Читать книгу: «Frauen stören», страница 3
Chance, die Frauenfrage erneut zu stellen
Nach der Begrüßung ließ sich Papst Franziskus bei der Audienz für die Vollversammlung der UISG von seinem damaligen Sekretär, Erzbischof Georg Gänswein, eine Mappe mit seinem Redemanuskript bringen. Frei wiederholte er daraus einige Sätze, die er bereits bei anderen Gelegenheiten geäußert hatte: Ordensfrauen sollten sich nicht als Bedienstete verstehen, sondern sich in den Dienst, in die Sendung der Kirche stellen: „Du bist nicht Ordensfrau geworden, um Haushälterin eines Klerikers zu sein. … Dienstbarkeit nein, Dienst ja. Du arbeitest in einem Dikasterium, als Verwalterin einer Nuntiatur, das ist in Ordnung. Aber Haushälterin – nein.“44 Freilich fragte ich mich im Stillen sofort: Wer wäscht wohl die Wäsche für den Klerus im Vatikan? Wer bedient im Gästehaus Santa Martha? Nicht selten sind es eben Ordensfrauen, die diskret und verschwiegen, schlecht bezahlt und bisweilen wenig wertgeschätzt die Hausarbeit bei Kardinälen, (Erz-)Bischöfen und Priestern erledigen. Im März 2018 hatte ausgerechnet ein Beitrag in der Frauenbeilage des Osservatore Romano für Aufregung gesorgt. In Nummer 66 deckten Journalistinnen die entwürdigenden und sklavenähnlichen Arbeitsbedingungen von Ordensfrauen auf, die in vatikanischen Haushalten ihren Dienst tun.45 Wer Kritik übt und Missstände aufdeckt, gilt als Nestbeschmutzer*in.46
Die Rede des Papstes an die versammelten Generaloberinnen dauerte nicht lange. Von sich aus ging Franziskus in seiner Ansprache auf die Studienkommission ein, die sich mit den Diakoninnen in der frühen Kirche beschäftigt hatten. In seiner Antwort ließ der Papst durchblicken, dass das Gesamtergebnis „kein großer Wurf“ gewesen sei.47 Die Mitglieder hätten sich zerstritten, alle hätten ihre eigene Vorstellung. Er habe die Wissenschaftler*innen ermutigt, ihre Forschungen individuell weiterzuführen. Es lägen ihm auch die persönlichen Einschätzungen der Kommissionmitglieder vor, einige fortschrittlicher, die anderen traditioneller. „Man muss das studieren, denn ich kann kein sakramentales Dekret machen ohne eine theologische, historische Grundlage.“48 Er werde das Dokument der Frauendiakonats-Kommission der Vorsitzenden der Vereinigung der Ordensoberinnen, Carmen Sammut, überreichen. Sollte jemand an den Einzeleinschätzungen der Kommissionsmitglieder interessiert sein, könne er sie zur Verfügung stellen, so Franziskus.49
Nach rund 15 Minuten Ansprache legte der Papst sein Manuskript zur Seite, blickte mit einem Lächeln ins Auditorium und sagte zur Überraschung und Verwunderung aller Anwesenden sinngemäß: „Wir haben jetzt noch 40 Minuten Zeit. Ihr könnt mir jetzt Fragen stellen.“ Da ich am Rand einer Reihe saß, konnte ich schnell nach vorne eilen und die wohl einmalige Gelegenheit ergreifen, bei der Frauenfrage noch einmal nachzulegen:
„Bruder Franziskus. Ich … stehe hier mit 850 Generaloberinnen, und wir verkörpern so viele Schwestern, die in allen Diensten sind in der Kirche. Ich spreche für viele Frauen, die sich danach sehnen, gleichberechtigt dem Volk Gottes zu dienen. Und wir wünschen uns, dass wir heute auf die Frauenfrage in der Kirche nicht nur die Antwort finden aus der Geschichte und aus der Dogmatik – diese Quellen der Offenbarung brauchen wir auch –, aber wir brauchen auch die jesuanische Kraft, wie Jesus mit Frauen umgegangen ist. Und welche Antworten können wir heute, im 21. Jahrhundert, darauf finden. Ich bitte Sie wirklich, dass Sie das weiter mit der Kommission bedenken, dass wir nicht nur die historischen, die dogmatischen und andere Quellen nehmen, sondern das, was die Menschheit heute braucht, von Frauen, von Männern, vom ganzen Volk Gottes.“50
