Читать книгу: «Die unverhoffte Genesung der Schildkröte», страница 3

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Kapitel drei

Die Polizeireporterin gähnte. Es hatte einen Mord gegeben. Eine halbe Stunde nach Redaktionsschluss. Oder fünfzehn Minuten vor Chopsuey, wie sie quäkend lamentierte. »Ich stand schon vor der verdammten Theke, als dieses Scheißdiensthandy meinte, bimmeln zu müssen.«

Paul Gram unterdrückte ein Schmunzeln. Er lümmelte in seinem Stuhl, die langen Haxen unter dem Konferenztisch ausgestreckt, wirbelte seinen Lieblingsstift von Finger zu Finger und starrte die Sitznachbarin ununterbrochen an, um herauszufinden, ob er sie, die Motzende, irgendwie aus dem Konzept bringen könnte, vielleicht sogar zum Lachen.

Kampfzwerg lautete in der Redaktion der heimliche Spitzname der sehr kleinen, sehr zierlichen Gestalt Ende vierzig, die rumpeln konnte wie eine Dampflok. Ihre dunklen Locken schleuderten dann hin und her wie Pogotänzer im Drogenrausch. Die Vorstellung, ausgerechnet dieses Fräulein berichte über böse, schwere Buben, amüsierte die Menschen. Allerdings längstens so lange, bis sie ihnen entgegentrat. Die Wenigen, die wie Paul Gram ihr wahres Ich kannten, zogen sie für ihre Attitüde gelegentlich auf.

»Dafür ist ein freier Tag fällig, ich sag’s dir«, raunte sie in Richtung des Ressortleiters.

Paul Gram pikste sie unbemerkt von den anderen unterm Tisch in die Hüfte. Sie revanchierte sich mit einem zielsicheren Tritt gegen sein Schienbein, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Stattdessen funkelte sie weiter den Ressortleiter an.

Der aber ging nicht auf die Forderung ein. Er hielt sich an seinem Tablet fest und tat so, als würde er ein weiteres Mal ihren Bericht studieren, der seit halb sechs online stand, mit heißer Nadel gestrickt für die Frühaufsteher unter den Lesern und diejenigen, deren erste Tat des Tages der Griff zum Smartphone war.

Auf dem Tisch lagen frisch gedruckte Ausgaben der Zeitung, fast alle unberührt. Paul Gram konnte es nicht ertragen. Er schnappte sich eine, ließ es rascheln, schlug das Blatt auf und faltete es sich zurecht. Er hatte den Sportteil ohnehin noch nicht gelesen.

Wie jeden Morgen kamen die Lokalredakteure der auflagenstärksten Tageszeitung im Umkreis von hundert Kilometern zur Besprechung und Blattplanung in einem fensterlosen Raum zusammen, den jeder nur »das Loch« nannte – jeder bis auf den Ressortleiter. Zu viel Ablenkung schade der Produktivität, pflegte der zu posaunen, wenn er irritierten neuen Mitarbeitern ganz ernsthaft zu erklären versuchte, warum er die kurz nach der Jahrtausendwende ausrangierte Dunkelkammer als Konferenzzimmer so schätzte. Ein paar gerahmte Titelseiten glorreicher Tage und zwei einsame Urkunden errungener Journalistenpreise zierten die ansonsten kahlen Wände. Wer wie Paul Gram zumindest die letzten Ausläufer der alten Zeiten erlebt hatte und sich anstrengte, dem stieg die Erinnerung an Chemie und die gespannte Ungewissheit des Entwickelns in die Nase und zu Kopf. Alle anderen mussten mit dem überbordenden Karamellduft Vorlieb nehmen, den die miesepetrige Redaktionsassistentin versprühte.

»Gute Arbeit, vielen Dank für deinen Einsatz«, nuschelte der Ressortleiter schließlich und versuchte es mit einem Lächeln, gegen das sich die Polizeireporterin immun zeigte.

»Ich finde, wir sollten über den Tatverdächtigen sprechen«, mischte sich der Volontär ein. »Wir haben jetzt schon ein Dutzend Leserkommentare, weil wir angeblich Informationen unterschlagen. Der Typ, den sie festgenommen haben, ist ja wohl ein Flüchtling.«

Die Polizeireporterin seufzte. »Vernommen haben sie ihn, nicht festgenommen. Er ist offiziell kein Beschuldigter.«

»Aber die Konkurrenz hat …«, setzte der Volontär erneut an. Er war ein Kerl mit langen, schwarzen Haaren, die ständig sein halbes Gesicht verdeckten, ohne dass sie seine geisterhafte Blässe oder sein unkontrollierbares Akne-Problem verschleiern konnten. Paul Gram vermutete, der Volo zähle zu der Art Mensch, die es liebte, gehasst zu werden, weil er darin ein untrügliches Zeichen sah, in den Augen der anderen eine Bedrohung darzustellen. Dabei war er einfach nur furchtbar altklug und überheblich.

