Читать книгу: «Nochmal tanzen», страница 2

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Lehrerin Wehrli rollt den Fernseher ins Schulzimmer. Ohne aufzusehen, sagt sie: «Michael und Cleophea, würden Sie bitte die Jalousien herunterlassen?» Die beiden stehen auf und ziehen an den Gurten, bis die Sonne ausgesperrt ist. Wehrli erläutert die Aufgabe: Den Gesprächsverlauf notieren und danach über eine der aufgeworfenen Fragen einen Aufsatz schreiben. Benotet wird beides.

Fleur protokolliert: «Thema Sterbehilfe, Diskussionssendung mit TV-Moderator, Psychiater, Chefarzt, Leiter Sterbehilfeorganisation EX, reformierter Theologe, Modedesignerin». Sie schüttelt ihre Rechte und schreibt weiter. «Ich hatte noch nie einen Patienten, für den ich Selbstmord als Lösung in Betracht zog», sagt der Psychiater. Sie möchte einwenden, über Selbstmord entscheide nicht er, sondern der Patient, doch sie überhört, was der Leiter der Sterbehilfeorganisation entgegnet. Nicht denken jetzt, notieren. «Chefarzt: ‹dank neuster Medikamente müssen Todkranke nicht mehr leiden, deshalb lehne ich Suizidhilfe ab. Ich plädiere für Pali ... ›», Fleur schaut fragend zur Deutschlehrerin. Diese beugt sich über ein Heft. Fleur notiert: «Modedesignerin widerspricht. Ihr Partner habe drei Jahre im Spital gelegen, Lungenmaschine, Schmerzen trotz Morphium, Atemnot. Eine Qual, auch für sie. Deshalb sei sie der Sterbehilfeorganisation beigetreten. Sie wolle selber entscheiden, wann genug gelebt sei. Das sei ihr freier Wille. Der Theologe fällt ihr ins Wort. Den freien Willen gebe es nicht. Der Wille werde von der Gesellschaft beeinflusst. Die Freiheit sei Gott. Fleur denkt an den Brief in der Klosterkirche. Ein Gott, der straft, Gebote erlässt und Verzweifelte im Stich lässt, soll Freiheit bedeuten. Der Ex-Leiter sagt: «Jeden Tag bringen sich in der Schweiz vier Menschen um. Im Jahr sind das 1300 Menschen. Dazu kommen 6000, die versuchen, sich das Leben zu nehmen, und dabei scheitern. Viele dieser Versuche haben Behinderungen zur Folge.» Ihr fällt die Schülerin ein, die sich von der Schulterrasse im fünften Stock gestürzt hatte, als Fleur noch in der Probezeit war. Sie weiß nicht, warum die Schülerin sterben wollte. Der Druck sei zu groß, schrieb die Schülervertreterin damals in einem offenen Brief an den Rektor. Seither ist die Terrasse geschlossen.

Fleur hat den Psychiater versäumt. Diesmal ist es ihr egal, die Männer wiederholen sich. Die Modedesignerin schweigt. Warum meldet sie sich nicht zu Wort, sie müsste doch widersprechen, jetzt, wo der Chefarzt sagt: «Wer sich umbringen will, kann das auch ohne EX tun.» Michael hat Fleur erzählt, den Lokführern werde in der Ausbildung beigebracht, zu hupen, wenn sich ein Selbstmörder auf dem Gleis befinde. Danach kehren sie der Fahrtrichtung den Rücken zu, um das Sterben nicht zu sehen. «Wie soll sich ein Zerebralgelähmter, der ohne Hilfe nicht einmal seine Blase leeren kann, das Leben nehmen?», fragt der Leiter von EX. Fleur horcht auf. Nicht einmal die Blase leeren. Grosi haben sie Windeln angezogen. Bei Fleurs letztem Besuch lag sie auf dem Rücken im Bett und hielt einen Teddy im rechten Arm. Mutter sagte: «Schau, Floriana hat sich Zeit genommen, dich zu besuchen!» Großmutter war die Einzige, die Fleur Floriana nennen durfte. Sie legte ihre Wange an den Bären und streifte Fleur mit den Augen. «Was will die», sagte sie. Fleur trat an die seitliche Bettkante. «Ich bins, Grosi.» Großmutter wandte das Gesicht ab. «Sie ist deine Enkelin», sagte Mutter. Großmutter presste den Teddy mit beiden Armen an sich, bis der Körper knackte. Fleur entfernte sich, betrachtete Grosi von der Tür aus. Das war nicht die Frau, mit der sie Kekse ausgestochen hatte. Die mehr Gedichte auswendig konnte als sie. Die «Lass meine Floriana in Ruhe» geschrien hatte, als Fleur, noch ein Kind, am See von einem Schwan angefaucht worden war. Wo ist sie hin?

