Читать книгу: «Slow Slim», страница 3
Frühstück:
2 Cappuccino
2 Stück Baguette mit Nutella
Vormittag:
1 Cappuccino
3 Ferrero Rocher
2 Bananen
2 Esslöffel Nutella
½ Liter Orangensaft
Mittagessen:
2 Portionen Lasagne
1 Schokoladenpudding
1 Espresso
Nachmittag:
1 Mars
2 Brioche mit Nutella
3 Esslöffel Nutella
½ Liter Orangensaft
Abendessen:
2 Stück Schwarzbrot mit Butter und Räucherlachs
1 Mars
1 Snickers
2 Gläser Rotwein
21:00
1 Cappuccino
2 Brioche mit Nutella
23:00
Restliche Lasagne (ca. ½ Portion)
1 kleine Tafel Schokolade Vollmilch/ganze Haselnüsse
Für diese Verpflegung hätte man mehrere Arbeiter einer Kakaoplantage beschäftigen können. Vitamine und Proteine dagegen hatten sich kaum auf meine Speisekarte verirrt.
Was ich damals noch nicht begriffen habe, ist die Wichtigkeit, den Ist-Zustand zu erfassen. Wenn wir etwas ändern wollen an unserem Leben, an unserer Ernährung, an unserem Verhalten, müssen wir zunächst einmal den Status Quo erfassen. Aus dem einfachen Grund, weil wir sonst nicht wissen, wo genau die Probleme liegen.
Wir machen Inventur. Ohne zu schummeln, zu verdrängen, zu vertuschen oder zu beschönigen.
Wir befinden uns auf Level 1, im Monat der Dokumentation. Die Aufgabe dieses Monats ist der Erfassung unseres Essverhaltens gewidmet, so peinlich es uns in dem Moment auch sein mag, alles aufzulisten, was wir verschlungen haben. Mir sind diese Listen damals immer wie Mahnmale vorgekommen. Wir könnten sie auch als gute Freunde sehen. Das klingt vielleicht absurd, aber der Gedankengang ist nicht ganz abwegig. Die guten Freunde sind ja genau die unter den übrigen Bekannten, die uns die Wahrheit sagen, uns das vor Augen führen, was wir nicht sehen wollen.
Um sich auch selbst ein guter Freund zu sein, hilft es, diese Aufzeichnungen möglichst emotionslos und sachlich zu betrachten. Ganz gleich wie furchtbar diese Listen wirken mögen, wir müssen uns nicht schämen oder uns vor uns selber schrecken. Wir brauchen uns weder schlecht noch schäbig vorkommen, immerhin sind wir gerade dabei, die Dinge zu ändern.
Schreiben wir also jeden Bissen auf, der uns zwischen die Zähne kommt, vom edlen Gourmet-Menü bis zur allergrößten kulinarischen Peinlichkeit.
Wir dokumentieren die drei Bier zu den Koteletts beim Grillen samt der Riesenportion Ketchup.
Wir halten fest, dass wir über den Tag hinweg die große Dreihundert-Gramm-Tafel Schokolade aufgefuttert haben, auch wenn wir gar nicht vorgehabt haben, sie zu kaufen und sie nur genommen haben, weil sie gerade im Angebot gewesen ist.
Wir notieren, dass wir die drei neuen Magnum-Sorten nicht nur einmal probiert haben (um den neuen Geschmack zu testen wie Restaurantkritiker), sondern an vier aufeinander folgenden Tagen jeweils alle drei vernichtet haben.
Wir vergessen nicht das gesunde Kebab mit so viel Gemüse drin und den Schokoriegel und den Orangensaft vom Automaten am Bahnsteig.
Wir listen das, eh schon nicht kleine, Wiener Schnitzel auf plus das halbe, das von einem der Kinder übrig geblieben ist, so was wirft man ja nicht weg.
Wir verheimlichen uns weder die zwei Becher Glühwein noch die Erdbeerbowle und die fünfzehn Grissinis dazu.
Das ist nicht schön. Das braucht Mut. Das ist der erste Schritt zur Besserung.
Die Idee dahinter ist eine Änderung unserer Verhaltensmuster. Wir sind schon auf dem Weg dorthin, auch wenn das noch überhaupt nicht unser Thema ist.