Die Polizeireporterin ließ ihn nicht aussprechen. »Ich bin vielleicht altmodisch, aber ich halte mich an Fakten. Punkt. Und jetzt muss ich los zur PK.«

»Gut, du schaffst doch die Online-Aktualisierung bis um zwei, oder? Und die Aufmacher-Reportage morgen, ja?«

Der Ressortleiter war ein Meister darin, Fragen wie Aufforderungen klingen zu lassen. Seine rasende Reporterin ließ die Tür zum Loch ins Schloss krachen, ohne vorher eine Antwort zu geben.

Kaum war sie draußen, schmückte ein Grinsen sein Gesicht. »So oder so. Die neuesten Klickzahlen sind fantastisch.« Das gesagt, schnappte er sich eine Zeitung und blätterte rasch. »Okay, hat noch jemand was zur heutigen Ausgabe? Nicht? Gut. Was machen wir morgen sonst noch?«

Einige schläfrige Kollegen zuckten hoch, als die schrille Stimme der Lifestyle-Beauftragten den Raum erfüllte.

»Im Zoo stellen sie heute die neuen Löwenbabys vor«, rief das Redaktionsnesthäkchen. Seit mittlerweile eineinhalb Jahren vernachlässigte die dauerbeschäftigte freie Mitarbeiterin ihre Magisterarbeit zugunsten ständiger Spät- und Wochenendschichten. Die Aussicht auf ein Volontariat hatte das bislang nicht verbessert. Eine flotte Schreibe und ihre quietschfidele Art zeichneten sie aus. An diesem Vormittag jedoch hatte Paul Gram den Eindruck, als sei sie unsicher und nervös. Immer wieder suchte sie den Augenkontakt mit dem Ressortleiter, der das genauso konsequent ignorierte wie Forderungen von Polizeireporterinnen nach einem freien Tag. Ob es da wohl einen Zusammenhang mit der Tatsache gab, dass sie dieselben Klamotten wie am Tag zuvor trug?

»Großartig. Das ist unsere zweite große Geschichte«, rief der Ressortleiter und schaute sie nur ganz kurz an.

»Was ist mit meiner Wohnungsnotstory? Die schieben wir jetzt schon seit Tagen«, erkundigte sich der Mann für die sozialen Themen und brachte beim Vorlehnen seinen tapferen Stuhl zum Ächzen. Mit Mitte fünfzig zählte er zu denen, die zu alt für den Wandel und zu jung für die Rente waren.

»Schieben wir noch mal. Das musst du doch verstehen. Wir haben schon den Mord und die Tierbabys. Wir sollten nicht alles auf einmal verbraten.«

»Das muss aber bald mal mit. Sonst ist das kalter Kaffee.«

Es war ein halbherziger Protest, und Paul Gram kam nicht umhin, Mitleid zu hegen für den Kollegen, dessen Aura er einst bewundert hatte. Damals, vor fast zwanzig Jahren, als die träumerische Jungversion von Paul Gram mit einem Abischnitt von 3,2 und einer Überdosis an Selbstvertrauen in die Redaktionsstube gestiefelt war, um fortan das zu tun, wofür er sich geschaffen wähnte: Geschichten zu erzählen.

Paul Gram nahm in jüngster Zeit nur noch selten an den Blattkonferenzen teil, und wann immer er es tat, wusste er wieder, warum er es sonst vermied. Doch das vorangegangene Wochenende hatte ihn in einer derart blendenden Laune hinterlassen, dass er beschlossen hatte, es sei mal wieder an der Zeit für eine Stippvisite. Entzückt vom dichten Nebel und vom Nieselregen hinterm Fenster war er am Sonntag früh aus dem Haus gegangen und in das Auto gestiegen, das er sonst nie benutzte, weil er den Kontakt zu Menschen in öffentlichen Verkehrsmitteln schätzte. Sie inspirierten ihn zu neuen Ideen.