Großvater verschwand von einem Tag auf den anderen. Er verließ frisch pensioniert das Haus, um in der Badeanstalt einen Jass zu klopfen. Grosi habe er unter der Tür zugerufen, er komme nicht zum Mittagessen. In der Badeanstalt habe er die Karten verteilt und sei mit der Entschuldigung, er fühle sich schlecht, auf die Toilette gegangen. Als einer der Männer nach einer Weile nachsah, wo Großvater blieb, lag er tot in der Kabine. «Ein schöner Tod», sagte Mutter und weinte.

Fleur überlegt, was sie im Aufsatz schreiben soll. Warum finden es die Experten am Fernsehen so schlimm, dass Menschen anderen helfen, sich schmerzlos zu töten? Sie findet es viel schlimmer, dass mehr als vier Menschen pro Tag das Leben nicht aushalten. Nicht mehr können. Wie M.S. und der Schüler, der sich vor den Zug warf, weil herausgekommen war, dass er Geld aus der Klassenkasse genommen hatte.

Fleur schreibt «freier Wille» oben aufs Blatt. Dieser Theologe und das «Geschenk des Lebens». Ein Geschenk kann man ablehnen. Das Leben wird einem aufgezwungen. Die Eltern werfen einen in die Welt und erwarten erst noch Dankbarkeit dafür. Ist man einmal da, muss man aufstehen, essen, lernen. Jeden Tag aufstehen, essen, lernen. Nur Tote sind frei. Es müsste Geschenk des Todes heißen.

Das kann sie nicht schreiben. Sie will nicht, dass die Deutschlehrerin ihre Gedanken liest.

Alice setzt sich mit Zeichenstift und Papier in die Küche. Am Radio spielen die Berliner Philharmoniker eine Sonate von Chopin. Was soll sie zeichnen? Der Sprung in der Suppenschüssel fällt ihr ins Auge. Sie sollte die Schüssel nicht mehr verwenden. Nicht dass das letzte Erinnerungsstück an die Großmutter zerbricht. Sie zeichnet eine Frau mit Schürze, zu deren Füßen Scherben liegen. An der Tür klingelt es. Hat ein Nachbar den Schlüssel vergessen? Beim zweiten Mal fällt ihr ein, dass sie zum Kaffee eingeladen hat.

«Bist du krank?», fragt Elsa zur Begrüßung und deutet mit dem Kopf auf Alice’ Trainerhose. «Nein, ich bin am Zeichnen. Kommt rein, ich ziehe mich schnell um.» Vom Schlafzimmer aus hört sie Susanne sagen: «Alice wird schrullig. Sie zeichnet zerbrochenes Geschirr.» Alice knöpft die Bluse zu und gesellt sich zu den Frauen. «Ich bin eigenwillig, schrullig sind Alte. Kaffee wie immer?» Sie nicken.

Alice füllt den Kaffeefilter und legt Geschirr, Zucker, Milch und Butterherzen auf ein Tablett. Beim Auftragen hört sie Elsa «Hirnschlag» und Britt «Jesses» sagen. Elsa wiederholt für Alice: «Frau Hitz. Ihr Mann ist gestern Abend zu mir gekommen. Sie ist halbseitig gelähmt.» Alice versucht sich zu erinnern, wer Frau Hitz ist. «Die Frau mit den Blumenschals?» Elsa bejaht. Einen Moment lang ist nur das Blubbern des Kaffees in der Küche zu hören. Alice verteilt die Tassen. Fast bei jedem Treffen erzählt eine der Frauen von jemandem, der erkrankt, verunfallt, gestorben ist.

Susanne lenkt das Gespräch auf den Handlesekurs, den sie besucht. Alice geht in die Küche. «Ich kann schon Charakterzüge erkennen», sagt Susanne. «Solange du nicht mein Schicksal voraussagst, kannst du erzählen, was du willst», bemerkt Elsa. Ein typischer Elsa-Satz. «Ich will nicht leiden», hat Alice von ihr schon vernommen und «außer Krankheiten erwarte ich nichts mehr Neues». Sie bringt den Kaffee ins Wohnzimmer und schenkt ein. Susanne sagt zu Elsa: «Du erfährst deine Zukunft im Fernsehprogramm von nächster Woche.» Elsa bricht in Gelächter aus. Alice, Britt und Susanne stimmen ein. Britt lacht mit den Brüsten, Elsa von Mund- zu Augenwinkeln, Susanne mit trockenen Lauten. Ihre Haut bleibt ernst.