Wir sind jetzt auf Level 1. Aber damit wir später, in einem höheren Level, irgendetwas verändern können, müssen wir zuerst einmal wissen, was wir überhaupt ändern wollen. Das alles geht nur stufenweise, genau wie bei einem Computerspiel, wo wir ein Level nach dem anderen knacken und das nächste erreichen.
Keiner von uns kann sich von einem Tag auf den anderen in einen komplett anderen Menschen verwandeln. Das wissen wir, seit es Bridget Jones in Schokolade zum Frühstück versucht hat. Auf der Liste ihrer Neujahrsvorsätze zu Beginn des Buchs fand sich zum Beispiel:
Was ich nicht mehr tun werde:
• Rauchen
• Mehr ausgeben als ich verdiene
• Mich über Männer aufregen
• Hinter ihrem Rücken über andere Menschen herziehen
Was ich tun werde:
• Oberschenkelumfang mit Hilfe von Anti-Zellulitisdiät um acht Zentimeter reduzieren
• Sämtliches überflüssiges Zeug aus der Wohnung schaffen
• Beruflich aufsteigen
• Geld in Form von Ersparnissen anlegen, Rentenversicherung abschließen
• Nicht jeden Abend ausgehen, sondern zuhause bleiben, gute Bücher lesen und klassische Musik hören
• Dreimal in der Woche ins Fitnessstudio gehen, und zwar nicht nur um ein Sandwich zu essen
Ich kann mich nicht erinnern, dass sie irgendwas davon verwirklicht hat, und zwar nicht, weil sie Bridget Jones ist, eine Frau mit viel Herz und wenig Disziplin, sondern weil sie sich nicht über Nacht zu dem umbauen lässt, was sie für perfekt hält.
Wer gern eine vierfache Eierspeise mit Speck und einer Buttersemmel isst, wird in der Früh auch nicht aus dem Bett kriechen und eine Karotte und grünen Tee für das beste Frühstück aller Zeiten halten.
Das liegt allerdings weniger an den Karotten und dem grünen Tee als an unserem Gehirn. Es speichert sämtliche unserer täglichen, regelmäßigen Verhaltensweisen in den sogenannten Basalganglien ab. Je länger die Muster dort archiviert sind, desto schwieriger ist es, sie loszuwerden. Schlimmer. Verhaltensmuster kann man nicht mit einem Klick löschen wie eine Datei. Auf einen Klick geht verhaltenstechnisch überhaupt nichts. Wir können die Muster nur mit einem neuen Verhalten überspielen.
Um eine neue Tätigkeit zu lernen, müssen wir sie zunächst bewusst üben. Vergleichen wir das ganze einmal mit dem Autofahren. Solange wir noch hintereinander darüber nachdenken, dass wir jetzt auf die Kupplung steigen, einen anderen Gang einlegen und die Kupplung loslassen müssen, während wir in den Rückspiegel schauen und den Scheibenwischer einschalten, sind wir noch im Übungsmodus. Sobald wir all das automatisch, also ohne einzeln darüber nachzudenken, machen können, wissen wir: Das Gehirn hat die Tätigkeit in den Basalganglien gespeichert.
Ab jetzt können wir lenken, schalten, bremsen, Musik hören, telefonieren und rauchen gleichzeitig. Wir denken nicht mehr ans Autofahren. Das haben die Basalganglien übernommen.
Was für ein herrlicher Moment. Die Sache funktioniert nicht nur im Auto, sondern auch beim Essen.
Essverhalten oder Lebensstil zu ändern, läuft nach demselben Prinzip ab. Wir üben ein neues Verhalten solange, bis es in den Basalganglien gespeichert ist und automatisch abläuft.
Das neue Verhalten können wir allerdings nur üben, wenn wir wissen, wie es sich vom alten unterscheiden soll. Was wir essen, ist also nicht die einzige Frage, die sich da stellt. Wir müssen auch wissen in welchen Situationen, mit welchen Emotionen und in welcher Atmosphäre wir was essen. Sind die Süßigkeiten abends das Problem oder können wir uns bei den Zwischenmahlzeiten nicht beherrschen? Kommen wir an keinem McDonald’s vorbei oder ist der Eisverkäufer der Verführer?
Schreiben wir’s auf.