An diesem Morgen jedoch hatte er sich nach totaler Einsamkeit gesehnt und deshalb das vermeintlich schlechte Wetter gepriesen, das laut Vorhersage noch ein paar Tage in dieser Form anhalten sollte. Er war an den Fuß einer Bergkuppe eine halbe Stunde außerhalb der Stadt gefahren und hatte sich bepackt mit einem Rucksack auf gen Gipfel gemacht, zu den eingestürzten Gemäuern einer mittelalterlichen Burg. Dort hatte er sich niedergelassen, eine Packung Paprikachips herausgeholt und genossen, dass das einzige Geräusch in seiner Nähe dem Mahlen seiner Zähne entsprang. Nach einer halben Stunde war er den Berg wieder hinuntergestiegen und nach Hause gefahren, zu zwei Cheeseburgern mit extra Bacon und Fritten vom Lieferservice.

Stille, fand Paul Gram, konnte wundervoll sein. Er musste sich ab und zu von dieser sonderlichen Welt absondern, um nicht Gefahr zu laufen, dem allgemeinen Wahnsinn zu verfallen.

Deshalb wollte er nach der Redaktionskonferenz auch schnellstens in seine drei mal zwei Meter große Bürozelle fliehen, die er als Luxus empfand, weil er sie mit niemandem teilen musste. Doch als die mürrische Runde auseinanderging, hielt ihn der Ressortleiter auf.

»Du Paul, ich hab’ da was mit dir zu besprechen. Muss zwar gleich weiter zur Sitzung des Digitalen Arbeitskreises, aber ein paar Minuten habe ich. Du auch?«

Er hätte so gern nein gesagt.

»Für dich habe ich immer Zeit.«

Paul Gram musterte den Ressortleiter aus seinen tiefblauen Augen heraus und fragte sich nicht zum ersten Mal, ob der eigentlich die leiseste Ahnung hatte, für was für einen Schaumschläger er ihn hielt.

Es war ihm noch immer unbegreiflich, warum der Schaumschläger so vielen als Wunderknabe galt, vor allem jenen, die es aus zuweilen unersichtlichen Gründen zu Entscheidungsträgern gebracht hatten. Sie vergötterten den Jungen, der mit vierundzwanzig sein eigenes Onlineportal mit lokalen News gegründet hatte und seitdem wie ein Derwisch durch die Branche fegte. Dabei hatten die großen Verleger ihn anfangs noch belächelt und erst reagiert, als aus dem Zwergenmogul ein ernsthafter Konkurrent geworden war. Zu viele Leser hatten ihr Zeitungsabo mit dem Hinweis gekündigt, sie würden von nun an lieber auf unabhängige (und obendrein kostenlose) Nachrichten vertrauen. Der Verlag hatte das Portal daraufhin aufgekauft, zum Szeneguide erklärt, ein paar überforderte und unterbezahlte Studenten drangesetzt und den Gründer zum stellvertretenden Lokalchef seines Flaggschiffs ernannt. Da war der gerade achtundzwanzig geworden und fortan in grellen Klamotten und mit einem umgedrehten Basecap auf dem Schädel durch die Redaktion gestiefelt, um jedem zu erklären, dass er nicht der Feind sei. Dass er die gedruckte Zeitung liebe, es aber neuer Konzepte bedürfe, um gemeinsam dieses wunderbar traditionsreiche Medium wieder groß zu machen.

Wenige Monate später kippte Paul Grams Mentor, der damalige Ressortleiter und Herzinfarkthochrisikopatient, in einer Stadtratssitzung um – im Dienst gefallen während der Haushaltsberatungen. Und sein Vize, der schon damals nicht und auch seitdem nie im Leben auf die Idee gekommen wäre, für die Zeitung Termine dieser Art wahrzunehmen, stieg diskussionslos zum Nachfolger auf.

Seit drei Jahren trug er nun weiße Hemden anstelle bunter Shirts und auf dem Kopf statt eines Basecaps eine halbe Tube Haargel. Am lebendigsten wirkte er während gut besuchter Leserevents, bei denen er dem Oberbürgermeister vorher abgesprochene freche Fragen stellte.