Zu Zeiten des Balleros kannte Alice außer Britt niemanden im Dorf. Sie war nur zum Schlafen hier. Nach dem Verkauf meldete sie sich fürs Seniorenturnen an, um Anschluss zu finden. Trotzdem machte sie sich nach dem Unterricht auf den Heimweg, während die anderen Teilnehmerinnen in der Dorfkneipe den Durst löschten. Sie wusste nicht, ob sie willkommen war. Die anderen schienen sich seit langem zu kennen. Eines Tages gab sie sich einen Schubs und ging mit. Seither denkt sie Turnen und Trinken zusammen.

Susanne kramt in ihrer Handtasche und zieht die Lippen nach. Alice sieht ihr zu. Gefällt sich Susanne? Ihr Mund ist wulstiger als der von anderen Frauen ihres Alters, das Kinn kleiner, die Stirn glatter, die Bäckchen sind runder, die Mundwinkel gerader. Martin hatte einmal bemerkt, das chirurgische Anlitz des Alters sei zwar faltenlos, habe aber verräterische Proportionen.

«Hast du etwas von Martin gehört?», fragt Britt.

«Ja. Es geht ihm gut.»

«Ich würde sterben vor Heimweh», sagt Britt. «Was macht Martins Freund schon wieder?»

«Pong und Martin führen in einem Dorf im Nordosten von Thailand einen Tante-Emma-Laden», sagt Alice.

«Wo genau?», fragt Susanne.

«Ich kann mir den Namen der Ortschaft nicht merken. Vielleicht weiß ich ihn nach meinem Besuch. Ich habe vor, Martin im November zu besuchen.» Die drei Frauen schauen sie an. «Dass du den Mut hast, so weit zu reisen», sagt Elsa. Alice entgegnet nichts. Sie ist nicht mutig. Sie will Martin sehen. «Wie gehts dir, Elsa? Schläfst du besser?», fragt sie.

«Ja. Ich gehe später zu Bett. Ich habe eine neue Serie entdeckt, die um halb elf Uhr ausgestrahlt wird, eine französische. Sie spielt in einem Restaurant. Ein Koch, eine Kellnerin, ein paar Stammgäste und in jeder Folge ein Unbekannter, der für Aufregung sorgt. Ganz nach meinem Geschmack.»

«Kannst du so gut Französisch?», fragt Susanne. «Ich möchte meines seit langem auffrischen. Aber ich komme zu nichts.»

«Was machst du denn die ganze Zeit?»

«Momentan miste ich das Haus aus.»

«Ziehst du um?», fragt Alice.

«Nein, wo denkst du hin. Ich räume auf, damit die Kinder es nach meinem Tod nicht tun müssen.»

«Wenn ich mir vorstelle, dass meine Tochter meine Stoffe und Schnittmuster fortwirft», Britt beendet den Satz nicht.

«Vermache sie dem Tanzclub», sagt Alice schnell, um eine Tirade ihrer ehemaligen Kostümschneiderin abzuwenden.

Fleur verstaut die Schultasche in ihrem Schließfach und überlegt, wo sie essen soll. Früher aß sie mit Sarah zu Mittag. Bei schönem Wetter am See oder im Park hinter der Kantine, bei Regen auf einer Fensterbank im Schulhaus. Sie blödelten herum, machten Hausaufgaben oder dösten. «Hallo Fleur, machst du mit uns Mittagspause?», fragen Manu und Lis von der Parallelklasse.

«Gerne. Wohin geht ihr?»

«Ich möchte bummeln», sagt Manu. «Lass uns auf dem Weg ein Sandwich essen.»

«Ich habe kein Geld, komme aber mit.» Lis schaut Fleur fragend an.

«Ist gut.» Außer wenn sie zwei Stunden Mittagspause hat, kommt Fleur nicht zum Bummeln. Manchmal fragt ihre Mutter an einem Samstag, ob sie zusammen in die Stadt gingen, aber es kommt ihr albern vor, mit der Mutter Kleider auszusuchen. Wie sie «Das würde dir stehen» oder «Ist das nicht zu bunt für mich?» sagt. Wie sie vor dem Spiegel steht, die Hände in die Taille stützt, sich mustert. Das Gesicht, mit dem sie die Verkäuferin ruft. Mutter weiß, dass ihr Buntes steht, warum fragt sie. Zu Fleurs weißer Haut und den roten Haaren passen nur Schwarz und Weiß.

