Ich bin, was ich werden könnte

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Die Lebensmitte und ihre Krise

Das Lebensmitte-Thema ist in besonderer Weise geeignet, die geistige Herkunft des Menschen zu bezeugen. Wir können auf diese Herkunft unter anderem daraus schließen, dass der Mensch Ideale hat, Ziele und Strebungen verfolgt, die nicht von dieser Erde sind. Die Ideale meinen etwas, das es auf ihr gar nicht gibt, das es aber geben sollte. Sie sprechen von einer geistig-göttlichen Weltordnung, der die Erde sich so weit wie möglich nähern soll. Jeder von uns hat, mehr oder weniger bewusst oder ausformuliert, solche Ideale. Und viele von uns streben auch ihre Verwirklichung an.

Ein charakteristisches Merkmal der Ideale liegt darin, dass sie nicht nur oder nicht in erster Linie ihren Träger, das einzelne Individuum, meinen, sondern die Menschengemeinschaft und die Erde als ganzes. Ideale haben also eine überpersönliche Dimension. Das unterscheidet sie von persönlichen Wünschen. Ich kann mir ein neues Auto oder Stressfreiheit im Beruf wünschen – das ist sicher legitim, aber es liegt darin nichts Geistig-Göttliches, dessen Merkmal immer die übergeordnete, über das persönliche Glücksstreben des einzelnen hinausgehende Perspektive ist. Das Geistig-Göttliche hat stets das Ganze im Auge, das Ganze der Menschheit, das Ganze der Erdentwicklung. Und etwas davon leuchtet darin auf, dass wir Ideale haben und deren Verwirklichung anstreben.

Wenn es aber richtig ist, dass der Mensch einen geistigen Wesenskern hat, dass etwas in ihm ist, das sich aus dem, was er physiologischbiologisch ist, nicht ableiten lässt, dann muss dieser Wesenskern irgendwoher kommen und nach dem physischen Tod des Menschen irgendwohin gehen. Dies weist auf eine geistige Sphäre hin, in der jener Wesenskern sich vor der Geburt aufhält und aus der er das mitbringt – wie eine Art Erinnerung –, was dann auf Erden ein Ideal ist.

Bringt der Mensch Ideale und übergeordnete Ziele aus der geistigen Welt mit auf die Erde, wo sie nur sehr unvollständig zur Geltung gebracht werden können, dann erhebt sich die Frage, warum kommt der Mensch eigentlich auf die Erde? Warum bleibt er nicht in der geistigen Welt, in der er diesen Idealen begegnet und wo sie offenbar eine Wirklichkeit haben? Dort haben sie offensichtlich ihre Heimat, während das irdische Leben doch in weitgehendem Widerspruch zu ihnen steht. Warum bleibt der Mensch nicht »da oben«, wo es keine Umweltverschmutzung, keine Steuererhöhungen, kein Bundesbahndefizit, keine Ausbeutung und keine Strafzettel gibt? Wäre er nicht besser beraten, dort die Ideale zu leben, statt die ganze Mühsal und Frustration eines irdischen Lebensgangs auf sich zu nehmen?

Es muss irgendwann in der Zeit, die der hier beschriebene Wesenskern eines Menschen in der geistigen Welt verbringt, so etwas wie einen Entschluss geben, sich den Strapazen eines irdischen Lebens erneut zu stellen. Und dieser Entschluss muss etwas damit zu tun haben, dass es in dieser Zeit wohl einen Moment gibt, in dem er den persönlichen, eigenen, individuellen Beitrag erkennt, den er zur Verwirklichung der Ideale auf der nicht-idealen Erde leisten könnte.