»Wir haben uns schon eine Weile nicht gesprochen. Ich wollte mal hören, was es Neues gibt.«

Das Büro des Ressortleiters bestach durch seine breiten Fensterfronten zur Süd- und zur Westseite hin. Er wühlte in Unterlagen, während er zu Paul Gram sprach. Der saß ihm gegenüber – zurückgelehnt und mit vor dem Bauch gefalteten Händen. Dem Bauch, den sein Vater bei seinem jüngsten Besuch fies grinsend getätschelt und dabei gefragt hatte, wie es sich anfühle, wenn das Alter an einem nage. Es war eine Unverschämtheit sondergleichen gewesen, die Paul Gram ausgerechnet jetzt wieder einfiel und die ihn, väterlicher Scherz hin oder her, massiv verunsicherte, was er freilich nie im Leben zugegeben hätte. Seine Erscheinung war unverzichtbarer Bestandteil seines Kapitals in der Welt außerhalb seiner hochgeschätzten Intimität. Deswegen achtete er tunlichst auf Harmonie und Symmetrie, angefangen beim immer gleich kurzen Haarschnitt und dem ewigen Drei-Tage-Bart, der seinem Gesicht mit den feinen Zügen Charakter verleihen sollte.

Du musst wissen: Paul Gram ist niemand, der sich häufig hinterfragt. Aber wenn er es täte, müsste es ihm absurd vorkommen, wie sehr jemand, der davon überzeugt ist, dass jeder in seiner eigenen Welt lebt, darauf erpicht ist, einen bleibenden Eindruck bei anderen zu hinterlassen. Aber es funktioniert, du wirst das bald selbst erfahren. Was ihn auszeichnet, ist diese explosive Mischung aus Stolz und Selbstgefälligkeit, die vielen Journalisten eigen ist und die ihnen, wenn sie nicht aufpassen, gewaltig um die Ohren fliegt.

Ein Bauchansatz, so fand er jedenfalls, war das letzte, was er gebrauchen konnte.

»Geht’s dir gut, Paul?«

»Ich kann nicht klagen.«

»Gut, das ist gut«, erwiderte der Ressortleiter, hob den linken Zeigefinger, sagte »kleinen Moment, bitte« und überflog zwei Ausdrucke, die von der anderen Seite des Tisches wie Protokolle aussahen.

Zehn Sekunden lang herrschte Stille, dann legte er die Unterlagen beiseite. »Habe ich dir schon gesagt, dass diese Geschichte mit dem IS-Vater großartig war? Ein Meisterstück.«

Zu loben war für ihn die antrainierte Methode, hinterher zu verlangen. Paul Gram wusste also genau, was kommen würde.

Aber es stimmte. Das Porträt des von Kummer erfüllten Gastarbeiterkinds mittleren Alters, das seinen Sohn als IS-Kämpfer in Syrien vermutet und loszieht, um ihn zurückzuholen, war ein feuchter Reportertraum. Eine Story über die Perspektivlosigkeit und Wut der heimatlosen dritten Generation, die weder in dem Land, in das sie hineingeboren worden war, noch in jenem, aus dem ihre Großeltern stammten, als erwünscht gilt, geschweige denn als akzeptiert. Das Ganze gewürzt mit der hilflosen Stimme der Eltern, die nicht verstehen, was da geschieht mit der Welt, woher der plötzliche Fanatismus ihres früher kaum religiösen Sohns kommt, dem einzigen Sprössling, den Allah ihnen geschenkt hat. Es war eine Geschichte, die eigentlich zu gut war, um wahr zu sein.

Und uneigentlich auch.

»Danke, danke. Hast du schon. Aber deine Wertschätzung freut mich sehr.«

»Gibt’s was Neues? Ist ja jetzt schon wieder zwei Wochen her. Kannst du irgendwas weiterdrehen?«

»Leider nicht. Ich habe versucht, ihn zu kontaktieren, aber niemand weiß, wo er steckt, auch seine Frau nicht.«

Der Ressortleiter nickte und bemühte sich vergeblich darum, betrübt dreinzublicken. »Und sonst? Der Chef hat sich nämlich bei mir erkundigt, was unser emsiger Investigativmann so treibt. Das waren seine exakten Worte.«

Paul Gram kannte das Spielchen. Er besaß große Freiheiten in der Redaktion, war von allen ungeliebten Wochenend- oder Blattmacherdiensten befreit, bekam nur in äußersten Notfällen Termine aufs Auge gedrückt, musste nicht an den Konferenzen teilnehmen. Im Gegenzug verlangte man von ihm regelmäßig einen Scoop. Einen Kracher, bei dem sich jeder, ob Kollege, Konkurrent oder Leser, fragte, wie dieses Schlitzohr da schon wieder an Informationen gekommen war, die sonst keiner hatte.