Mein Statement war durch und durch pastoral(theologisch) motiviert. Schließlich hatte das Zweite Vatikanische Konzil formuliert, dass die Kirche zur Erfüllung ihres Auftrags die Pflicht hat, „nach den Zeichen der Zeit zu forschen und sie im Licht des Evangeliums zu deuten. So kann sie dann in einer jeweils einer Generation angemessenen Weise auf die bleibenden Fragen der Menschen nach dem Sinn des gegenwärtigen und des zukünftigen Lebens und nach dem Verhältnis beider zueinander Antwort geben“ (GS 4). Die „neuen gesellschaftlichen Beziehungen zwischen Mann und Frau“ (GS 8) identifizierte das Konzil als eines der „Megatrends“. Neben der Arbeiterfrage und dem Streben der Völker nach Demokratie und sozioökonomischer Teilhabe hatte der Konzilspapst Johannes XXIII. die Frauenfrage bereits 1961 in seiner Enzyklika Pacem in Terris zu den Zeichen der Zeit gezählt. Da heißt es: „An zweiter Stelle steht die allgemein bekannte Tatsache, daß die Frau am öffentlichen Leben teilnimmt … Die Frau, die sich ihrer Menschenwürde heutzutage immer mehr bewußt wird, ist weit davon entfernt, sich als seelenlose Sache oder als bloßes Werkzeug einschätzen zu lassen; sie nimmt vielmehr sowohl im häuslichen Leben wie im Staat jene Rechte und Pflichten in Anspruch, die der Würde der menschlichen Person entsprechen“ (PIT 22).51
Gleichzeitig bekannte die Kirche schon Mitte der 1960er Jahre, wie schwer sie sich tut, der Komplexität des gesellschaftlichen Wandels, v. a. im Geschlechterverhältnis, „die ewigen Werte recht zu erkennen und mit dem Neuen, das aufkommt, zu einer richtigen Synthese zu bringen“ (GS 4). Die Kirche ist hier zu einer Antwort gezwungen. Diese kann aber nicht darin bestehen, alle gegenwärtigen Entwicklungen als Relativismus oder Anbiederung an den Zeitgeist abzutun und sich selbst in der Wagenburg des ewig Gestrigen und Gültigen zu verschanzen, indem Wahrheiten, die ihrerseits in einer gewissen Zeit und mit bestimmten Absichten formuliert worden sind, auf eine überzeitliche, dem innerweltlichen Geschehen entzogene Bühne gestellt werden und somit nicht hinterfragt werden dürfen.
Die Herausforderung und der Auftrag der Kirche bestehen doch gerade darin, die geoffenbarten Wahrheiten mit den innerweltlichen Freuden und Sorgen, Ängsten und Nöten in eine kreative Auseinandersetzung und Konfrontation zu bringen, so dass aus dem Evangelium, der bleibend gültigen frohen Botschaft Jesu Christi, das Reich Gottes Wirklichkeit werden und das individuelle, soziale, globalisierte, pluralistische Leben vom Licht des Evangeliums her erleuchtet werden kann. Neben den traditionellen Quellen der Offenbarung, wie sie die Heilige Schrift, die Tradition und die Lehre der Kirche darstellen, teilt sich Gott auch im Heute und in den Erfahrungen der Menschen mit. Diese Quellen der Vergegenwärtigung Gottes in den Lebenswirklichkeiten der Menschen gilt es ernst zu nehmen und diese Erkenntnisquelle theologisch zu würdigen.