Am Fuß des Schulhügels kaufen sie Sandwiches und fahren ins Stadtzentrum. Im Tram kommentiert Manu laut das Aussehen von Passantinnen. Eine mit viel Make-up deckt sie ein mit «Wo weniger drin ist, ist mehr drauf». Über eine Geliftete am Gehstock spöttelt sie «Mein Mann geht jetzt mit einer Jungen aus – mit mir». Mit einem Ruck steht sie auf, stolziert durch den Wagen, als wäre er ein Laufsteg. Manu und ihre Parodien. Keine im Theaterclub ist lustiger. Alle kennen Manu. Und wer Manu kennt, kennt Lis, die Freundin, die sich um Bühnenbild, Requisiten und Kostüme kümmert. Lis, die weiß, was in Secondhand-Läden und Brockenhäusern zu finden ist, und einen Grafiker zum Freund hat, der schon 23 Jahre alt ist.

Die Passagiere beobachten Manu aus den Augenwinkeln, nur ein Kind dreht sich nach ihnen um. Hätte Fleur doch die Kamera nicht in der Schule gelassen. In Begleitung von Manu und Lis würde sie sich trauen, in der Umkleidekabine zu fotografieren. Mit Sarah ging sie einmal in ein Fünfsternehotel. Sarah posierte am Frisiertisch in der Toilette, im Lift, im Flur. Alleine hätte Fleur nicht einmal den Mut gehabt, hineinzugehen.

Im Laden dirigiert Lis Manu und Fleur in eine Ecke mit Kleidern aus großblumigen Stoffen. Fleur hält sich eine Tunika vor den Oberkörper und schaut in den Spiegel. Zu Sarahs Schneewittchenhaar sähe sie hübsch aus, aber an ihr? Sie hängt die Tunika zurück und durchstöbert die T-Shirts. Ein weißes mit Rüschen ums Décolleté gefällt ihr. Lis zeigt auf ein Jeanskleid: «Das sähe an dir super aus.»

Fleur mustert es. «Meinst du?».

«Ich würde es mit Häkelsocken kombinieren», sagt sie. Fleur weiß nicht, wie sie Lis verstehen soll. Ist sie schlecht angezogen, dass sie ihr Tipps gibt? Oder tut sie es, weil ihr Fleurs Stil gefällt? Sie hängt das Kleid über den Arm und schnappt sich auf dem Weg zur Umkleidekabine eine kurzärmlige schwarze Bluse.

Die Bluse ist zu kurz. Schnell zieht Fleur sie aus. Im Jeanskleid tritt sie mit einem «Typisch, wenn ich einmal shoppen will, passt mir nichts» zu Lis heraus. Das Kleid schlottert ihr um die Brust, am Po sitzt es perfekt. Lis zupft daran. «Schade. Abnäher sind schwierig zu machen, so gut bin ich nicht im Nähen», sagt sie. «Zieh doch einen gepolsterten BH an», rät Manu, die sich in einer paillettenbesetzten Jacke zu ihnen gesellt. Fleur käme sich lächerlich vor mit ausgestopftem Busen. Wenigstens passt das weiße T-Shirt.

«Hi Girls.» Pascal legt Manu und Lis im Tram je eine Hand auf die Schulter. «Was Schönes gekauft?», fragt er mit einer Kopfbewegung Richtung Manus Einkaufstüte. «Eine Paillettenjacke.» Fleur überlegt, ob sie etwas sagen soll. Sie kennt Pascal nur vom Sehen – wie alle, die das letzte Stück des Theaterclubs gesehen haben. «Ihr kennt euch, oder?», fragt Lis. Bevor Fleur antworten kann, sagt Pascal: «Du hast doch die letzte Vorstellung fotografiert.» Sie nickt. «Mit einem der Bilder habe ich mich an der Schauspielschule beworben.» Er schaut sie freundlich an. Sie bringt nur «Wirklich?» heraus.

Im Geografieunterricht spukt ihr die Szene wieder und wieder durch den Kopf. Sie wälzt Sätze, mit denen sie hätte reagieren können. Mit einer Frage zur Schauspielprüfung oder mit «Ich hoffe, meine Fotos bringen dir Glück».

4

Noch zwei. Alice legt die Beine aufs Bett. Ihre Bauchmuskeln brennen. Jetzt noch die Oberschenkel. Sie steht auf, geht in die Hocke, zählt bis acht. Es ist jeden Morgen dasselbe. Erst hat sie keine Lust auf Gymnastik. Nur eine Übung, überredet sie sich, du musst nicht alle machen. Und dann turnt sie eine halbe Stunde. Sie schlüpft in die Hausschuhe, setzt Wasser auf und schaltet den Computer ein. Martin hat geschrieben.