Es war nicht so, dass diese Begünstigungen nicht von Zeit zu Zeit infrage gestellt wurden, dass ihn alle mochten und seine Verdienste schätzten. Aber die meisten taten es, und er war froh darüber, dass es vor allem die Entscheidungsträger taten, die er so leidenschaftlich verachtete.

»Also gut, dir kann ich’s ja sagen. Ich bin da an einer ganz heißen Sache dran, aber ich brauche noch ein paar Tage. Es geht um Tarifflucht, Scheinselbstständigkeit, ausgebeutete Mitarbeiter.«

»Geil, wo?«

»Bei uns«, sagte Paul Gram mit ausdrucksloser Miene.

»Haha, sehr witzig«, antwortete der Ressortleiter und konnte es trotzdem nicht vermeiden, bleich zu werden.

»Keine Sorge«, beruhigte ihn sein Gegenüber. »Es geht um etwas anderes. Ich kann noch nicht darüber sprechen, aber es ist groß. Sehr groß.«

Kapitel vier

Matthias Caspar war wie sein Auto: voller sichtbarer und unsichtbarer Makel. Die altersschwache Karre hatte ihre beste Zeit längst hinter sich. Sie zählte dreizehn Jahre, ihr Besitzer dreimal so viel. Am Gefährt knabberte der Rost, am Steuermann der Zweifel. Er wartete noch immer darauf, dass seine beste Zeit endlich begann.

In diesen Samstagmittagsstunden wartete er in seinem Auto. Nicht auf beste oder auch nur bessere Zeiten. Sondern darauf, dass etwas passierte. Das war sein Job. Oder der Teil seines Jobs, der ihn am heftigsten anödete. Erst recht, wenn wie heute einfach nichts passierte. Und er nur dasitzen konnte, ein Hörbuch hören und Pistazien im Akkord essen, die er aus dem viel zu kleinen Loch einer Mammutpackung pulte, die Schale öffnete, die eine Hälfte im Fußraum der Beifahrerseite verschwinden ließ, den Kern in den Mund warf und die zweite Hälfte der Umhüllung zu den anderen bugsierte.

Zu warten kostete Kraft. Egal, ob man auf jemand anderen wartete, eine Zielperson etwa, oder auf sich selbst.

Matthias Caspar sah müde aus. Er sah mittlerweile sogar dann müde aus, wenn er hellwach war. Hinter den riesigen Gläsern seiner altmodischen Brille verkrochen sich winzige Augen, er war chronisch blass, kämmte sich selten und bewegte sich häufig wie in Zeitlupe. Einiges, vor allem die ungeordnete Frisur und das apathische Auftreten, war zwar Maskerade – es gehörte zu seiner Strategie, unterschätzt zu werden, weil es ihm dann einfacher fiel, seine Kontrahenten zu überrumpeln.

Aber das Problem mit Maskeraden ist: Wer sie zu lange aufrechterhält, vergisst sein eigenes Gesicht.

An diesem Tag war Matthias Caspar exakt so müde, wie er aussah. Dick eingepackt in einen Wintermantel saß er hinter dem Lenkrad seines Wagens, mit dem er sich zu Beginn seiner Schicht vier Stunden zuvor an einer strategisch klugen Stelle des Parkplatzes positioniert hatte. Er wollte den Hinterausgang des Wohnkomplexes jederzeit im Blick haben, damit er, sobald etwas passierte, blitzschnell reagieren konnte.

Falls die Zielperson herauskäme zum Beispiel.

Oder falls es nötig wäre, das Handy ans Ohr zu pressen und die Lippen zu bewegen. Damit niemand Verdacht schöpfte, weil er an einem gottverdammten Herbstdepressionstag lethargisch in seinem Auto hockte, während es draußen beständig nieselte und ein nasser Nebel die Stadtlandschaft umhüllte.

Oder falls er dem Kollegen, der den Vordereingang nicht aus den Augen ließ, per Funk Bescheid geben musste, Bescheid geben durfte, dass sich etwas tat – endlich.

Aber nichts Derartiges passierte. Immer noch nicht.

Also starrte Matthias Caspar weiter auf den Hinterausgang, steckte gleichzeitig aber so tief in seinen Erinnerungen, dass er begann, den Erzähler seines Hörbuchs zu missachten. Und aß weiter Pistazien.

