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Ein Werkstattbesuch bei zwei hiesigen Subrealisten

«Ich bin nicht Dokumentarist.»

Thomas Koerfer

«Dummerweise bin ich kein Dokumentarist.»

Otto F. Walter

Zwei Produkte, die gleichzeitig auf den Markt kommen, zwei Autoren, die, unabhängig voneinander, fast gleich lautende Erklärungen betr. Wirklichkeitsbezug ihrer Werke abgeben; ein Buch und ein Film mit höchsten gesellschaftskritischen und ästhetischen Ansprüchen (Otto F. Walter lässt in seinem Buch den Autor Wander ein Buch über «Ein Wort von Flaubert» schreiben, Thomas Koerfer erläutert, im Gesprach mit NZZ-Filmkritiker Schlappner, eine Szene eines Films, welche ihn «auch dramaturgisch fast in einer shakespearschen Dimension» interessiere); eine Unisono-Kritik, die auf beide Produkte mit den höchsten Tönen reagiert, Klara Obermüller z.B. macht in der WELTWOCHE einen Handstand vor Begeisterung, Alois Bischof in der WOZ spricht von «einem ungeheuren reflexiven Potential» bei Otto F., Schlappner in der NZZ weiss vor Entzücken seine Tinte nicht mehr zu halten, endlich wird, dank Koerfer, ein Unternehmer im Schweizer-Film realistisch, d.h. «fair» geschildert –

Es ist Herbst geworden, die Herbst-Kollektion ist da und sind wir glücklich soweit, dass die Subversion von jenen, welche subversiert werden sollen, gelobt wird, die NZZ, mit welcher der Autor Walter «hart und unerbittlich ins Gericht geht» (Alois Bischof über die Darstellung der Pressefreiheit durch Walter), spricht von einem «zeitkritischen Bewusstseinsprozess». Endlich ist auch, wenn man der Kritik glauben will, zwei Autoren eine perfekte Verschmelzung von Privatem und Öffentlichem gelungen, auch die Frauenfrage ist gelöst, «eingebettet aber in diesen zeitkritischen Bewusstseinsprozess sind Liebesbegegnungen von lyrischer Zartheit, Frauenfiguren, die in ihrem sensiblen Wahrnehmen und spontan richtigen Handeln nicht anders als ideal anmuten, Naturschilderungen sodann von mythischer Abgründigkeit» (NZZ). Und wer müsste der NZZ nicht recht geben: die Frauen werden von Walter wirklich eingebettet, in den Himmelbetten der Allegorie, und dort liegen sie dann, unbeweglich. Wie es in den Betten, vor den Betten, nach den Betten wirklich zugeht, dafür braucht sich Walter, der dummerweise kein Dokumentarist ist, nicht zu interessieren. So wie Koerfer nicht darüber reflektieren muss, in welchem Ton ein schweizerischer Rüstungsindustrieller während des Krieges mit dem Nazi-Botschafter spricht, denn dieser Industrielle ist nicht mit Bührle identisch (lässt Koerfer verlauten), er heisst ja im Film auch wirklich Korb, nicht Bührle, obwohl es andrerseits in der Wirklichkeit nur einen Rüstungsindustriellen gab, und der hiess eben doch wirklich Bührle – so muss sich Walter keine präzisen Vorstellungen von Konfliktabläufen beim TAGES-ANZEIGER machen, von Redaktions-Sitzungen und Zensurmechanismen, denn der TAGES-ANZEIGER kommt ja nicht vor, nur die SCHWEIZER-ZEITUNG, aber die hat in Walters Buch ein Magazin, und ein Auto-Importeur sperrt ihr die Inserate (hat man das nicht auch schon gehört), aber indem Walter diese Zeitung SCHWEIZER-ZEITUNG nennt und nicht TAGES-ANZEIGER, ist er fein raus und kann auf den Vorwurf der mangelnden Präzision antworten, er sei ein «Autor, der versucht, Subjektives und Gesellschaftliches zusammenzubringen, wobei das Gesellschaftliche, das Dokumentarische als Exemplarisches Verwendung findet». Um exemplarisch werden zu können, müsste das Dokumentarische aber präzis gewesen sein.