In fast allen Kulturen und Religionen außerhalb der offiziellen monotheistischen Kirchen lebt die Vorstellung, dass nach dem Tod die Seele ihre auf Erden gemachten Erfahrungen verarbeitet, indem sie diese den Wesen vorlegt, die ausschließlich in der geistigen Sphäre leben. Daraus muss eine Art Einsicht darüber entstehen, was während der Erdenzeit versäumt wurde in der Mitarbeit an den geistig-göttlichen Weltenzielen. Aus diesem Anschauen der Versäumnisse muss sich für die Seele eine Art Schwelle, ein Wendepunkt ergeben, der sie dazu herausfordert, es wiederum zu versuchen – mit der Erde und mit sich selbst. Rudolf Steiner nennt diesen Wendepunkt die »Begegnung mit dem großen Hüter der Schwelle«. Sie liegt in der Mitte der Zeit, die die Seele zwischen Tod und nächster Geburt in der geistigen Welt verbringt, und sie besteht darin, dass man eines Bildes Christi ansichtig wird, der – obwohl er dies als göttliches Wesen für sich gar nicht nötig gehabt hätte – ebenfalls auf die Erde kam, um ihr den Auferstehungsimpuls einzupflanzen. Diese Christus-Begegnung in der Mitte der Zeit, die man zwischen dem letzten Tod und der nächsten Geburt in der geistigen Sphäre verbringt, kann vielleicht so charakterisiert werden: Ich habe in meinem letzten Erdengang Verschiedenes erreicht, aber Verschiedenes auch versäumt und nicht verwirklicht, bin bestimmten Aufgaben nicht gerecht geworden. Nun erkenne ich Christus, der, ohne dass er etwas versäumt hätte, freiwillig auf die Erde kommt und seine Möglichkeiten, die er als höchstes göttliches Wesen hat, opfert, um der Erde und den Menschen weiterzuhelfen. Wieviel näher liegt es nun, dass ich beschränktes Wesen wieder zur Erde zurückkehre, um erneut meinen Beitrag zur Verwirklichung der göttlichen Ziele zu leisten, die die geistige Welt mit der Erde anstrebt. Ich will also das Eingefügt-Sein in die ideale Ordnung der geistigen Sphäre opfern, um erneut zu versuchen, mit den beschränkten Mitteln meiner Individualität und in dem begrenzten Raum meiner persönlichen Biographie an den Zielen der Götter mitzuarbeiten.

Aus dieser Situation nähert sich dann der geistige Wesenskern, das Ich, wiederum der Erde. An dem Wendepunkt ist ein Entschluss gefallen. Das Ich bildet sich jetzt von der geistigen Sphäre her erneut einen persönlichen Ausgangspunkt auf der Erde, sucht sich seine künftigen Eltern, nimmt als Reisegepäck das wieder auf, was sich vor diesem Wendepunkt in der nachtodlichen Auseinandersetzung mit der geistigen Welt über das vorangegangene Erdenleben an persönlichen Aufgaben und Zielen ergeben hatte. Es schafft sich leiblich und sozial eine Ausgangsposition, die es wahrscheinlich macht, dass es seine persönlichen Aufgaben und Ziele in die übergeordneten Ziele und Aufgaben einordnen kann.

Dann kommt man auf die Erde und hat alles das vergessen, hat die eigenen Geburtsimpulse vergessen. Das hohe Bewusstseinsniveau, auf dem man, sozusagen auf dem Höhepunkt seines Lebensgangs in der geistigen Welt, Entschlüsse gefasst hat, verdunkelt sich zunehmend, je mehr man sich mit seinem individuellen Gepäck ausstattet, je näher man der Erde kommt. Denn auf der Erde, gebunden an das Materielle, haben wir ein niedrigeres Bewusstseinsniveau als in der geistigen Welt. Und im Moment der Zeugung des künftigen Leibes schläft man dann geradezu ein. Eine direkte Erinnerung an die Ziele und Entschlüsse, an die »Geburtsimpulse«, mit denen wir wiederum auf Erden aufgetreten sind, gibt es im Regelfall während des irdischen Lebens nicht mehr. Stattdessen lebt man sich immer mehr ein in die irdischen Verhältnisse; irdische Bedürfnisse und Wünsche entstehen, die vor allem dadurch charakterisiert sind, dass sie im Horizont des Persönlichen verbleiben.