Die, so hatte er im Internet gelesen, seien gesund und würden beim Abnehmen helfen. Das war zwar nicht der erste Grund, warum er sie bei Observationen wie dieser manisch in sich hineinschaufelte – tatsächlich half es gegen das völlige Wegdämmern und er brauchte das Gefühl, etwas zu tun zu haben, wenn er stundenlang nichts Produktives tat. Aber es war eine angenehme Vorstellung, wenn diese eine Tat seinem Körper zugutekam. Denn seit er aufgehört hatte, regelmäßig Sport zu treiben, also seit dem Ende seiner Laufbahn als Polizist vor drei Jahren, war er zum eigenen Entsetzen mehr und mehr in die Breite gegangen, ein Vorgang, dem er hilf- und tatenlos zusah. Hilflos, weil er neuerdings tatenlos blieb. Und tatenlos, weil ihm alle früheren Versuche, dagegen anzukämpfen, bald sinnlos vorgekommen waren und ihm nun der Wille zur kontinuierlichen Anstrengung fehlte.

Es war ein schwacher Trost, dass jetzt, anders als früher, sein riesiger Kopf wenigstens nicht mehr zu groß für seinen Torso war. Seine Problemzonen hatten sich lediglich nach unten verlagert. Dorthin, wo alte Muskeln verkümmerten und sich neues Fett breitmachte.

Sein neues Leben, zurück in der alten Heimat, fern der missglückten Karriere, hatte er sich anders vorgestellt.

Als Kind hatte Matthias Caspar zunächst Rennfahrer werden wollen. Und dann, da war er schon etwas älter, das Gegenteil seines Vaters. Er hätte sich vielleicht damit anfreunden können, wie der Großvater zu werden, aber nicht wie der Vater. Dummerweise hätte er nicht wie sein Großvater werden können, ohne auch ein bisschen wie sein Vater zu sein.

Die Alternative offenbarte sich ihm an einem brüllend heißen Ferientag im August. Matthias, der es kaum erwarten konnte, vierzehn zu werden, war mit zwei Internatsfreunden mit dem Fahrrad auf dem Weg ins Freibad, dem einzigen Ort, an dem sich die Hitze ertragen ließ. Da kamen ihnen kurz vor dem Ziel zwei Polizeiautos mit Blaulicht und Sirene entgegen.

»Los, hinterher«, rief Matthias und machte kehrt. Er raste den eben bezwungenen Anstieg wieder hinab. Schneller als seine mühevoll hinterherstrampelnden Kumpels kam er am Tatort an, einer überfallenen Bank, an der es eigentlich nichts mehr zu sehen gab, nicht für ihn und erst recht nicht für die japsenden Kameraden. Der Täter war mit der Beute geflohen, sie schnappten ihn ein paar Tage später. Doch für Matthias zählte nur die Erinnerung an sein Herzklopfen beim Verfolgen des Polizeiwagens, die Erinnerung an den Fahrtwind auf seinem verschwitzten, nackten Oberkörper. Niemals zuvor hatte er sich so wach und so berauscht gefühlt – und Räusche hatte es in diesen Ferien durchaus gegeben, sofern es sich einrichten ließ, bei einem Freund zu übernachten.

Dieses Gefühl blieb. Von diesem Zeitpunkt an stand für ihn fest, was aus ihm werden sollte.

In einem Moment höchster Dramatik der Hörbuch-Geschichte, die Matthias Caspar nicht hörte, weil er woanders war, legte der Erzähler alles in die Waagschale, was seine Stimme hergab – und drang durch. Matthias Caspar kehrte in die Gegenwart zurück. Der Regen draußen hatte zugenommen. Ein paar Kinder mit überdimensionierten Schulranzen huschten an ihm vorbei und sprangen – mit Anlauf – in Pfützen. Wenig später sah er ein Großmütterchen im Regenponcho, wie es mit gekrümmtem Rücken zwei Einkaufstüten nach Hause schleppte. Und schon zum zweiten Mal während seiner Observation geriet ein Typ im Jogginganzug in sein Blickfeld, der sich zum Rauchen an die Briefkästen lehnte und mit geschlossenen Augen inhalierte. Die Zielperson aber zeigte sich noch immer nicht.

Seinen Vorsatz, Polizist zu werden, hatte er zunächst für sich behalten. Erst Jahre später erzählte er, aus einer Laune heraus und weil er ihn ärgern wollte, seinem Vater davon.

»Du willst Polizist werden? Dass ich nicht lache!«, höhnte der.