Liebe Alice

Wie geht es Dir heute? Hat sich der Mann vom Radio gemeldet? Ich habe mir aus Neugier im Internet alte Wunschkonzerte angehört. Wie schön, Deine Stimme zu hören! Ich versuche mir vorzustellen, wie Du am Küchentisch sitzt, zeichnest und lauschst, aber es gelingt mir nicht. Du und still sitzen. Ich sehe Dich tanzen. Das Studio wischen mit energischen Schritten. Nicht einmal schlendernd habe ich Dich in Erinnerung. Und nun sollst Du in meinem Kopf tun, was nur Alte tun: Wunschkonzert hören und der Welt übers Radio mitteilen, dass es einen noch gibt. Sind wir so alt, Alice?

Ich fühle mich uralt. Die Hitze schafft mich. Nachmittags hänge ich mit Pong auf der Teakbank hinter der Theke und lasse mich vom Ventilator anblasen. Gestern wirbelte er Erinnerungen an Salsanächte auf. Kleider klebten an Rücken, Füße rutschten in Schuhen, Gesichter glühten. Ich wollte Pong davon erzählen, ließ es aber bleiben. Er verstünde nicht. Nicht nur, weil ich mäßig Thai und er mäßig Englisch spricht, sondern weil hier Latinmusic nicht populär ist. Menschen mit lateinischem Temperament gelten als ungehobelt. Kürzlich hat mir eine Kundin gesagt, Italiener seien unzivilisiert, hätten keine Kultur. Weißt Du, weshalb? Weil sie gestikulieren beim Reden und laut sind. Thais sprechen sogar leise, wenn sie im Restaurant nach der Bedienung rufen.

Mein altes Leben ist weg. Ich kann es nicht mitteilen. Pong und seine Familie können sich ein Leben in Europa nicht vorstellen. Pongs Welt hat den Radius seines Ladens, erweitert durch die Wohnzimmer seiner Familie, durch ausländische Filme und thailändische Fernsehserien. Darin kommt die Schweiz in zwei Einstellungen vor: Matterhorn und Kirche von Meggen (die ich zuvor noch nie gesehen habe). Am Anfang unserer Beziehung habe ich den Leuten Fotos meiner Wohnung gezeigt, von unserem Tanzstudio, von Auftritten. Sie schlossen daraus, ich sei reich. Sie sahen in meiner Einrichtung die Ausstattung einer amerikanischen tv-Soap. Weil mir das unangenehm ist, zeige ich die Bilder nicht mehr.

Pong hat Angst vor einer Reise in die Schweiz. Die Kälte, das Essen, das Geld, die Sprache. Ihm bekomme Brot nicht, sagt er (die Thais meinen, wir essen hauptsächlich Brot). Inzwischen glaube auch ich, dass er sich in Europa nicht wohl fühlen würde.

Auf einmal macht es mir etwas aus, weit weg zu sein von meiner Vergangenheit. Ich werde hier, umgeben von Reissäcken, Kokosmilchbüchsen und Curryduft sterben. Wenn ich Glück habe, auf der Teakbank hinter der Theke und nicht im Krankenhaus. Der Fernseher wird eingeschaltet sein, eine samtene Männerstimme für Puder werben, das Wort «sabai» (Wohlgefühl) wird fallen. Vielleicht ruft jemand nach mir, weil er Mückengift kaufen möchte. Der Ventilator kühlt meine kalte Stirn, Pong ruft einen Arzt, putzt und weint. Und ich?

Zum Glück lebe ich in einem buddhistischen Land. Hier kann ich nicht in die Hölle kommen. Mir blüht höchstens ein weiteres Leben. Vielleicht als Ameise, vielleicht als Mönch. Oder als Tanzbär.

Alice, Du fehlst mir. Dir müsste ich nicht erklären, warum ich nicht zur Beerdigung meines Vaters gegangen bin. Hier bin ich deswegen ein Rabensohn. Thais haben kein Verständnis dafür, dass man sich nicht um die Verwandten kümmert. Uns besuchen fast täglich Pongs Neffen, Cousinen oder Geschwister.

Meine Liebe, fast hätte ich das Beste vergessen. Vor ein paar Tagen hat mir ein junger Kunde begeistert von einer Tanzparade erzählt. Das scheint so etwas zu sein wie unsere Idee von der walzernden Stadt. Schade, haben wir die Idee nicht verwirklicht.

So, jetzt muss ich abstauben im Laden. Lass mich wissen, wie es mit diesem Mann weitergeht.