Und dann kommt die Pubertät: Das Ich, dieser geistige Wesenskern, erwacht in anfänglicher Art zu sich selbst. Das ist daran zu erkennen, dass der junge Mensch jetzt die Möglichkeiten seiner Autonomie und seiner ganz eigenen Individualität erkennt – ohne dass er sie im Moment schon konkret zu füllen wüsste. Zugleich mit diesem Ich erwachen die Ideale. Ein beachtenswerter Zusammenhang: Zu dem Zeitpunkt, da der Mensch ein erstes – auf die Mitmenschen mitunter recht schroff wirkendes – Bewusstsein seiner Eigenheit, ein erstes Bewusstsein seines ganz individuellen Schicksals entwickelt, da tauchen die Ideale auf – wie eine ahnende Erinnerung an die überpersönlichen Gesichtspunkte, die er in der geistigen Welt aufgenommen hat. Natürlich sind diese Ideale jetzt noch nicht ausformuliert, sie wirken vielleicht auch ein bisschen amüsant, aber sie enthalten immer den Impuls, dass der junge, gerade zu sich selbst erwachende Mensch es eines Tages besser machen möchte: Er wird alles besser machen und besser verstehen als seine so angepassten, festgefahrenen Eltern. Der eine will die Umwelt retten, der andere die Indianer in ihre alten Rechte einsetzen, der dritte ist sich sicher, dass es bessere, dem Menschen gerechtere Formen des Zusammenlebens gibt, als er sie zu Hause wahrnimmt, der vierte will einmal ein großer Erfinder medizinischer Geräte werden.

Sehen wir einmal davon ab, dass der Erwachsene gegenüber jungen Menschen häufig den Fehler macht, sie mit diesem Sehnen solange nicht ernstzunehmen, bis sie sich selbst nicht mehr ernstnehmen, aufgeben und in die Sphäre des persönlichen kleinen Glücks zurückkehren. Und dann ist zum Beispiel eine Bereitschaft dafür entstanden, die Drogenszene attraktiv zu finden. – Auf jeden Fall schließt sich der junge Mensch zunächst von der Erwachsenenwelt ab, weil er zu Recht empfindet, dass sein Sehnen nicht von dieser Welt ist, und wartet auf Möglichkeiten, das, was in ihm lebt, auf die Erde zu bringen.

Und dann wird er erwachsen, lernt einen Beruf, wird – wie man so sagt – realistisch, schraubt sein Sehnen immer weiter zurück und verfolgt zunehmend eigene Ziele. Besitz, Wohlstand und sozialer Einfluss stehen schließlich ganz im Vordergrund. Eine Zeit lang geht das auch gut. Dann aber, zwischen dem achtundzwanzigsten und fünfunddreißigsten Lebensjahr, taucht da ein merkwürdiger Zweifel auf – erst leise und immer wieder verworfen, aber stetig nagend und schließlich unüberhörbar: Ist das eigentlich alles?

Jetzt bin ich, sagen wir, dreiunddreißig, habe Erfolg im Beruf, bin angesehen, habe ein Eigenheim, eine »passende« Frau dazu, eine Lebensversicherung, außerdem bin ich Vorstand im Kegelverein, stellvertretender Betriebsratsvorsitzender, mein Hobby als Angler macht mir viel Freude – aber trotzdem: All das fühlt sich zunehmend irgendwie hohl, banal, unwichtig an. Steckt nicht noch etwas ganz anderes in mir? Bin ich nicht noch zu ganz anderem berufen? Soll das denn jetzt die nächsten dreißig Jahre so weitergehen? Und das Kreuz tut neuerdings auch weh, obwohl ich doch regelmäßig Sport treibe.

 

Solche Zweifel in der Lebensmitte können sich derart verdichten, dass daraus innerlich ein Bild wie von einem Schreckgespenst seiner selbst entsteht. Ich sehe mich selbst in all dem, was ich versäumt und vergessen habe. Meine Beziehungsschulden, meine unerledigten zwischenmenschlichen Aufgaben, meine täglichen kleinen Egoismen, meine Ausweichmanöver in Situationen, die mich zu klarer Stellungnahme herausgefordert hätten – kurz, ich sehe meinen Schatten. Ich sehe ihn mit dem drängenden Gefühl, dass das nicht so bleiben kann, dass es da noch etwas anderes geben muss, das meinem Leben Sinn gibt. Es kann doch nicht der Sinn sein, immer neue Besitztümer anzuhäufen und einflussreicher zu werden. Darin liegt doch ein Versäumnis. Aber was genau habe ich eigentlich versäumt? Worin besteht denn die Dimension, die meinem Leben fehlt? – Das ist die Frage der Lebensmitte.