Frage Nummer 2: Warum essen wir?
Meine Freundin Meggie kommt aus Thailand und führt ein thailändisches Restaurant in Tirol. Ungefähr einmal pro Monat veranstaltet sie dort auch Kochkurse oder Seminare. Diese Tage sind besonders anstrengend für sie, weil sie sich nach den Kursen untertags nicht ausruhen kann, da beginnt nämlich dann erst das normale Restaurant-Geschäft.
»Ich liebe meinen Job«, erzählte mir Meggie einmal beim Brunch, »aber er bringt einen Stress mit sich, mit dem ich manchmal sehr schlecht umgehen kann. Ich funktioniere den ganzen Tag und es macht mir ja auch Spaß, diese Kurse zu leiten, aber dann fehlt mir die Kraft, den Laden auch am Abend noch zu schmeißen.«
Ich versicherte ihr, dass ich mir das gut vorstellen könne. Vermutlich würde es niemandem anders gehen.
»Aber dann«, erzählte sie weiter, »gibt es diese Phasen nach ein Uhr nachts, wenn das Personal heimgegangen und alles geputzt ist, wenn ich die Abrechnung mache. Dann fällt auf einmal der ganze Stress von mir ab und ich habe nur mehr das Gefühl, mich belohnen zu müssen.«
In diesen Momenten mitten in der Nacht plündert Meggie regelmäßig den Kühlschrank. Allein von Berufs wegen kennt sie sich wirklich gut mit Ernährung und den Bestandteilen von Lebensmitteln aus. Sie weiß ganz genau, dass es alles andere als gut für ihren Körper ist, sich zu dieser Zeit noch den halben Tagesbedarf an Kalorien einzuwerfen.
»Essen kann auch wie ein Medikament oder eine Droge sein«, sagte sie, »es ist eine sehr schnelle Möglichkeit, herunterzukommen vom Stresslevel und sich gleichzeitig zu belohnen.«
Meggies Geschichte ist nur insofern ein Einzelfall, weil nicht jeder ein thailändisches Restaurant in Tirol führt. Ansonsten sind wir alle wohl hin und wieder Meggies:
In vielen Fällen essen wir nicht, weil wir Hunger haben. Wir essen aus Langeweile, um die Zeit mit dem Löffel totzuschlagen. Wir essen, um uns zu beruhigen, wenn wir uns über den Chef aufgeregt oder auch nur keinen Parkplatz gefunden haben. Wir essen, um uns zu trösten, weil sonst gerade keiner da ist, der es tut. Wir essen aus Höflichkeit, weil uns jemand etwas Süßes mitgebracht hat. Wir essen aus sozialen Gründen mit den Kindern mit, obwohl wir eigentlich gar keinen Hunger haben. Wir essen am Abend mit dem Partner, weil wir den ganzen Tag keine Möglichkeit hatten, Zeit miteinander zu verbringen.
Marions Freundin Emily hat eine Leidenschaft für Hundeausstellungen. Sie züchtet auch selbst eine kleine Hunderasse und fährt mit ihrem Rudel immer wieder zu Ausstellungen. Am Tag der Veranstaltung ist es oft für sie schwierig, etwas Vernünftiges zu essen. Zum Teil, weil sie viel zu tun hat, zum Teil, weil es an den meisten Ausstellungsorten nur ein paar lausige Imbissbuden gibt.
Marion, die Emily manchmal mit ihren Kindern auf den Ausstellungen besuchte, brachte dann einfach das Mittagessen mit. Vorspeisen, Brot, Wurstplatten, Pasteten und als Nachspeise dann noch jede Menge Käse und Kuchen. Zu trinken gab es Aperitif, Wein und Bier. »Ich habe alles liebevoll zubereitet, so gut es eben auf einer Hundeausstellung möglich ist, ich dachte, wir könnten uns eine gemütliche Mittagspause machen«, erzählte mir Marion, »aber meistens war es so, dass die Kinder und ich kräftig zulangten, Emily aber nur einen Schluck Wasser trank und fast nichts aß. Ich dachte, es ist ihr vielleicht zu stressig, weil sie sich konzentrieren musste, oder es schmeckt ihr einfach nicht. Sie hat immer nur gesagt, sie habe heute keinen Hunger.«
Emily wiegt gute 120 Kilo. Dieses Gewicht würde sie nicht beibehalten können, wenn sie immer nur so wenig essen würde wie in der Öffentlichkeit einer Ausstellung. Marion konnte sich keinen Reim auf die Zurückhaltung ihrer Freundin machen. Bis sie eines Tages bei Emily zuhause zum Abendessen eingeladen war.