*

Kein Autor kann sich freuen, wenn Bücher oder Filme missglücken. Im Gegenteil, jeder ist darauf angewiesen, dass ihn die Produkte der Kollegen weiterbringen, anregen, in Frage stellen, beissen, zwicken, fördern. Ich stelle mir die Schreib-Arbeit, Film-Arbeit nicht nur als einsame, manchmal verzweifelte Tat vor, sondern auch als Resultat eines kollektiven Schubs, von dem wir alle gepresst werden, oder als Beitrag zu einer nie fertigen Tapisserie, wo jeder sein Stück einsetzt und jeder sich besser entwickeln kann, wenn das zuletzt entstandene Produkt mit kunstverständiger Sinnlichkeit gemacht worden ist. Als Koerfers Produzent Hubschmid mir im Frühling von diesem Film erzählte, der ganz unumwunden, manchmal drastisch, jedenfalls deutlich die Welt des Rüstungsindustriellen schildere, und als ich von Otto F. Walters Bemühen hörte, den TAGES-ANZEIGER und dessen Konflikte in sein Buch einzubauen, habe ich mich selbstverständlich gefreut. Man freut sich immer, wenn ein bisschen Wirklichkeit aufs Tapet kommt, nicht mehr um sie herumgeschrieben oder gefilmt, sondern in sie hineingeschrieben wird, wie in einen Abszess, den man zum Platzen bringt. (Die Schreibkunst von Flaubert wurde nicht ohne Grund mit einem Skalpell verglichen.) Natürlich habe ich mir keinen Abklatsch der Wirklichkeit vorgestellt, den gibt es auch im rein Dokumentarischen nicht, sogar die «härteste» Reportage, und die vielleicht ganz besonders, braucht Phantasie, Notieren und Montieren geht nicht ohne Einbildungskraft (– wie hört man zu? wie bringt man wen zum Reden? wie setzt man in Sprache und Bilder um? was spart man aus, um hervorzuheben?) – aber ich habe mir vorgestellt, Walter und Koerfer, die beiden schönen Flugmaschinen, würden sich einen harten Boden aussuchen, damit sie die richtige Startgeschwindigkeit erreichen auf der Grundlage des Realistisch-Dokumentarischen und sie dann WIRKLICH abheben können, und ich ihnen aus der Tiefe, ganz ausgeflippt vor Begeisterung, zuwinken darf … Hätte ich doch viel lieber getan, statt ihren Fehlstart zu beklagen. Das Beschreiben der Wracks am Ende der Piste ist keine schöne Aufgabe. Muss aber sein. Leider!

*

Zum Vergleich: Federspiel oder wie man es auch machen kann. In seiner Ballade von der typhoiden Mary steckt, nach Aussagen des Autors, etwa 3% Dokumentarisches, der Rest ist «erfunden» oder gefunden. Wo? In zeitgenössischen Berichten über New York und Amerika. Federspiel hat so lange in Bibliotheken gearbeitet, bis er sich eine genaue Vorstellung vom realen New York machen konnte, wo dann seine Mary völlig surreale Dinge unternimmt, die wirklicher sind als die Wirklichkeit, jedenfalls mögliche Sachen, die mit logischer Phantasie aus den Umständen entwickelt werden, und so denkt der Leser denn auch nie: Das ist abstrus, sondern: That's it, genau so werden die Herrschaften eben von einer Küchenmamsell vergiftet. Das denkt der Leser, weil Federspiel eine Anschauung von New York hat und einen Begriff von der Sprache in allen Etagen von Herrschaftshäusern.

Oder auch zum Vergleich: Imhoof, das Boot ist voll. Man kann einiges gegen diesen Film einwenden (die Wut des Zuschauers fährt auf einen kleinen Pinggel, den Dorfpolizisten, ab, der Zuschauer darf sich allzu schnell erleichtern), aber das Dorf im Schaffhausischen, welches kollektiv die Flüchtlinge in den Tod nach Deutschland zurückschickt, ist möglich, auch wenn es nie existiert hat, die Sprache stimmt, der gförchige Wirt ist einleuchtend, der Schaffhauser-Dialekt geht dem Zuschauer an die Nieren, es findet eine Beängstigung statt. Ich nehme an, Imhoof hat solche Dörfer gekannt, er hat sich dokumentiert, das Dorf ist kein Versatz-Stück, sondern es redet seine eigene wirkliche Sprache. Der Film geht nicht ÜBE, sondern aus dem Dorf heraus. Das Dokumentarische findet dann als Exemplarisches Verwendung …

Von Emile Zola weiss man, dass er mehrere Male auf dem Führerstand einer Lokomotive mitgefahren ist, bevor er «La bête humaine» geschrieben hat (Eisenbahnmilieu! Die Lokomotiven stimmen), und Gustave Flaubert – man darf ihn nochmals erwähnen, weil Walter sich ausdrücklich auf ihn bezieht – hat sich so gründlich mit der Wirkung des Rattengiftes auf den menschlichen Organismus beschäftigt, dass er echte Vergiftungserscheinungen aufwies, durch Empathie, als er mit der Beschreibung der Vergiftung seiner Madame Bovary beschäftigt wa, – und so kommt sich denn auch der Leser wie vergiftet vor, wenn er diese Stelle liest.