Nun ist das keine abstrakt-philosophische Frage, die sich mit dem Besuch eines Volkshochschulkurses klären ließe, sondern es ist ein vital und existentiell erlebter, über Monate, manchmal Jahre durchlittener Selbstzweifel. Ein quälendes Gefühl elementarer Unvollkommenheit des eigenen Seins entsteht. So gelangt man in der Lebensmitte an einen Nullpunkt und fühlt sich von allen guten Geistern verlassen. Es ist eine Schwelle, die spüren läßt, dass das, was so weit getragen hat, nun nicht mehr weitertragen wird. Angst kann entstehen. Es ist eine Selbstbegegnung, als würde man einem Schreckgespenst begegnen. Rudolf Steiner nennt dieses Schreckgespenst den »kleinen Hüter der Schwelle«. Diese Begegnung muss nicht genau so, wie hier zusammenfassend beschrieben, erlebt werden. Sie kann auch einfach als Depression, als Gefühl der Sinnlosigkeit und der Leere auftauchen oder als ungerichtete Ruhelosigkeit.

Auf jeden Fall gibt es zwei Möglichkeiten, mit dieser Begegnung mit dem kleinen Hüter der Schwelle umzugehen: Ich kann zum einen den zunehmenden Zweifel zu übertönen versuchen, indem ich mich jetzt noch mehr in das hineinsteigere, was ich schon immer gemacht habe. Dann kaufe ich mir ein flotteres Auto, schließe noch eine Lebensversicherung ab, kaufe eine neue Möbelgarnitur und lasse mir für mein Hobby die neueste Angel aus Kanada kommen.

Eine andere Möglichkeit, dieser Hüter-Begegnung auszuweichen, liegt darin, dass ich jetzt dramatische Entschlüsse fasse: Ich fange noch einmal ganz neu an, mache meinen eigenen Laden auf, heirate eine andere Frau, oder ich wandere aus und züchte Schafe in Australien. – Darin liegt natürlich nichts Falsches, aber wenn es dazu dient, diesen grundlegenden Selbstzweifeln auszuweichen oder sie schnell zu beseitigen, dann ist es ungesund.

Ein ganz anderer Weg ist zwar anstrengender, macht aus diesem Tiefpunkt aber einen Wendepunkt: Ich kann versuchen, die Selbstbegegnung auszuhalten und hinzuhören, worauf sie hinaus will. Dann wird mir zunehmend hörbar werden, dass dieser kleine Hüter ungefähr so spricht: Du hast bis jetzt für dich, vielleicht noch für deine Familie gelebt, hast Besitz und Sicherheiten geschaffen – und das war auch richtig so. Aber indem du dich in das äußere Leben so mit Haut und Haar hineinbegeben hast, ist dir eine Dimension verlorengegangen – nämlich die, mit der du ursprünglich angetreten bist. Du bist gar nicht nur für dich selbst auf die Welt gekommen. Du merkst das daran, dass das Erreichte dir jetzt hohl wird, weil es nur dir gilt. Du hattest ursprünglich übergeordnete Ziele und Ideale. In deiner Pubertät hast du dich zunächst bruchstückhaft und vielleicht etwas emotional daran erinnert. Aber dann hast du sie wieder vergessen. Du bist ursprünglich auf die Welt gekommen, weil du einen Beitrag dazu leisten wolltest, dass die Gemeinschaft der Menschen und die Erde sich weiterentwickeln können. Es ist gut, dass du dir dafür in der ersten Lebenshälfte einen persönlichen Ausgangspunkt geschaffen hast. Du hast dir Fähigkeiten erworben, du kannst etwas. Aber jetzt beginnt deine zweite Lebenshälfte, und da brauchst du, um ein sinnerfülltes Leben zu führen, Anschluss an diese Ziele, die über dein persönliches Glück und Weiterkommen hinausgehen.

Auch diese Hüter-Begegnung muss nicht genau so erlebt werden, wenn man sich ihr stellt. Sie kann einfach eine Horizonterweiterung sein, ein Aufwachen dazu, dass es Wichtigeres gibt als das eigene, persönliche Glück. In der ersten Lebenshälfte, besonders als junge Erwachsene, fragen wir – zu Recht – zunächst: Was hat mir die Welt zu bieten? Jetzt, an diesem Wendepunkt der Lebensmitte, taucht die komplementäre Frage auf: Was eigentlich habe ich der Welt zu bieten? Was kann die Welt von mir erwarten? Womit kann ich mich zur Verfügung stellen?