Der Verhöhnte aber ließ sich nicht von seinem Weg abbringen. Auch nicht von seinem Großvater, der ihn auf sanftere Weise zu überzeugen versuchte, einem Einstieg ins Familienunternehmen doch eine faire Chance zu geben und die Tradition fortzuführen. »Dein Vater wird nicht ewig am Ruder stehen. Dann kommt deine Zeit.«

Er wollte aber nicht warten, bis seine Zeit käme. Schon früh übte er sich darin, Gefühle zu unterdrücken, weil er glaubte, das sei eine wichtige Voraussetzung für einen Job bei der Polizei. Zu seinem eigenen Stolz gelang ihm das wunderbar. Bestärkt bewarb er sich für die Ausbildung zum gehobenen Dienst in der Hauptstadt, die weit genug von seinem Elternhaus entfernt lag und obendrein der Ort sein musste, an dem die Arbeit am spannendsten war. Auf den Eignungstest bereitete er sich mit eiserner Disziplin vor.

Wenige Wochen später wedelte er seinem verdutzten Vater mit der Zulassung vorm Gesicht herum. »Lachst du jetzt immer noch?«

Es war der glücklichste Tag seines Lebens.

Den glücklichsten Tag seines Lebens aber hinter sich zu wähnen, wurde für ihn zur Qual. Vergeblich wartete er darauf, dass ein noch glücklicherer kam und den alten ablöste. Er wartete immer panischer, der Mensch zehrt schließlich von der Hoffnung auf mehr. Gern hätte er behauptet, der Tag seiner Hochzeit sei der glücklichste seines Lebens gewesen. Schließlich hob man gemeinhin diesen Tag auf ein Podest, was viel über das Nachfolgende aussagte: die Ehe also. In der konnte es demnach ja nur noch bergab gehen – was in seinem Fall auch zutraf. An seinem Hochzeitstag war er erfüllt von Liebe zu der Frau, deren Namen er sogar annahm. Freilich war das vor allem ein Seitenhieb, nein: ein Schwinger, gegen seinen Vater, dessen Familiennamen er nicht mehr tragen wollte und auch nach der Scheidung nicht zurücknahm. Doch der glücklichste Tag seines Lebens ? Nein, dieses Prädikat erreichte der Hochzeitstag nicht. Und auch nicht der Geburtstag seiner Tochter, deren Nabelschnur er durchschneiden durfte. Noch so ein Kandidat, noch so eine Enttäuschung, denn beide Tage und die vielen anderen, die das Potenzial besaßen, als glücklichster in seinem Leben zu gelten, hatten alle nur eines gemeinsam: den deprimierenden Gedanken, sich das noch eine Spur emotionaler vorgestellt zu haben.

All das kam ihm in den Sinn, während er den Hinterausgang des Wohnhauses anstarrte und Pistazien in sich hineinstopfte, bis auch seine zweite Großpackung verbraucht war und die Überbleibsel der vernichteten Kerne im Fußraum rechts neben ihm einen Hügel beträchtlichen Ausmaßes bildeten.

Drei Stunden später wartete Matthias Caspar noch immer vergebens, mittlerweile nicht nur allein auf die Zielperson, sondern auch auf seine Ablösung, die ihn ebenfalls hängen ließ. Er saß in seinem Wagen und kontrollierte alle sechzig Sekunden sein Handy, ohne eine Nachricht vom säumigen Kollegen zu finden. Seine rechte Hand steckte in seiner Hose und er wackelte hin und her, bis er es irgendwann nicht mehr aushielt. Er schnappte sich die leergetrunkene Wasserflasche neben dem Pistazienhügel und gab sein Bestes, nicht daneben zu pinkeln.

Hinterher fühlte sich Matthias Caspar zwar erleichtert, glaubte nun aber, das Autodach seines Autos müsse ihm jede Sekunde auf den Schädel fallen. Erneut, zum dritten Mal, sah er den Jogginghosenträger eine qualmen. Von der Zielperson fehlte nach wie vor jede Spur.

Es war ausgeschlossen, dass sie ihre Wohnung verlassen hatte, also saß sie wohl tatsächlich drin, lag womöglich sogar im Bett, ausnahmsweise wirklich krank. Der Chef des Elektrikers hatte Matthias Caspars Detektei beauftragt. Mehrfach hatte sich sein Arbeitnehmer krankgemeldet und war am dritten Tag wieder putzmunter in den Betrieb marschiert, gerade rechtzeitig also, um kein Attest wegen Arbeitsunfähigkeit abliefern zu müssen. Dann war dem Handwerksmeister auch noch zu Ohren gekommen, sein Mitarbeiter arbeite auf eigene Rechnung bei den Kunden, die sich nach einem Kostenvoranschlag nicht wieder gemeldet hatten. Ihn auf frischer Tat beim Blaumachen oder bei der Schwarzarbeit zu erwischen, im besten Fall bei beidem, so lautete die Aufgabe für Matthias Caspar und seine Mitstreiter.