In der Frage nach der Einführung eines sakramentalen Diakonats für Frauen sieht das Matthias Sellmann ähnlich: „Denn die Entscheidung, was gegenwärtig theologisch begründet getan werden kann, lässt sich prinzipiell nicht an die Theologiegeschichte auslagern – und zwar auch dann nicht, wenn die Kommission zu dem Ergebnis kommen sollte, dass es einen sakramentalen Diakonat der Frau in der alten Kirche gegeben habe. Von der Geschichte Handlungsanweisungen für die Gegenwart zu erwarten und den Raum dessen, was getan und geglaubt werden darf, auf das zu legitimieren, was schon einmal in der Vergangenheit getan oder geglaubt wurde, würde die Geschichte und die mit ihr befasste Geschichtswissenschaft überfordern.“52
Papst Franziskus: „Kirche wächst und ist auf dem Weg“
Nach meiner Frage, die ja im Prinzip mehr ein Statement und Plädoyer war, antwortete der Papst lange und ausführlich. Mit der Metapher des Weges beschrieb Franziskus, dass sich die Kirche permanent in einem Prozess des Wachstums und Voranschreitens befindet. Zwar bleibe die Offenbarung stets dieselbe, unser Verständnis der Offenbarung entwickle sich dagegen weiter, „und wir verstehen mit der Zeit den Glauben besser“. Aus diesem Grund brauche es den Rückgriff auf die Geschichte und auf die Dogmatik. „Die Kirche ist nicht nur der Denzinger“, hielt der Papst fest, das Lehrbuch sei hilfreich, „weil die ganze Dogmatik drinsteht, aber wir müssen andauernd wachsen“. Als Beispiel verwies Franziskus auf die Haltung der katholischen Kirche zur Todesstrafe. „Hat sich die Kirche verändert? Nein: das moralische Bewusstsein hat sich weiterentwickelt. Eine Entwicklung.“53 Übertrüge man diese Argumentation auf die Frauenfrage in der Kirche, wäre es jederzeit möglich, Frauen zu Diakoninnen, ja sogar zu Priesterinnen und Bischöfinnen zu weihen sowie nicht geweihte Männer und Frauen in höchste kirchliche Ämter zu berufen. Eine kritische Relecture der bisher geltenden lehramtlichen Aussagen wäre nötig. Sie müsste erweitert werden mit den heute verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnissen der Bibelforschung, Kirchengeschichte, Dogmatik und Pastoraltheologie. Und es bräuchte den Mut, innovativ, also wirklich Neues hervorbringend, zu lehren, zu entscheiden und zu handeln.
Diese gedanklichen Schritte vollzog Papst Franziskus bei der Audienz im Mai 2019 allerdings nicht. Sondern er sagte vielmehr: „Deshalb müssen wir im Fall des Diakonats nachforschen, was am Ursprung der Offenbarung war, und wenn da etwas war, es wachsen lassen, und dann soll es auch ankommen; wenn da nichts war, wenn der Herr dieses Amt nicht wollte, dann geht der sakramentale Dienst für die Frauen nicht.“54 Dann folgt ein Satz, vor dem der Papst mit einem Lachen die Zustimmung der Schwestern zu gewinnen suchte, bevor er etwas abwiegelnd oder vereinnahmend sagt: „Wir sind doch katholisch. Wir müssen die Offenbarung respektieren. Aber wenn eine von Ihnen eine andere Kirche gründen will …“ Der Satz bleibt unvollendet und verschwebt im Raum. Er klingt wie eine Ohrfeige, und im Nachhinein verstehe ich ihn auch so.
Unmittelbar im Anschluss an die Audienz hatte ich die Aussage des Papstes noch als schlechten Witz gedeutet.55 Ich wollte den ersten Jesuiten auf dem Stuhl Petri, der sich den Namen Franz von Assisi gewählt hatte, verteidigen, ich wollte mir einfach nicht das Bild eines Papstes verderben lassen, der sich in pastoraler Hinsicht redlich um eine neue Gestalt von Kirche müht: in seinem Anprangern von Egoismus und Gleichgültigkeit, in seinem Einsatz für weltweite soziale Gerechtigkeit, für die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen, für die Ärmsten der Armen, durch seine Gesten der Menschlichkeit, sein permanentes Mahnen, die Verlierer*innen des globalen und immer aggressiver agierenden Raubtierkapitalismus nicht zu vergessen.