Und nun kann man einen elementaren Entschluss fassen, der sich individuell ganz unterschiedlich ausnehmen mag: der Entschluss, sich mit dem, was man hat und was man ist, einzusetzen für übergeordnete Ziele und Ideale. Der Handwerksmeister, der sich einen kleinen Betrieb aufgebaut hat, gibt ihn jetzt auf und geht in ein Rehabilitationszentrum, um Behinderte in einen Beruf einzuführen. Der Arzt verkauft seine florierende Praxis, um am Aufbau des Gesundheitswesens in Indien teilzunehmen. Die Verkäuferin engagiert sich im Dritte-Welt-Laden et cetera. – Aber es müssen auch nicht so programmatische Änderungen eintreten; denn es ist nicht in erster Linie Kühnheit, sondern Entschlossenheit gefordert. Viele meistern diese Lebensmittekrise so, dass sie weiterhin das tun, was sie schon immer getan haben, aber jetzt ein neues, übergeordnetes Interesse damit verbinden. Sie bringen die Entschlossenheit auf, bei einer Sache zu bleiben, auch wenn sie äußerlich nicht so großartig erscheint. Sie haben jetzt, nachdem sie die Phase des Zweifels ausgehalten haben, Zugang zur geistigen Dimension dessen gewonnen, was sie alltäglich beruflich oder privat tun. Vielleicht verbinden sie damit auch gar nicht die großen Ideale, aber sie können jetzt zum Beispiel ihren Mitmenschen neu begegnen, an ihren Kollegen ganz neue, wesenhafte Züge entdecken, vielleicht zunehmend auf den Automatismus von Sympathie und Antipathie verzichten, der unser soziales Leben so unbefriedigend reguliert, und können einen Menschen in seiner Eigenberechtigung anerkennen. – So etwas ist mindestens ebenso wichtig wie das Gesundheitssystem in Indien.

Dieser Entschluss zum Überpersönlichen, der auf Erden zur Lebensmitte ansteht, antwortet auf den Entschluss, den man einst in der geistigen Welt gefasst hat, als man dort dem »großen Hüter der Schwelle« begegnete. Die Lebensmittekrise ist insofern eine Antwort auf den Entschluss, zur Erde zu kommen. Nach diesem Entschluss hatte man angefangen, sich den irdischen Verhältnissen wieder zu nähern. Dann lebte man sich zunehmend ein auf Erden. Gleichzeitig verlor man aber immer mehr den Anschluss an die geistige Welt. Und jetzt, in der Lebensmitte, in der weitesten Entfernung von der geistigen Sphäre, da entschließt man sich erneut zur Erde, und zwar wiederum zu ihrem überpersönlichen Aspekt, und gewinnt wieder Anschluss an die geistige Dimension.

Es ist aber nicht so, dass der Fall damit erledigt wäre, dass man, mehr oder weniger bewusst, solche Einsichten hat oder Entschlüsse fasst. Der »kleine Hüter« weicht nun nicht mehr von der Seite, das heißt, ab jetzt ist der Hüter immer dabei, was auch immer man tut und lässt. Ich blicke von nun an, bei allem, was ich tue, auch immer auf das, was ich noch nicht kann, was mir nur unzureichend gelingt, wo ich mich weiterentwickeln muss, um wirken zu können. Und das wird anstrengend. – Auch das Element, Entschlüsse fassen zu müssen, bleibt bestehen. Während sich nämlich in der ersten Lebenshälfte die Dinge meistens noch von selbst ergeben, Freundschaften, berufliche Werdegänge, Interessen, so muss ich das jetzt alles bewusst und mit Willen angehen. Zum Beispiel ergeben sich neue Freundschaften nach der Lebensmitte meist nicht mehr mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie zuvor. Jetzt entsteht Freundschaft eigentlich nur noch, wenn ich das will und bewusst herbeiführe. Ich muss jetzt bewusster auf andere Menschen zugehen. War ich früher noch wie getragen von den Umständen, so muss ich mich jetzt selbst tragen, sonst resigniere ich über die Kümmerlichkeit des Daseins. Der junge Mensch kann immer noch die Hoffnung haben, dass es besser wird. Jetzt muss ich es selbst besser machen, damit es besser wird. Insofern bin ich Herr meines Schicksals geworden. Es liegt jetzt in meiner Hand, worauf es mit mir hinausläuft. Man muss sich jetzt gezielt Gedanken machen, aus welchen Quellen man seine Zukunft gestalten will.