Bei Walter & Koerfer habe ich dieses Gefühl (Gewissheit!), dass die Fiktion eine neue Wirklichkeit ist, nie, weil ihre Fiktionen der Wirklichkeit nicht zuerst aufs Maul geschaut und sie erst dann überhöht haben, sondern willkürlich ins Blaue hinaus fiktioniert sind. Es sind mühsame Konstrukte, die jeder Wahrscheinlichkeit entbehren, zurückgeblieben hinter der Realität, sub-realistisch statt, wie vermutlich angestrebt, mit einem Hauch von Sur-Realismus belebt. Beide bringen, wenn es besonders dämonisch und/oder traumhaft werden soll, Tiere ins Spiel: Walter lässt eine wunderbare Prozession von Lurchen (bekannte urnerische Landplage) über die Gotthardstrasse kriechen, auf welchen Lurchen jenes Auto, das unser Liebespaar nach Italien bringen soll, ausschlipft, sodass dann im Maderanertal übernachtet werden muss statt in Italien; in welchem Maderanertal nachts im Licht von Jeepscheinwerfern ein Stier auf garantiert bestialische Art ÜBER DIE DÖRFER und lebend angebraten wird (vgl. die wiederholte Kampagne des Tierschutzes gegen das Uri-Stier-Kreuzigen), und Koerfer lässt einen Teddy-Bär plötzlich zur Lebensgrösse anschwellen, Achtung Kinderphantasie, und den Industriellen Korb erlegen, welcher ausserdem von einem Adler zu Tode gehackt wird, nachdem er sein italienisches Dienstmädchen gevögelt hat. Der Umgang mit plötzlich auftauchenden Tieren ist aber etwas vom Heikelsten. Buñuel kann das, Abel Gance auch, sein Napoleon-Adler ist einleuchtend; Koerfers und Walters Tiere sind ausgestopft.