Ich drücke Dich

Dein Martin

Alice stellt sich unter die Dusche und lässt Wasser über den Kopf laufen. Die tanzende Stadt. Paare walzern durch die Straßen, werden zum Fluss, der im Dreivierteltakt auf die Plätze strömt und die Passanten mitreißt. Menschen schwemmen aus Häusern, treiben im Kreis. Das Drehen macht sie schwindlig, doch sie fallen nicht, sie heben ab. Niemand kann sich dem Sog der Körper entziehen. Trams und Autos stehen still, weil ihnen tanzende Paare den Weg abschneiden und dabei selbstvergessen lachen. Selbst die Zuschauer, die sich den Tanzschritten verweigern, wippen mit Köpfen und Füßen, bis sich die Tänzer langsamer drehen, sich erschöpft auf den Asphalt sinken lassen und in den Himmel blicken. Alice bürstet ihre Haut. Sie wellt sich unter dem Druck. Ja, Martin, wir sind alt.

Nach der Morgentoilette schenkt sie sich Tee ein und setzt sich mit der Tasse an den Computer.

Lieber Tanzbär

Ob wir alt sind? Natürlich, nach so langer Zeit. Immerhin kennen wir uns schon über fünfzig Jahre! Auf dem frühsten Bild, das ich von Dir im Kopf habe, presst Du die Lippen zusammen und schaust an mir vorbei zu Boden. Das muss in einer der ersten Wochen des Tanzkurses gewesen sein. Du schobest mich herum, ich zählte die Takte. Waren wir das, Martin?

Schaue ich zurück, bist Du fast immer dabei. Mit niemandem habe ich so viel Zeit verbracht wie mit Dir, niemandem habe ich so viel erzählt. Von Dir weiß ich, wie ein Mann denkt und fühlt. Ich erinnere mich an Deinen ersten Risotto und an Deine Wut, weil wir an internationalen Turnieren als Provinzler belächelt wurden. Ich spüre noch, wie Du unter der Verachtung Deines Vaters gelitten hast. Unsere Panik vor dem Versagen ist Gott sei Dank weit weg.

Mein Körper ist nicht mehr der alte. Neulich habe ich mir den Nacken überstreckt, weil ich nicht einsehen wollte, dass ich mir selbst nicht mehr über die Schulter schauen kann. Irgendetwas tut immer weh. Mit Glück vergehen die Schmerzen nach der Gymnastik, manchmal begleiten sie mich tagelang. Der Arzt sagt, es handle sich um Abnützungserscheinungen. Solange es nur das ist. Anderen versagt der Kopf.

Im Haus gegenüber ist von einem Tag auf den andern eine Bewohnerin verschwunden. Letzte Woche sah ich einen Umzugswagen vor dem Haus. Junge Männer luden ein Bett samt Decke, eine Kommode und ein paar Taschen ein. Ich dachte, ein Untermieter ziehe aus oder jemand entsorge alte Sachen. Ich brachte den Wagen nicht in Verbindung mit der alten Nachbarin, die ich ab und zu am Küchenfenster sehe – sah, wie ich jetzt weiß. Die Vorhänge sind weg, und aus der Küche pfeift eine Malerin.

Ich nehme an, die Nachbarin ist in ein Heim gezogen. Ist sie noch einmal durch die Räume gegangen, bevor sie ins Auto gestiegen ist? Ist sie erleichtert, nicht mehr so viele Treppen steigen zu müssen? Oh Martin, obwohl ich denke, dass im Heim wohnen angenehme Seiten hat, graut es mir davor. Aufstehen müssen, wann es die Hausordnung vorsieht. Essen, was andere für mich kochen. Mit Menschen am Tisch sitzen, die sabbern. Die mir unsympathisch sind. Ich hoffe, es kommt nicht so weit.

Du wunderst Dich, dass ich es ruhiger nehme. Es bleibt mir nichts anderes übrig. Seit ich nirgends mehr aushelfe, gibt es nichts mehr, das mich auf Trab hält. Da wäre Platz für einen wie Alexander.

Sie schaut hinaus. Im Küchenfenster der weggezogenen Nachbarin spiegelt sich ihr Fenster. Auf dem Vogelbeerbaum hüpfen Vögel über die Äste.

Habe ich Dir schon von Elsa und Susanne erzählt, mit denen Britt und ich ab und zu Kaffee trinken? Ich kenne sie vom Seniorenturnen. Elsa war früher Köchin im «Sternen», dem Gasthof im Dorfzentrum. Dank ihr hat sich meine Rezeptsammlung um ein paar Köstlichkeiten erweitert. Rindsröllchen mit Randen und Meerrettich gefüllt, Auberginen an Granatapfelsauce, Erbsenpüree mit Pfefferminze. Susanne ist mit einem ehemaligen Direktor verheiratet, lebt in einem großen Haus und ist immer auf Trab. Einladungen geben, Kurse besuchen, einer Nachbarin bei der Administration helfen, Enkel hüten, Coiffeur, Pédicure, Manicure, Lifting. Es ist eigenartig. Ihre Haare und die Stirn sind die einer jungen Frau, ihr Gang, ihr Denken, Stimme und Hände die einer alten. Als sie letztes Mal bei mir zum Kaffee war, mussten Britt und ich ihr helfen, vom Sofa aufzustehen. Britt lässt Dich übrigens grüßen.