Das ist bis ins Körperliche festzustellen. Liegen nicht besondere Krankheiten vor, so erlebt man vor der Lebensmitte seinen Körper nicht. Jetzt aber lastet er zunehmend schwer. Mit etwa achtundzwanzig Jahren fängt der rein physische Abbau an – übrigens fängt er im Gehirn an –, und jetzt muss bewusst etwas für den Erhalt des Körpers, für Gesundheit und Beweglichkeit getan werden, sonst wird der Körper schnell zur Last und schränkt ein. Und seelisch ist das eben auch so. In den Jahren nach achtundzwanzig kann ein seelischer Abbau im Sinne einer um sich greifenden Perspektivlosigkeit beginnen, wenn nicht aktiv Perspektiven erarbeitet werden – und zwar solche, die über das hinausführen, was die eigene konkrete Person belangt.

Wie der Körper ab der Lebensmitte eine Sklerotisierungstendenz zeigt, eine Tendenz zu versteifen und zu verhärten, so ist es auch im Seelischen. Man muss etwas für seine seelische Beweglichkeit tun, aber eben nicht nur während der Lebensmittekrise, sondern ab jetzt immer. Und die Grundgeste dieser Beweglichkeit ist es, über sich selbst hinauszugehen, ein herzliches Interesse für all das zu entwickeln, was nicht Ich ist. Es geht jetzt um eine kontinuierliche Selbsterziehung.

Hier hat auch seinen eigentlichen Platz, was in den letzten Jahren als Biographieberatung bekannt geworden ist. Biographieberatung geht, wie bereits erläutert, nicht von der Frage aus: Wie hätten Sie Ihr Leben denn gerne? Vielmehr: Wie ist Ihr Leben geworden, und wie können Sie es jetzt sinnhaft weiterführen? Wie können Sie innerhalb des Rahmens, der in der ersten Lebenshälfte entstanden ist, so an sich arbeiten, dass Sie Anschluss an die Dimension des Geistigen, des Sinnhaften gewinnen? Biographieberatung kann eine solche Anleitung zur Selbsterziehung, zum übenden Umgang mit sich selbst sein, so wie das ab der Lebensmitte angebracht ist.

Einige einfache Beispiele für solch einen Übungsweg seien hier angedeutet: Man kann sich etwa vier Wochen lang jeden Abend kurz darauf besinnen, wenn man den Tag abschließt, was heute wesentlich und was heute nicht so wesentlich gewesen ist. Man kann sich das jeden Abend mit ein paar Stichworten aufschreiben. Macht man diese Übung, kommt man zu einem überraschenden Ergebnis: Es gibt nichts Unwesentliches. Was mir zunächst unwesentlich erschienen ist, erweist sich bei näherer Betrachtung eigentlich als ein kleines Versäumnis meinerseits.

Da ist er also schon wieder, der kleine Hüter. Dass ich heute morgen über den Staubsauger meiner Putzfrau gestolpert bin, scheint zunächst ein unwesentliches Ereignis zu sein. Aber wenn ich es genau betrachte, sagt es mir, dass ich die Arbeit der Putzfrau nicht ernst nehme und herumlaufe, als wäre sie gar nicht da. Ich habe kein Bewusstsein dafür, dass sie anwesend ist. Also nächste Woche, wenn sie wiederkommt, werde ich sie ansprechen und versuchen, ihre Arbeit bewusst wahrzunehmen.

So banal ist das mit der übergeordneten Dimension. Es geht nicht darum, in der Lebensmitte große Fahnen aufzurollen und aus dem Fenster zu hängen, sondern darum, da, wo man steht – oder, wie in dem Beispiel, wo man stolpert –, sich ganz auf das einzulassen, was vorliegt. Dadurch wird, was da ist, erst vollständig, erfüllt sich und gewinnt geistige Substanz.

