit wie ein »Salted Horse«. Unterwäsche und Handtücher wusch man natürlich; doch mit der Menge Kernseife, die man uns gab, war es nicht möglich, die Wäsche wirklich sauber zu bekommen. Das Zeug war mit einer dicken Schmiereschicht überzogen. Löcher flickte man mit altem Segeltuch. Wenn es gar nicht mehr anders ging, knoteten wir Jacken und Hosen an eine Leine und hingen das Bündel von Bord; was der Kapitän aber nicht gern sah und schließlich verbot. Ein paar Jacken und Hosen an einer Leine bremsen das Tempo einer Viermastbark unter vollen Segeln natürlich ungemein! Wer während einer Einlaufparade in irgendeinem Hafen, wenn Großsegler unter Motorengetucker vorbeiziehen, romantische Anwandlungen bekommt, sollte an »Spechts Geheimnis«, die ranzige Margarine und meine alte Hose denken.

QUÄLER

Disziplin und Gehorsam – das lernten wir in den ersten Wochen auf See. Bisweilen schlugen die Matrosen und Offiziere einen rauen Ton an, aber das gehörte dazu. Man muss sich das vorstellen: Ein Schiff, das auf das Funktionieren seiner Mannschaft angewiesen war, legte in Hamburg ab, um das meistgefürchtete Gebiet der Welt zu durchsegeln, von Ost nach West, gegen Wind und Strömung und obendrein im Südwinter. Mehr als ein Viertel der Besatzung aber bestand aus Anfängern. Bis Kap Hoorn blieben nur wenige Wochen, um aus uns einsatzbereite Seeleute zu machen.

Zum Problem wurde, dass einige Matrosen die notwendige Härte mit sinnloser Schikane verwechselten. Sie mochten es offenbar, andere zu quälen. Dazu gehörte der Zweite Offizier, ein Mann mit dunklen Haaren, einer breiten Nase und den Muskeln eines Boxers, der sich auch benahm wie ein Boxer. Seine Masche war es, einen Witz zu erzählen.

»Findest du mich nicht witzig?«, fragte er mit gespielter Empörung, wenn es keine Reaktion auf den Scherz gab. Dann schlug er zu.

»Lachst du mich etwa aus?«, rief er, wenn jemand lachte. Und schlug zu. An manchen Tagen, wenn seine Laune besonders schlecht war, benötigte er gar keinen Anlass, um Ohrfeigen zu verteilen. Beschweren konnten wir uns über ihn nicht. Bei wem denn? Der Kapitän war eine unansprechbare Autorität an Bord, und damit er einen seiner Offiziere zurechtweisen würde, musste erst etwas wirklich Schlimmes passieren.

Zur anderen Sorte der Quäler gehörten einige Matrosen, die nicht zu den Klügsten an Bord zählten. Wie so oft im Leben sind es Inkompetente, die wissen, dass sie eigentlich zu den Verlierern zählen, die andere drangsalieren, weil es ihnen hilft, ihr angekratztes Selbstwertgefühl zu pflegen. Zu beliebten Spielen gehörte es, einen der Jungen mit schweren Handspaken, den hölzernen Hebeln zum Drehen des Ankerspills, auf dem Deck hin und her marschieren zu lassen. Manchmal sogar mit angehängten Wassereimern. Dazu mussten wir Schlager singen, wie »Schwarzbraun ist die Haselnuss«.

Immer geschahen die Schikanen im Schutze der Nacht. Tagsüber blieb wegen der Menge an Arbeit keine Zeit, und vermutlich hätten auch manche Offiziere das unwürdige Treiben unterbunden. Doch ganz hilflos waren wir nicht, das wussten wir. Gegen den Zweiten Offizier konnten wir nichts unternehmen, er war als Nummer drei der Bordhierarchie unantastbar.

Gegen die Matrosen hingegen konnten wir uns wehren.

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9783945877289
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