Du siehst, mein Leben ist zum Wunschprogramm geworden. Manchmal fällt mir nichts ein, das ich wünschen könnte. Ich sage mir, «Der Schrank müsste wieder einmal herausgeputzt werden» oder «Du wolltest schon lange einmal ins Textilmuseum». Statt etwas zu tun, sitze ich da, sitze und warte darauf, dass etwas geschieht. Aber es geschieht nichts.

Ich bewege mich zwischen Dorfzentrum, Küche, Wohnzimmer und Balkon. Im Dorfzentrum schwatze ich mit der Verkäuferin, in der Küche sehe ich zu den Nachbarn hinüber, vom Wohn- und Arbeitszimmer auf den Vogelbeerbaum. Die beste Sicht aufs Leben habe ich vom Balkon aus. Ich sehe die Katzen. Die Nachbarinnen. Spaziergänger, Autos, Vögel.

Die Katzen sitzen und warten den ganzen Tag. Ob sie wissen, worauf? Wenn die Nachbarinnen sie streicheln, reden sie mit ihnen. Ich höre nicht, was sie sagen. Aber sie reden. Immer. Kann man streicheln ohne Worte? Zur Straße hin balancieren kleine Kinder an der Hand von Großvätern und Großmüttern auf einem Mäuerchen. Die größeren rennen ihnen voraus oder bummeln hinterher. Auf dem Dachfirst gegenüber trippeln Krähen und beäugen die Rotkehlchen und Drosseln im Vogelbeerbaum. Inzwischen kann ich das Zwitschern der Vögel unterscheiden. Ich höre, wann sich eine Katze anpirscht. Da staunst Du, nicht?

Du schreibst vom Tod. Warum auf einmal? Mir fällt es schwer, das Wort in Verbindung mit Dir zu gebrauchen. Als würde ich ihn damit anlocken. Er muss fernbleiben, Martin! Unvorstellbar, plötzlich nichts mehr von Dir zu hören. Bitte sag Pong, er soll mich benachrichtigen, wenn Dir etwas zustößt. Schrecklich, die Vorstellung. Schrecklicher als mein Tod. Stirbst Du, fehlst Du. Sterbe ich, hebt sich alles auf. Das Erdenkliche, das Erdenkende. Aber ich will noch nicht. Da muss noch etwas kommen.

Dass Du in Buddhas Gebiet nicht in die Hölle geschickt wirst, ist einerseits beruhigend. Andererseits entgehen Dir die nackten Männer dort. Na ja, vielleicht ist Ameisensex auch reizvoll. Ach Martin, lass uns das Leben anlocken und den Curry genießen, so gut und so lange wir können!

Herzlich

Deine Alice

PS: Welches sind die Bedingungen, um als Katze wiedergeboren zu werden?

Sie schickt die Nachricht ab und lehnt sich zurück. Und jetzt? Der Dachfirst ist leer. Sie steht auf, geht zum Telefon und wählt die Nummer der Radiostation. «Ich habe Ihnen einen Brief geschickt mit der Bitte, ihn an den Hörer Alexander Seibt weiterzuleiten. Da ich nichts von ihm gehört habe, wollte ich mich erkundigen, ob Sie ihm den Brief weiterleiten konnten.» Ihr Atem reicht fast nicht für alle Worte. «Ich habe gehofft, dass Sie anrufen», sagt die Redaktorin freundlich. «Herr Seibt bat mich, Ihnen seine Telefonnummer zu geben. Haben Sie etwas zum Notieren zur Hand?» Alice eilt in die Küche und schnappt sich den Kugelschreiber, der neben der Einkaufsliste liegt. Die Nummer gerät groß und krakelig unter «Magerquark». Sie wiederholt sie zwei Mal, um sicherzugehen, dass sie sich nicht verschrieben hat. Bevor sie den Hörer auflegt, bittet die Redaktorin um Nachricht, falls sie Alexander treffe. «Das wäre eine wunderbare Geschichte.»

Fleur hastet durch die Bahnhofshalle. Immer diese Leute. Hetzen, rempeln, jämmerlich, die Menschen. Immer muss sie aufpassen, dass niemand in sie hineinläuft. Immer schneidet ihr jemand den Weg ab, zwingen Rollkoffer sie zum Ausweichen. Jeden Tag das Gleiche. Wenn sie einmal auszieht von zu Hause, wird sie in der Stadt wohnen und nie mehr pendeln. Schnaufend erreicht sie den Zug und lässt sich auf eine Viererbank plumpsen. Auf dem Bahnsteig pressen Menschen Taschen an den Körper und rennen.