Mit der Liebe ist es auch nicht einfach. Wie sehnt man sich nach Liebesszenen in unserer Literatur! Nach Leidenschaft! Walters Held Wander ist ein hölzernes Männchen, das alle feministischen Theoreme plakativ vor seinen Bauch hält oder als Sprechblase absondert. Von seiner Frau ist er geschieden, aber da ist keine Bitterkeit zurückgeblieben, obwohl es eine teuflische Ehe war, man trifft sich unschuldig wie Bruder und Schwester (bisschen Inzest wäre nicht schlecht), sie studiert jetzt halt Psychologie an der Uni, isst während des friedlichen, harmonischen Beisammenseins Seezunge mit Zitrone und parliert ganz nett. Mit Ruth will er ins Bett (in die Pfanne), getraut sich aber zuerst nicht recht, weil das doch allzusehr einer Situation ähneln könnte, die Winter, sein anderer Romanheld, im Roman schon vorausgenommen hat, schliesslich gelingt das aber doch noch leidlich und beschert uns eine der bedeutendsten Kitsch-Szenen der hiesigen Literatur: «Er fühlte das winzige Zittern in ihren Schultern, und selbst als ihr Mund sich ganz wenig öffnete und ‹Du› sagte …», und als sie dann «Du» gesagt hatte wie in einem Bastei-Roman Modell 1955, muss man sich hin und her überlegen, ob ein politisch bewusstes Liebespaar, wenn es brünstig wird, nach Italien fahren darf, weil dort ist auch nicht alles ideal, Streiks werden unterdrückt und viel Polizei, viel Korruption und die Genossen von Lotta Continua (Lotta, wollen wir nicht kontinuieren statt immer interruptieren?) werden auch verfolgt, jedoch andrerseits die Städte schön, vor allem die Altstädte, und viel gesundes Brauchtum noch im Schwang, Italien Italien, und wären sie nach allem Abwägen des Dafür und Dawider auch dorthin gefahren, wenn nicht die Lurche ihre Reise frühzeitig durchlurcht hätten (Kt. Uri). Immerhin entdecken sie dann ganz in der urnerischen Höhe ein Hotel, wo sie die einzigen Gäste sind, immer höher geht es hinauf, man merkt: Jetzt soll die Stimmung unheimlich werden in dieser Bergeinsamkeit, aber das Unheimliche (shining!) kommt und kommt nicht, weil die Sprache nicht unheimlich ist, hingegen kommt Adalbert Gamma, der Hotelier in seinem vergammelten Hotel, das kurz vor der Schliessung steht. Im Zimmer, wo sie dann endlich allein sind, enfin seuls, passiert auch wieder nichts von dem, was passieren könnte, wenn zwei Menschen Lust aufeinander haben, hingegen macht man sich Sorgen, ob die Genossen drunten in Zürich, welche die Abreise des Liebespaares mit scheelen Augen beobachtet haben, ist doch bei der SCHWEIZER-ZEITUNG eben ein kleiner Aufstand im Gang, ob die Genossen nicht unzufrieden seien über ihre Abwesenheit. Nachdem noch das Waldsterben (das auch noch, nach allen andern aktuellen Themen: Zeitungssterben, Freiheitssterben, Kurdensterben) in diese Szene hineingestopft und der mythische Stier gekreuzigt worden ist, fahren die beiden zurück und helfen den Genossen in Zürich, welche romantische Sitzungen in einem Hinterstübchen abhalten (viel Zigarettenrauch!) beim Basteln einer wackeren neuen Welt. Über die Beschreibung des TAGES-ANZEIGERS, alias SCHWEIZER-ZEITUNG, hat einer, der es wissen muss, nämlich Christoph Kuhn, geschrieben: «Ich stelle als einer, der seit siebzehn Jahren bei dieser Zeitung arbeitet, fest, dass wir die Irritationen, Entwicklungen und Veränderungen an unseren Sitzungen sehr viel unreiner, banaler, pragmatischer erlebt haben, weniger pathetisch und weniger dramatisch» (TAGES-ANZEIGER vom 20. September 1983). Und wer das nicht glaubt, der soll im letzten Buch von Laure Wyss – auch eine, die es wissen muss – das Kapitel «Der Korridor» nachlesen. Das ist sehr beängstigend: wie Laure Wyss das quälend langsame, als persönliches Drama erlebte Mutieren «ihrer» Zeitung beschreibt. Sie hat etwas zu diesem Thema zu sagen, darum sagt sie es genau. Sie ist an Genauigkeit interessiert. Die Heldenfiguren von Walter, die «Frauenfiguren von lyrischer Zartheit» (wie die NZZ richtig sagt), die politischen Gruppierungen in diesem Buch, welche ganze Schlagwortkataloge herunterraspeln, die bringen keine Wirklichkeit, und ihre «Phantasie» ist derart abgehoben, uninkarniert, dass sie nicht auf die Realität zurückwirken kann. Natürlich ist der Roman «raffiniert» konstruiert: mit seinen verschiedenen Ebenen. Es ist die Raffinesse eines Baumeisters, der mit den Lego-Bauklötzchen aus dem Lego-Baukasten hantiert, d.h. mit den netten, zurechtgefeilten Elementchen einer vorrealen Welt. Soviel Naivität ist dann nicht mehr unschuldig, sie kämpft auch nicht «Wider die Resignation», sondern für Entwirklichung.