Eine andere Übung könnte sein, das Alte neu zu tun. Statt also in der Lebensmittekrise alles hinzuwerfen und das Ticket nach Australien zu kaufen, könnte man sich systematisch damit beschäftigen, all das neu anzusehen und neu zu greifen, was man schon immer tut. Dazu ist es sinnvoll, kleine Gewohnheiten, die sich über Jahre eingeschlichen haben, probeweise einmal für vierzehn Tage zu ändern. Man könnte das Bild im Büro einmal an eine andere Wand hängen, nur für zwei Wochen; und sehen, wie das wirkt. Wenn es dann nach vierzehn Tagen wieder an seinem alten Platz hängt, wird man es neu sehen; und vielleicht sieht man auch sein Büro neu. – Oder man könnte einmal, nur für vierzehn Tage, statt morgens beim Frühstück den Kopf in die Zeitung zu stecken, die eigenen Kinder fragen, wie es denn in der Schule so geht. Danach liest man die Zeitung ganz anders. – Oder man könnte einmal, nur probeweise, den grünen Pulli anziehen, den einst die Schwiegermutter geschenkt hat und der nun seit fünf Jahren im Schrank hängt. Nur einmal zwei Wochen lang. Vielleicht sieht man dann nicht nur den Pulli anders.

 

Die Lebensmittekrise hat also ihren Sinn darin, auf die Entschlüsse zu antworten, mit denen wir einst auf die Erde gekommen sind. Sie hat nicht den Sinn, jetzt das Irdisch-Materielle zu verachten. Im Gegenteil, sie soll der Ausgangspunkt dafür sein, dass wir dem Irdisch-Materiellen Sinn geben können, dass wir es vervollständigen, dass wir es zu sich selbst führen, indem wir über das hinausgehen, was wir von uns gewohnt sind.

Nun gibt es aber Ausnahmen: Es gibt Menschen, die schon in sehr jungen Jahren konkret an der Verwirklichung ihrer Ideale arbeiten, offenbar aus einer mitgebrachten Selbstlosigkeit heraus. Und es gibt ältere Menschen, die nach überhaupt nichts streben, die keine Lust haben, sich um irgend etwas Übergeordnetes zu bemühen. – Wir können annehmen, dass wir beide Male Menschen vor uns haben, die ein besonderes Opfer bringen. Letztere führen den Materialismus und die Selbstbezogenheit auf die Spitze und führen ihren Mitmenschen damit vor, welche Trostlosigkeit in einem nicht-strebenden Leben entsteht. Und sie können möglicherweise eben dadurch wirken: Sie können Ansporn und Anlass sein für die anderen, sich selbst zu befragen, was Materialismus und Selbstbezogenheit betrifft. Es ist insofern nicht richtig, Menschen zu verurteilen, die über die Lebensmitte hinaus eine materialistische Gesinnung leben, die also nicht aufgreifen, worauf in diesem Kapitel hingewiesen wurde. Sie erfüllen vielleicht auch, indem sie so leben, eine große Aufgabe. Aber es hängt von uns ab, ob wir das so aufgreifen, als Ansporn, als Anlass. Erst dann haben diese Menschen ihre Aufgabe erfüllt, auch ohne dass sie sich dessen bewusst sind.

Und die jungen Menschen, die schon lange vor der Lebensmitte Anschluss an eine geistige Dimension haben und überpersönlich wirken können, opfern vielleicht ihre vollständige Individualisierung – möglicherweise auch, um Ansporn zu sein, aber jetzt aus der anderen Richtung. Sie leben etwas dar, was mitreißen soll. Und sie verzichten möglicherweise darauf, ganz – mit Haut und Haar – auf die Erde zu kommen, wie es der ersten Lebenshälfte gemäß wäre. Sie arbeiten sich nicht so umfassend in die irdischen Verhältnisse ein, bleiben insofern unvollständig, leben in einer gewissen Einseitigkeit, können aber gerade dadurch eine jugendliche Kraft für ihre Ideale zur Verfügung stellen, die der mittelalterliche Mensch nicht mehr hat. Und häufig ist es dann so, dass diese schon jung tätigen und wirkenden Menschen früh sterben oder schwer krank werden. Besonders wenn es sich um Künstler handelt, kann man den Eindruck haben: Sie wollten die Erde nur kurz berühren, die Menschen aufblicken lassen zu den Idealen – und dann gehen sie wieder.

So stehen also auch Ausnahmen noch in dem Sinnzusammenhang der Lebensmittekrise.

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