Nun deutete vieles darauf hin, dass der Auftraggeber eine Fehlinvestition getätigt hatte.

Früher, als Leiter von Einsätzen zur Beweissicherung bei der Polizei, hatte er jedes Mittel des Gesetzes ausgeschöpft und war manchmal, wenn sich mit Gefahr im Verzug argumentieren ließ, auch einen winzigen Schritt weitergegangen, um einen Verdacht zu erhärten. Als Detektiv, so war seine Annahme gewesen, spielten diese rechtlichen Korsetts eine untergeordnete Rolle, gehörte es doch für einen Schnüffler zum guten Ton, sich im Schatten der Legalität zu bewegen.

Das Gegenteil aber war der Fall. Matthias Caspars Chef ließ keine Gelegenheit aus, seinen Untergebenen einzubläuen, Persönlichkeitsrechte der Zielpersonen ja zu beachten und bloß keine krummen Dinger mit GPS und dergleichen zu drehen. Der gute Ruf der Detektei stünde schließlich auf dem Spiel.

Ja wirklich, das Leben als Privatdetektiv hatte sich Matthias Caspar anders vorgestellt.

Um seinen Observationsbericht zu schreiben, fuhr er nach einer weiteren ereignislosen Stunde in die Detektei. Sie lag in einem vollverglasten Businesscenter in der Innenstadt. »Transparenz ist gut fürs Geschäft«, wurde der Chef nicht müde zu betonen, ein drahtiger Endfünfziger, den man selten lächeln sah und der noch seltener in diesem transparenten Büro anzutreffen war, weil er entweder selbst einem Fall nachging oder auf einen neuen Ultramarathon trainierte.

Wenigstens verfügte das Businesscenter über eine Tiefgarage. Das ersparte Matthias Caspar die Mühe, sich im Regen aus seinem Auto zu schälen. Er nahm den Aufzug in die siebte Etage, die komplett der Detektei vorbehalten war. Wie üblich an einem Samstagabend war sie die einzige, auf der Menschen arbeiteten, die keinem Reinigungsunternehmen angehörten. Oben angekommen bog er links ab und durchquerte einen Gang, an dessen Seiten nicht wenige der von schmalen Lichtkegeln erhellten Kojen besetzt waren. Die Kollegen überboten sich gegenseitig in der Geschwindigkeit des Tastaturhackens. Viele drängte es nach Hause, zu Partner und Kind. Oder zumindest weg von diesem Ort, an dem es bestialisch stank, weil irgendein Depp wieder Essen vom Asiaten um die Ecke eingeschmuggelt hatte.

Matthias Caspar kam nicht bis zu seinem Arbeitsplatz. Die Assistentin des Chefs hielt ihn auf.

»Matthias, warte mal bitte.«

Er drehte sich um. Überrascht. Erwartungsfroh. Sie war Ende zwanzig und überragte ihn um wenige Zentimeter. Das bedeutete, dass er, wenn er geradeaus schaute, praktisch immer genau auf die beiden winzigen Muttermale in ihrem Gesicht blickte, die er zu gern küssen wollte, eines unter ihrem linken Mundwinkel, das zweite rechts neben ihrem Nasenflügel. Die Schönheitsflecke verliehen ihr in seinen Augen einen besonderen Anreiz, aber er mochte eigentlich alles an ihr.

Er mochte es, wenn sie auf den Spitzen ihres schulterlangen Haares herumkaute, sobald sie glaubte, unbeobachtet zu sein – unbeobachtet! In einer Detektei!

Er mochte es, wenn sie beim Mittagsessen im Pausenraum den Mund verzog, weil sie wieder eine neue Diät ausprobierte, die sie schon am ersten Tag ankotzte. Sie hielt ihren Hintern für zu fett. Wenn sie von ihm davonlief und dieser Arsch in ihrer Jeans rhythmisch hin und her wogte, stellte er sich träumerisch vor, in ihn hineinzukneifen oder ihn sanft zu versohlen, ihr Einverständnis vorausgesetzt, versteht sich.

Er mochte sogar ihre schnippische Art.

»Was glotzt du denn so?«

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Дата выхода на Литрес:
23 декабря 2023
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282 стр. 5 иллюстраций
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9783943709711
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