Ganz ähnlich unwirklich Koerfers Liebe, nur andersherum. Während Walter alle Liebes-Szenen entsinnlicht, trägt Koerfer mit dem grossen Verruchtheits-Pinsel auf. So eine geile Madame, die auf dem Kaminsims mit einer kostbaren Metallplastik masturbiert: so eine Plastik und so eine Frau hätte jeder Zuschauer auch gern zu Hause. Das wäre ja ein richtiger Softporno geworden, wenn Koerfer in diesem Stil weitergemacht hätte. Viel interessanter als diese geile Nudel, so wage ich zu behaupten, sind die wirklichen Gattinnen der Industriellen in unserm puritanischen Zürich, oder auch ihre Schwestern: echte «précieuses ridicules», und eben gar nicht so sinnlich, sondern brav im Haushalt und bei der Repräsentation ihres Gatten mitwirkend und auf ihre bescheidene Art die Reputation des Hauses mehrend und das Kapital vermehrend. Wäre Korb (Bührle) mit einer solchen Frau, wie sie im Film agiert, gesegnet gewesen: er hätte in der harten Industriewelt nicht Karriere machen können. Das Erschütternde an unsern Industriellen ist ja eben, dass es keine viscontischen Götter, weder Krupps noch Schneiders (Schneider-Creusot, Frankreich) sind, sondern verklemmte, brave, auch brav Kunst sammelnde Spiesser, die sich nach unten ans Kleinbürgertum anpassen und nicht auffallen dürfen, was ihren Lebensstil betrifft. Aber das interessiert Koerfer, der eine gewaltige Freske der Verruchtheit entwerfen wollte, nicht. Zwar strotzt sein Film von historischen Figuren, genau benennbaren, wie z.B. General Guisan, den es wirklich nur in einer einzigen Ausführung gegeben hat, in der Wirklichkeit – und der bei Koerfer ein klappriges, vor dem Rüstungsindustriellen Korb scharwenzelndes Männchen wird. Auch einen englischen Botschafter hat es während des Krieges in der Schweiz wirklich gegeben: auf den damals wichtigen Posten (Spionage etc.) hat man nicht den naivsten aller Diplomaten gestellt. Genau so wirkt er aber bei Koerfer: ein zittriger Greis (Parkinson), der von dem kleinen Polen-Mädchen, das Familie Korb aufgenommen hat, erfährt, wie grausam die Nazis in Polen wüten – und der darauf voller Entrüstung die Party bei Herrn Korb verlässt und ihn mit englischen Sanktionen bedroht. Hier wird der Film besonders peinlich, denn Koerfer hat dokumentarische Fotos von wirklichen Konzentrationslagern eingeblendet; wobei jedermann heute weiss, dass die Alliierten über die Vernichtungslager in Polen genau orientiert waren und nur deshalb nicht eingegriffen hatten, weil ihnen ihre Flugzeuge zu schade und andere militärische Aufgaben vordringlich waren. Also wirkt es lächerlich, wenn im Film der englische Botschafter sich von einem Kind über die deutschen Grausamkeiten orientieren lässt und dann eine grosse Gemütswallung zeigt und eine Änderung der englischen Politik in Aussicht stellt …

Auch hier, bei Koerfer, das raffinierte Spiel mit zwei Ebenen. Nur stimmt keine von beiden, der historische Teil ist fahrlässig-unverbindlich-melodramatisch dargestellt, und der aktuelle Part (Wehrschau) gleitet in Lächerlichkeit ab, z.B., wenn die aufgedonnerte polnische Journalistin ihre aufgeregten Fragen stellt. Schweizerische Offiziere antworten übrigens, trotz allem, nicht so doof an einer Pressekonferenz. Eine politische Diskussion wird es um Koerfers Film nicht geben. Man kann über diese Unwirklichkeit nicht diskutieren.

Noch ein gemeinsamer Nenner, auf den man Walter & Koerfer bringen kann: die Humorlosigkeit. Humor, und besonders seine schwarze Variante, entsteht bekanntlich aus genauem Hinschauen, aus exakter Beschreibung von Menschen und Situationen. Siehe Flaubert oder Frisch. Das Gegenteil der Präzision, idealistisch-ungenaues Schreiben und Filmen, die Degradierung von Personen zu Ideenkleiderständern, produziert scheppernde Pathetik, das Gegenteil von echtem Pathos, also eine Form von Kitsch, d.h. unfreiwilligen Humor. Diesbezüglich haben die beiden Autoren neues Terrain erschlossen.

*

Aber vielleicht darf man vom Wirklichkeitsbezug bei Walter & Koerfer wirklich nicht reden, sie haben jede Kritik mit der Bemerkung, sie seien keine Dokumentaristen, abgeschmettert. Dummerweise.

… und jetzt noch ein Wort über Flaubert: (aus dem Vorwort zu «TROIS CONTES», Flammarion 1965): «Er verwandte grösste Sorgfalt darauf, die Fiktion mit höchst exakt recherchierten Einzelheiten glaubwürdig zu machen, er machte sich zur Pflicht, eine Menge historische Details, Sitten und Gebräuche zu überprüfen, und vernachlässigte dabei weder die Geographie noch die Astronomie, noch die sprache des Landes, das er heraufbeschwören wollte. Er befragte ständig die Spezialisten.»