Das Essen war gut. Es gab Suppe und Salate als Vorspeise, Rindsbraten mit Pappardelle und zum Abschluss Schokokuchen mit Erdbeeren. Alle langten mit Appetit zu, alle bis auf Emily. »Sie hat an ihrem grünen Salat herumgekaut wie ein Wiederkäuer, es war echt eigenartig«, erzählte Marion, die sich mit ihren Kindern bald verabschiedete. Auf der Heimfahrt bemerkte sie, dass ihre Tochter Berli ihr Stofftier bei Emily vergessen hatte. »Das gab natürlich ein Drama im Auto, also bin ich zurückgefahren und habe noch einmal bei Emily angeklopft.«
Emilys Mann Peter öffnete. Während Marion ihm das Problem mit dem Stofftier erkläre, sah sie vom Vorraum aus in die Küche, wo Emily vor dem offenen Kühlschrank stand. In der einen Hand hatte sie eine offene Chipstüte, und mit der zweiten stopfte sie alles bunt gemischt und direkt aus dem Eiskasten in sich hinein: Fleisch, Käse, Nudelsalat. »Da war mir alles klar. Sie wollte nicht vor uns essen, es dürfte ihr peinlich gewesen sein.«
Übergewichtige Menschen haben oft Scheu, in Gesellschaft zu essen. Sie beherrschen sich und essen, wenn sie alleine sind oder sie sich nicht beobachtet fühlen. Schlanke Menschen können sich das vielleicht nicht vorstellen und fragen sich nach dem Grund. Menschen mit Gewichtsproblemen kennen ihn.
Essen kann für Übergewichtige Angst vor Kritik bedeuten und deshalb sehr schambesetzt sein. Sie schämen sich für ihr Gewicht genauso wie dafür, dass sie in diesem Zustand überhaupt noch was essen. Emily dürfte diese Sorge haben. Sie befürchtet, dass sie von ihrer Umgebung schräg angeschaut wird, wenn sie sich trotz ihres Übergewichts eine Ladung Bratwürste oder den Rindsbraten gönnt.
Heimlich zu essen schützt Emily vor vielen fragenden Blicken und seien es nur die, die sie sich einbildet. Gerade Übergewichtige möchten den direkten oder indirekten Vorwürfen der Umgebung entkommen. Sie verstecken sich beim Essen, um sich nicht dem auszusetzen, was sie sich selbst vermutlich am meisten vorwerfen.
Eine Einstellung, die lange Schatten wirft.
Wenn wir heimlich essen, entgeht uns sehr viel an sozialem Miteinander: das Frühstücken im Bett zu zweit, ein Mittagessen mit Arbeitskollegen, die gemeinsamen Abendessen mit der Familie, dem Partner oder Freunden, das gemeinsame Kochen, Kaffee und Kuchen mit den Freundinnen. All das, was uns erwiesenermaßen glücklich macht, findet gar nicht mehr oder nur mit schlechtem Gewissen statt und schlechtes Gewissen ist eine üble Beilage im Menü des Lebens.
Sozialpsychologen können erklären warum. Prinzipiell wollen wir alle ein positives Selbstbild von uns haben. Wenn wir nun Dinge heimlich machen, verbergen wir etwas vor anderen. Futtern wir eine halbe Torte heimlich im Bett, obwohl wir vor anderen den Salatesser spielen, entsteht im Gehirn ein Konflikt zwischen dem positiven Selbstbild, das wir gerne von uns hätten, und der Wirklichkeit mit dem täglichen Rendezvous mit dem Kühlschrank um elf Uhr nachts. Die Folge davon: Wir beginnen das heimliche Essen zu verdrängen. Prompt beginnt der Teufelskreis. Laut psychologischen Studien bleiben diese Geheimnisse nämlich besonders lange im Gedächtnis gespeichert. Ausgerechnet an die verschwiegenen Gedanken erinnern wir uns immer und immer wieder, dadurch geraten wir schnell in einen Kreislauf aus Versuchung zwischen dem heimlichen Essen und dem schlechten Gewissen, und dadurch wiederum können wir uns und unsere Gedanken immer weniger und weniger kontrollieren.