Der deutsche Jesuit Bernd Hagenkord hat die ganze Rede mitverfolgt und – ähnlich wie ich – die letzten Sätze des Papstes als Scherz empfunden, wenngleich man sich fragen darf, ob der Humor hier passend, peinlich oder als Ausdruck patriarchaler Bevormundung total verfehlt war.56 Mehrmals wurde ich in der Nachberichterstattung gefragt, ob ich mich von der letzten Aussage des Papstes persönlich angegriffen fühlte. Das kann ich verneinen. In der Situation selbst empfand ich die Stimmung durchaus wertschätzend, freundlich und offen. Wie schwer die inhaltlichen Aussagen einzuordnen sind, ist mir erst im Nachhinein voll zu Bewusstsein gekommen. Der eigentliche Angriff während der Audienz kam aus meiner Sicht nicht so sehr durch den Papst selbst, sondern wenige Minuten später durch die nächste Rednerin. Die aus Osteuropa stammende Generaloberin, die unmittelbar nach mir ans Mikrofon trat, leitete ihr Statement mit einem Seitenhieb an mich ein: „Heiliger Vater, was die Schwester vorhin gesagt hat, ist uns ja gar nicht so wichtig. Aber …“ Diese Abwertung meines Anliegens durch eine Kollegin hat mich in dem Moment mehr verletzt als die letzten Sätze des Papstes.
Am Ende seiner Ansprache vor Beginn der Fragerunde hatte der Papst in Aussicht gestellt, dass er an der nächsten Mitgliederversammlung der Generaloberinnen in drei Jahren teilnehmen werde: „Wenn ich am Leben bin, gehe ich hin“.57 Das wäre ein Novum. Sollte er bis dahin nicht mehr am Leben sein, bat er die Präsidentin der UISG seinen Nachfolger einzuladen. Eines ist sicher: Sobald der Termin feststeht, werde ich mich anmelden, in der Hoffnung, unser Gespräch fortsetzen zu können.
Teil 2
1.Antonia Werr – eine beispielhafte Ermutigungsgeschichte
Jahrhundertelang haben theologische und philosophische Theorien die Unterwerfung der Frau unter den Mann als selbstverständlich, naturgegeben und gottgewollt erklärt. Der Mann galt als eigentliches Ebenbild Gottes, die Frau als von ihm abgeleitet. Er wurde dem Geist zugeordnet, die Frau dem Fleisch. Sie ist das Andere, Fremde, Minderwertige.58 Im Zuge der Auslegung der Schöpfungserzählung im ersten Buch der Bibel wurde Adam als Mensch mit dem Mann gleichgesetzt und damit zum Maßstab erklärt, Eva als Frau von ihm abgeleitet. Er wurde von Gott erschaffen, sie aus der Rippe seines Erstlingswerkes. Trotz dieser alles bestimmenden Erzählungen der Überlegenheit des Mannes und der Sündenverhaftetheit der Frau haben Frauen diese Situation der menschengemachten Unmündigkeit hinterfragt. Denkend, reflektierend und handelnd fanden sie Alternativen zur Abhängigkeit von Vätern, Brüdern oder Ehemännern. Trotz zahlreicher Hindernisse lassen sich Frauenbiografien finden, die vom genormten bzw. gesellschaftlich und kirchlich vorgegebenen Lebensentwurf abwichen. Was ließ diese Frauen neue Wege gehen, statt sich mit dem Status quo abzufinden? Was hat sie befähigt, dem eigenen inneren Impetus zu folgen statt – was gegebenenfalls bequemer gewesen und mehr honoriert worden wäre – in vorgegebenen Bahnen und Ordnungen zu verbleiben? Was hat ihnen geholfen, trotz oder gerade wegen schwieriger Bedingungen erfolgreich ihrer Berufung zu folgen und ihre Ziele zu verfolgen?
Exemplarisch soll an dieser Stelle Biografie und Leben einer Frau nachgezeichnet werden, die im 19. Jahrhundert eine Frauengemeinschaft innerhalb der katholischen Kirche ins Leben rief: Antonia Werr (1813–1868).59 Sie gründete 1855 zusammen mit Gleichgesinnten die Kongregation der „Dienerinnen der hl. Kindheit Jesu“ und schloss sich 1863 dem „Regulierten Dritten Orden des hl. Franziskus“ an mit dem Ziel, Frauen, die in prekäre Lebensumstände geraten waren, wieder zu Würde und Ansehen zu verhelfen. Weil der Gründungsort in Oberzell bei Würzburg liegt, gilt die Gemeinschaft, der ich selbst angehöre, im Volksmund als „Zeller Schwestern“ bzw. „Oberzeller Franziskanerinnen“.