Inglins Spiegelungen

Im Hinblick auf Otto F. Walters dickleibigen Roman «Die Zeit des Fasans» (612 Seiten) ist jetzt allenthalben von Meinrad Inglins noch umfangreicherem «Schweizerspiegel» die Rede (1066 Seiten, Ausgabe von 1938). Es ist eine allgemeine Freude darüber im Gange, dass die Schweiz jetzt wieder einen Spiegel vorgesetzt bekommen habe, dem man vertrauen könne wie seinerzeit dem Inglinschen.

«Otto F. Walter hält in einer geglückten Vermischung von Familiengeschichte und Schweizer Geschichte unserem Lande einen (Schweizer) Spiegel vor», schreibt der «Sonntagsblick», und im TAM konnte man lesen: «Auf ihre Reise in den Süden hat Thom – hat Otto F. Walter – Lisbeth ein Lieblingsbuch mitgegeben, Meinrad Inglins ‹Schweizerspiegel›. Dieser einzigartige Gesellschaftsroman, der einzige, den die Schweizer Literatur dieses Jahrhunderts hervorgebracht hat, unser ‹Krieg und Frieden›, ist das Vor-Bild von Otto F. Walters ‹Zeit des Fasans›, ein Projekt, das die Schweiz erzählen sollte, so erzählen, wie man es heute noch kann.»

Meinrad Inglins grosser Roman als Gold-Standard, an dem die übrige Literatur gemessen wird, neben dem das andere Münz verschwindet – der «einzige Gesellschaftsroman der Schweizer Literatur dieses Jahrhunderts». Es ist, als ob Ramuz, Adrien Turel, Robert Walser («Der Gehülfe» ist wohl kein Gesellschaftsroman?), Jakob Bosshart, Jakob Schaffner, Diggelmann, Loetscher nicht gelebt hätten, die neu entfachte Inglin-Begeisterung hat sie alle ausradiert, und «Stiller» ist halt auch kein Gesellschaftsroman. Von Gipfel zu Gipfel grüssen sich die Giganten über die Jahrzehnte hinweg, Otto F. Walter salutiert Meinrad Inglin, und über den Gipfeln ist Ruh, und zwischen ihnen sind nur Geröllhalden.

Einzigartig, allerdings, ist Inglins dickes Buch, auch opus magnum genannt, tatsächlich. Die Gattung «Gesellschaftsroman» erhebt den Anspruch, eine Gesellschaft, bei Inglin die schweizerische von 1912–1918, in ihrer ganzen Breite und Tiefe und ihren Konflikten darzustellen, und der «Schweizerspiegel» hat denn auch «vielen mehr über die jüngste Schweizer Vergangenheit begreifbar gemacht als Schule und Elternhaus» (Lotta Suter). Das ist möglich; die Geschichtsbücher sind eh so langweilig und lückenhaft.

Aber –

Was erfahren wir von der wirklichen Gesellschaft 1912–18 im «Schweizerspiegel»? Wie tief hinunter, wie hoch hinauf schweifte Meinrad Inglin? In welcher Schicht hielt er sich auf? Wovon hatte er eine Ahnung oder einen Begriff, und was hat er ausgeklammert? Von welcher Gesellschaft hat er einen Dunst?