Womit wir wieder bei unserem Essensprotokoll wären. Um es so zu führen, dass es tatsächlich einen Sinn hat, ist es wichtig, auch diese Gefühle zu erfassen:
Wie fühle ich mich während des Essens?
Kann ich meine Mahlzeit genießen?
Fühle ich mich wohl und aufgenommen?
Fühle ich mich beachtet?
Hoffe ich, dass mich bloß niemand ertappt?
Habe ich Schuldgefühle oder Wut?
Schäme ich mich?
Frage Nummer 3: Wie essen wir?
Es geht dabei nicht um Tischmanieren. Ob wir das Dessert mit der Salatgabel gegessen haben, bringt im Slow Slim-Spiel keinen Level-Verlust. Das Wie fasst nur zusammen, ob wir bei unseren Mahlzeiten alles getan haben, um das Essen zu einem Genuss, einem Vergnügen, in jedem Fall aber zur Hauptsache zu machen.
Haben wir alleine oder in Gesellschaft gegessen?
Haben wir uns ganz auf das Essen konzentriert oder nebenbei telefoniert, mit dem Handy gespielt, Zeitung gelesen oder die Hände für etwas anderes gebraucht, als das Besteck zu halten?
Haben wir geschmeckt was wir essen?
Wie viel Zeit haben wir uns genommen, um den Tisch vorzubereiten?
Wie hat der Esstisch ausgesehen?
Haben wir zwischen Bergen von Rechnungen und Erledigungen gegessen? Neben dem Computer? Im Stehen in der Küche? Im Auto? Oder auf der Straße im Gehen?
Haben wir schon gegessen, während wir noch gekocht haben?
Haben wir die Pralinen schnell zwischendurch genascht oder in Ruhe in der Badewanne?
Welches Geschirr haben wir für das Frühstück benützt?
Noch genügt es, das alles nur zu beobachten und zu dokumentieren. Wir sind noch immer auf Level 1, Fleißaufgaben müssen nicht sein. Niemand soll sich schlecht oder schuldig fühlen, wenn er in der Einkaufsstraße einen Hotdog im Gehen braucht oder in der Arbeit am Schreibtisch über den Tag verteilt eine Packung Gummibären isst. Sofern sich auch das auf dem Essensplan findet, ist die Welt ganz in Ordnung.
Marion war vor zwei Jahren auf einem neurochirurgischen Kongress in Polen, weit weg von der nächsten Stadt, in einem Seminarhotel mitten in der Natur. Es war April, alles war grün, der Kongress war spannend und die Landschaft rundherum ein Traum.
»Aber weißt du, was das Tollste war?«, hat mir Marion nach ihrer Rückkehr gemailt und gleich die Antwort dazugeschrieben: »Es war der Grillabend. Sie hatten im Garten des Hotels einen Teil überdacht und dort für alle Kongressteilnehmer die Tische gedeckt. Alles in Weiß. Weiße Tischtücher, weiße Blumen, weiße Kerzen, wunderschön und an den Seiten lange Buffettische mit Beilagen, Salaten und den Desserts. Dazwischen brannten Fackeln.« Mir lief schon beim Lesen das Wasser im Mund zusammen.
»Als Vorspeise haben sie eine regionale Spezialität gemacht«, schrieb Marion weiter, »eine Pilzsuppe, die in einer kleinen Halbkugel aus Brot serviert wurde, unglaublich war das. Und erst die Grillspeisen, wirklich beeindruckend, Berge von Steaks, Würsten, und Blutwürsten, gegrilltes Gemüse, unglaublich, welches Festessen die aus einem ganz normalen Grillbuffet gemacht haben und dann noch in diesem wunderschönen Ambiente. Das war ein absolut unvergessliches Erlebnis für mich!«
Es gibt ein Sprichwort für das Phänomen: Das Auge isst mit.