Biografie und Leben
Antonia Werr kam als Jüngste von acht Geschwistern am 14. Dezember 1813 eine halbe Stunde vor Mitternacht in Würzburg zur Welt. Einen Tag später wurde sie auf den Namen Maria Antonia Agnes Josepha getauft. Ihr Geburtstag war überschattet vom Begräbnis ihres Vaters Joseph Werr, einem Beamten im königlichen Hofrentamt. 42-jährig hatte er sich bei der Pflege an Typhus erkrankter Soldaten, die im zum Lazarett umgewandelten Neumünster behandelt wurden, angesteckt und war am 12. Dezember 1813 verstorben. Zum Zeitpunkt seines Todes lebten von den sieben Kindern noch sechs. Nach dem Verlust ihres Gatten musste die 41-jährige Witwe Agnes Werr allein für den Lebensunterhalt der achtköpfigen Familie aufkommen. Sie verließ das in der Nähe des Würzburger Domes am Kürschnerhof 4 gelegene Haus und zog in die Hofpromenade um. Mit einem Mittagstisch für Studenten erwirtschaftete sie sich ein zusätzliches Einkommen.
Die erhaltenen Quellen verraten nur wenig über die Kindheit und Jugend Antonia Werrs. 1802 war in Bayern die allgemeine Schulpflicht eingeführt worden. Diese galt zunächst für Kinder zwischen sechs und zwölf Jahren. Wahrscheinlich besuchte Antonia die Schule bei den Ursulinen, die seit 1712 in Würzburg höhere Töchter unterrichteten. Unstrittig ist, dass sie eine solide Schulbildung genossen hat. Ihre Korrespondenz bezeugt einen geschliffenen Schreibstil; seitenlange Analysen, Reflexionen und Erzählungen lassen eine kluge Frau erkennen, die eigenständig dachte, sich ein fundiertes Urteil bildete und selbstbewusst argumentierte.
Als jüngstes Kind blieb Antonia bei ihrer Mutter und pflegte sie in deren Alter und Krankheit. Erst nachdem ihre Mutter am 5. Mai 1841 gestorben war, konnte die inzwischen 27-jährige Antonia ihrem Wunsch entsprechen, ins Kloster zu gehen. Die ernsthafte Suche nach ihrer Berufung dauerte bis zur Gründung in Oberzell 1855. Äußerlich führte Antonia Werr die 14 Jahre währende Odyssee nach Belgien und Frankreich, zurück nach Würzburg und schließlich an 13 Orte in Unterfranken auf der Suche nach einem eigenen, neuen Ort. Begleitet wurde die Phase des Umbruchs und der Orientierung von innerer Unruhe, Krisen und Erschütterungen. Auf Anraten ihres damaligen Beichtvaters war Antonia Werr im Herbst 1845 zusammen mit anderen Würzburgerinnen ins belgische Namur gereist, um dort das Postulat bei den Schwestern vom Guten Hirten zu beginnen. Nach einem mehrwöchigen Praktikum begab sie sich weiter ins französische Angers, um sich auf die Noviziatsaufnahme vorzubereiten. Doch schon auf der Hinreise hatte sie das Gefühl, nicht am richtigen Ort zu sein. Nach brieflichem Austausch mit ihrem Beichtvater verließ sie das Mutterhaus der Guthirtinnen wieder und kehrte nach Würzburg zurück. Hier führte sie drei Jahre lang den Haushalt ihres Schwagers, nachdem auch ihre älteste Schwester Anna verstorben war. Die Bilanz der 32-jährigen Würzburgerin sah nüchtern aus: Ihre Eltern sowie alle fünf Schwestern waren bis 1846 gestorben. Übrig blieben lediglich die in der Geschwisterfolge unmittelbar vor ihr geborenen beiden Brüder Philipp und Franz Anton.
Riskanter Einsatz der gesamten Existenz
Nach dem Tod ihres Schwagers Karl von Gemmingen 1849 bezog Antonia Werr eine Wohnung in der Franziskanergasse, wo sie ihren Haushalt mit einem Dienstmädchen und einem Kätzchen teilte. Bei dem Dienstmädchen handelte es sich vermutlich um eine verarmte Jugendliche oder junge Frau. Werr nahm sie in ihre Wohnung auf, gab ihr privaten Unterricht und wurde von ihr im Gegenzug in der Haushaltsführung unterstützt. Möglicherweise bestärkten die Art und Weise, wie das Mädchen zu ihr kam und welche Vorgeschichte es hatte, Antonia Werr in ihrem Gründungsvorhaben. Mit ihrem Plan, eine Einrichtung für strafentlassene Frauen sowie eine neue religiöse Genossenschaft zu gründen, begab sie sich jedenfalls in große Unsicherheiten.