Der Zug fährt an. Sie nimmt das Vokabelheft aus der Mappe. Mit der Hand über dem deutschen Teil formt sie mit Zunge und Lippen die französischen Begriffe. «Dot, Mouchard.» Sie überlegt. Sartre, Les jeux sont faits. Das eine heißt Mitgift, das andere Spitzel. Sie deckt auf. «Dot» ist die Mitgift. Kurz wie Eve. Die Mitgift von Eve, die von ihrem Mann vergiftet wird. Der Mouchard ist verantwortlich für den Mord an Pierre. Pierre steht danach auf, als wäre nichts gewesen. Erst als ihm die Beamtin mit Blick ins Sterberegister sagt: «Sie sind heute Morgen um 10.35 Uhr getötet worden», begreift er, warum seit einiger Zeit niemand reagiert, wenn er etwas sagt oder tut. Pierre ist unsichtbar geworden. Er sieht die Lebenden neben sich auf dem Trottoir, hört ihre Gespräche im Café, kann aber einen Taschendieb nicht vom Klauen abhalten. Fleur starrt auf die wippenden Füße eines Pendlers. Um Pierre tummeln sich Tote aus allen Epochen. Was, wenn die Straßen, Plätze und Züge voll sind? Wohin mit den Toten, wenn sich schon die Lebenden drängeln? Die Welt müsste größer werden mit den Jahren. Oder ziehen sich die Verstorbenen in Gegenden zurück, wo es mehr Platz gibt? Tote auf Bergen, in Wüsten, im Wald. Sie streifen umher, beobachten den Sonnenverlauf, Murmeltiere oder Löwenkinder, legen sich ins Moos oder in den Sand. Sie müssen nichts leisten, sich nicht vergleichen lassen und sich nicht vorwerfen, nichts gegen das Elend auf der Welt zu tun. Sie brauchen keine Noten, kein Geld. Sie frieren nicht, haben keine Eltern, die Sorgen machen, keine Angst. Ihnen kann nichts passieren. Dieses ewige Wippen. Fleur würde sich als Tote zuerst Paris ansehen, dann die rote Wüste. Sie würde fotografieren, Sprachen lernen, Filme anschauen, lesen. Sie hätte Freunde und einen Freund.

Sie reißt sich von den wippenden Füßen und ihren Gedanken los. «Purgatoire – Fegefeuer, Vorhölle.» Nackte, gequälte Leiber, die mit verzerrten Gesichtern Maria anflehen. Ihr Mathelehrer sollte dort schmoren. Sartre hat Recht: Die Hölle, das sind die anderen.

Sie blättert um. «Darf ich Sie freundlich bitten, die besten Grüße, die ich Ihnen entbiete, anzunehmen.» Geschäftsbrief höflich, im Buch oben rechts. «Veuillez» und dann? Diese Floskeln. Muss man in der Arbeitswelt wirklich so schreiben und reden? Die Sprache von Sartre, Malraux, Ionesco ist ihr näher. Ihre Fragen gehen sie etwas an. Was macht das Menschsein aus? Wofür lohnt es sich zu leben? Was ist wahr? Was Freiheit? Fleur versucht sich an die Übersetzung von «entbiete» zu erinnern.

«Gib mir die Tasche. Gib mir die Tasche, habe ich gesagt!»

Sie schaut auf. Jeans, Tunika mit Blumenmuster, das gefärbte Haar streng zum Hinterkopf gekämmt.

«Sei anständig Papi, sonst steigen wir aus.»

Ein groß gewachsener alter Mann im Anzug setzt sich mit «Äxgüsi die Dame, Sie erlauben» neben Fleur ans Fenster.

«Ich habe dir gesagt, du sollst anständig sein», zischt die Frau über Fleur hinweg zum Mann.

«Wir könnten wieder einmal das Schiff nehmen», sagt er mit Blick aus dem Fenster.

«Wir fahren nach Hause.»

«Aber ich möchte Schiff fahren.»

Die Frau schlägt die Beine übereinander, schaut durchs gegenüberliegende Fenster hinaus.

«Jetzt weiß ich, wo wir hinfahren. Noch zwei Stationen, dann sind wir zu Hause.»

Die Frau schaut noch immer weg.

«Du, ich habe eine Idee, wir könnten im ‹Grütli› in Batzikon einkehren», sagt der Mann.

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9783857919169
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