Als ich vorigen Sommer in Italien war, gab es eine Kaltfront über mehrere Tage in Norditalien und Österreich. Am Nachmittag hatte es zu regnen aufgehört, aber das Meer war noch sehr stürmisch und es war noch zu kalt zum Schwimmen. Ich wollte die Atmosphäre auf der Terrasse genießen, den Blick auf die Bucht und die wilden Wellen. Ich machte mir also einen großen Cappuccino und setzte mich damit vors Haus.
Ich würde gerne schreiben, dass ich eine hochwertige dunkle Schokolade dazu gegessen habe, mindestens 70 Prozent Kakaoanteil, und dass mir nur zwei kleine Stücke davon gereicht haben, wie das die Ernährungs-Streber gerne von sich behaupten. Oder dass ich mir nur ein Mini-Törtchen aus der Patisserie geholt habe oder mit einer Kakaomandel vollkommen glücklich war.
Nein, ich habe ein fettes Snickers gegessen und ich habe es vom ersten Biss bis zum letzten Schokokrümel genossen. Plötzlich war es zu einem Gourmet-Menü geworden. Vorspeise: der Blick auf das Meer. Erster Gang: die immer noch wilden Wellen. Zwischengang: die frische, klare Luft. Wie eine edle Weinbegleitung dazu der heiße Kaffee. Nachspeise: die picksüße Schokolade. Es war zu schön, um jetzt die Nase über den Nährwert des Snickers zu rümpfen.
Das Rundherum kann das einfachste Mahl zu einer Köstlichkeit machen. Ein Rollmops aus dem Glas auf Zeitungspapier in einer Wiese kann in der richtigen Gesellschaft ein Dinner sein. Oder man hat Pech und kommt an jemanden wie Thomas, den Mann meiner Freundin Franziska.
»Ich hatte wieder einen üblen Streit mit ihm«, erzählte sie mir unlängst bei einem Glas Wein. »Ich glaube, wir passen einfach nicht zusammen, wir sind zu unterschiedlich. Diesmal ging es wieder um die Sache mit dem Frühstück.«
Franziska war es seit ihrer Kindheit gewohnt, ausgiebig zu frühstücken. Ihre Mutter hat sich immer sehr darum gekümmert, nie ging sie ohne etwas Anständiges im Magen in die Schule, und an den Wochenenden gab es ausgedehnte Brunchs mit vielen Köstlichkeiten aus dem Feinkostladen des kleinen Ortes, wo sie wohnten. Da bog sich der Tisch unter Baguettes und mehreren Arten Gebäck, Schinken und etlichen Wurst- und Käsesorten. Sogar Brioches backte die Mutter selbst für den Sonntagmorgen.
Franziskas Mann Thomas ist es dagegen seit Jahren gewöhnt, auf dem Weg in die Arbeit zu frühstücken. Ein Coffee-to-go und ein Donut ist für ihn Frühstück genug, Franziskas Kult um das erste Essen am Tag kann er absolut nicht verstehen.
»Es war am Samstag«, beklagte sich Franziska weiter, »und wir hatten nichts Besonderes vor. Ich hatte eingekauft für ein tolles Frühstück und wollte es uns schön gemütlich machen. Weißt du, was er gemacht hat? Schon während dem Essen ist er wie auf Nadeln gesessen, hat seinen Cappuccino hinuntergekippt und schnell ein kleines Brötchen gegessen. Dann ist er aufgesprungen und davongelaufen, er müsse noch irgendwas besorgen für den Computer. Ich kann’s noch immer nicht glauben. Er hat mich einfach allein sitzen lassen mit meinen ganzen Delikatessen. Ich habe mich so geärgert, der hat mir das ganze Frühstück verhaut mit seiner idiotischen Hektik. Ich könnte ihn auf den Mond schießen!«
Es sind also nicht nur die Geschmackspapillen ausschlaggebend dafür, ob einem ein Essen schmeckt oder nicht. Wenn es schön aussieht, gut riecht, wenn schöne Musik dazu serviert wird oder jemand mitisst, den man mag, genießen wir selbst den kleinsten Snack, den wir sonst hinuntergeschlungen hätten, ohne ihn wirklich zu bemerken.
Umgekehrt hilft eine noch so liebevoll ausgesuchte Mahlzeit nichts, wenn jemand die Atmosphäre vergiftet oder uns sonst wie ins Essen spuckt.
Wie wir essen, macht eine Mahlzeit zum Gesamtergebnis.
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