Der Entschluss, etwas Eigenes anzufangen, reifte bei Antonia Werr über mehrere Jahre hinweg: Im Oktober 1853 fuhr sie schließlich nach München, um im bayerischen Staatsministerium des Inneren das Gesuch einzureichen, eine „katholische Anstalt zur Besserung verwahrloster Personen des weiblichen Geschlechts“ zu gründen. Dazu wollte sie die Ruine Homburg auf dem Burkardusberg bei Marktheidenfeld am Main kaufen. Bei dieser Gelegenheit lernte sie den 17 Jahre älteren und zweimal verwitweten Staatsrat Freiherrn Maximilian von Pelkhoven (1796–1864) kennen. Die Begegnung zwischen den beiden Katholiken stellte den Beginn einer intensiven Korrespondenz und innigen Freundschaft dar. Fortan unterstützte Pelkhoven sie tatkräftig und umfassend in ihren Anliegen bis zu seinem Tod im September 1864. Während der elf Jahre währenden Freundschaft trafen sich beide nur noch fünfmal in Würzburg bzw. Oberzell, als Pelkhoven während seines Urlaubs oder auf der Durchreise nach Aschaffenburg Halt in Würzburg machte.
Erhalten ist die 205 Briefe umfassende Korrespondenz. Diese stellt eine wichtige Quelle dar, um die Anfänge der Kongregation rekonstruieren zu können. Antonia Werr konnte Maximilian von Pelkhoven in seiner fachlichen Kompetenz anfragen und gleichzeitig vertraulich mit ihm über ihre Zukunftspläne sprechen. In dem Laien Pelkhoven hatte sie einen Menschen getroffen, von dem sie sich angenommen und im Innersten verstanden fühlte: „[D]enn wahrlich, nie habe ich außer Ihnen einer Seele so viel Vertrauen geschenkt; nie aber auch ist mir Jemand entgegengekommen, der so sehr mit dem, was ich denke und fühle, übereinstimmte“.60 In einem ihrer ersten Briefe vom 19. November 1853 schrieb sie an ihn: „Was also die Gründung einer Anstalt betrifft, so steht dieselbe schon längst als […] Riesenwerk vor meiner Seele. […] Längere Zeit jedoch drängte ich solche Gedanken als Anmaßungen zurück; doch sie kamen immer wieder, und erst die öfters ausgesprochenen Wünsche Anderer, daß ich etwas derartiges anfangen sollte, verscheuchten nach und nach meine Zaghaftigkeit.“61
Als Motivation für ihr Unternehmen versicherte Werr im selben Brief weiter, „daß mich im Allgemeinen keine irdischen Vortheile noch Absichten locken; denn das Ganze hat keine, und am wenigsten für mich, indem ich jetzt leben kann, wie ich will, mein eigener Herr bin“.62 Trotz schwächlicher Gesundheit, Entbehrungen bei Kälte und karger Nahrung, geringem Vermögen und kleiner Rente hatte sie keine Schulden und war „bis jetzt doch immer mit Gottes Hülfe durchgekommen“.63 Mit ihrem Vorhaben riskiere sie dagegen ihre finanzielle Absicherung und gab Privilegien wie Selbstständigkeit und Unabhängigkeit auf, die ihr als allein stehende Frau in der Lebensmitte wichtig geworden waren. Sollte sie mit ihrem Unternehmen scheitern, hätte Werr sich unter Umständen Schulden aufgeladen, ihre Rente gefährdet, ihre ohnehin labile Gesundheit ruiniert und ihren guten Ruf verloren. Werr machte sich keine Illusionen darüber, dass sich ihr Projekt möglicherweise zum Nachteil auf ihre gesamte Existenz auswirken könnte. Den Mut, dennoch initiativ zu werden, begründete sie mit ihrer religiösen Motivation und der Aussicht, sich einst vor Gott verantworten zu müssen.
Бесплатный фрагмент закончился.