Inglin Meinrad, geb. 1893, kath., Sohn des hablichen alteingesessenen Uhrmachers/Goldschmieds/Dorfpatriziers Meinrad Inglin von Schwyz und der einer Hoteliersdynastie entstammenden Josephine Eberle. Besuch der Mittelschule am Kollegium «Maria Hilf» in Schwyz, Arbeit als Kellner, 1913–14 Universitäten Neuchâtel und Genf, Faculté des Lettres. Freier Schriftsteller mit finanziellen Schwierigkeiten, der Vater ist schon 1906 gestorben (Bergtod). Kampf mit den Verlegern (das Übliche), die meisten frühen Manuskripte werden ihm zurückgeschickt. Nietzscheanische Anwandlungen, Schwärmen für aristokratische Lebensformen («Herr Leutnant Rudolf von Markwald», 1916, «Phantasus»). 1915 Offiziersschule in Zürich, Leutnantspatent. Langer Aktivdienst im Jura, Tessin etc. Redaktionsvolontär am «Berner Intelligenzblatt» (freisinnig) und später an der «Zürcher Volkszeitung». 1922 für kurze Zeit in Berlin; nebst späteren Italienreisen der einzige Auslandaufenthalt. In den Städten ist ihm auf die Dauer nicht wohl, da fehlen ihm z.B. die Gemsjagd und andere Urwüchsigkeiten. 1922 zurück nach Schwyz, das er aber fluchtartig verlassen muss, nachdem sein Roman «Die Welt in Ingoldau» erschienen ist (1922), in welchem sich zahlreiche Eingeborene zutreffend geschildert, d.h. verhöhnt, fühlen. Vorübergehend Asyl in Zürich, wo auch seine zukünftige Frau Bettina, geb. Zweifel, Tochter eines kleinen Bankiers, lebt. (Der Bankier war knausrig mit seinem Schwiegersohn.) Von 1923 sodann bis zu seinem Tod 1971 sozusagen ununterbrochen in Schwyz verharrt, wo er bei einer Verwandten kostengünstig unterschlüpfen konnte. Finanziell knapp über Wasser, den Kopf aber immer patrizisch hoch getragen, nett integriert in der Schwyzer Dorfaristokratie (Gemsch, von Reding). Im 2. Weltkrieg nochmals Aktivdienst als Oberleutnant. 1948 Ehrendoktor der Universität Zürich, darf im Sechseläuten-Umzug mitmarschieren. Wird jetzt in Schwyz nicht mehr als «Herr Oberleutnant» angesprochen, sondern als «Herr Doktor», was er schätzt.

Von 1932 bis 1938 schreibt er am «Schweizerspiegel». Etwa grad so lang wie Otto F. Walter an seinem ornithologischen Projekt «Zeit des Fasans». Man merkt's.

Inglins Roman (eben ist er im Ammann-Verlag neu aufgelegt worden), von dem die «Süddeutsche Zeitung» schrieb, er behandle wie in einem PANORAMA die politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen in der Schweiz von 1912–1918, stellt die Familie Ammann in den Mittelpunkt. «Panorama» würde bedeuten, dass die Gesellschaft mit dem Weitwinkelobjektiv erfasst ist, also am oberen Rand die tonangebenden Bankiers, Industriellen, Militärs ins Bild kommen, Figuren wie die Eschers, Schwarzenbachs, Schulthessen, Bodmers, Rieters, Abeggen und ähnliche: und am untern Rand die Anarchisten, Sozialisten, Dadaisten, Refraktäre und Deserteure mit Saft und Kraft geschildert würden. Dem ist aber gar nicht so. Der obere Rand ist abgeschnitten, Inglins Blick vermag nur bis zum mittleren Bürgertum vorzudringen, und das untere Volk ist ein gestaltloses Gebrodel, eine ungeknetete Masse; das Arbeiterquartett Burkhart-Bär-Wegmann-Keller wird dem Leser weder zu Hause in den Wohnungen noch am Arbeitsplatz vorgeführt, und die Sprüche, die sie absondern, quellen ihnen wie Volksrecht-Leitartikel aus den Mündern.

Fabriken mit ihrem Innenleben gibt es nicht bei Inglin, obwohl Zürich damals längst eine Industriestadt war. Warenhäuser sind nicht vorhanden (Jelmoli florierte seit langem). Von Banken liest man nichts – die Kreditanstalt stand unübersehbar am Paradeplatz. Und die herrschaftlichen Residenzen mit ihren schönbaumigen Riesenwunderpärken, den Stallungen und der Dienerschaft, den glänzenden Empfängen und exquisiten Banketten und den hervorragenden Intrigen sind einfach ausgeblendet.

Und weil es diese prächtige Grossbürgerwelt bei Inglin so wenig gibt wie die Industriemisere, glaubt Inglins Leserschaft bis heute, es habe sie auch in der Wirklichkeit nicht gegeben. Denn Inglin ist ja, laut «Kindlers Literaturgeschichte der Gegenwart», Ausgabe von 1974, «eine fast monumentale Darstellung der Schweiz im Ersten Weltkrieg aus der Sicht eines überlegenen Erzählers gelungen, der als Sachwalter des Ganzen in Sicht und Stil dem klassischen Geschichtsschreiber gleicht». Klassisch …

Wie dieser Inglin-Mythos entstehen konnte, ist rätselhaft (der Mythos von Inglins Panoramablick). Und dass ein gescheiter Kollege wie Martin Schaub allen Ernstes in einer grossen Zeitung behaupten kann, der «Schweizerspiegel» sei mit Tolstois «Krieg und Frieden» zu vergleichen, also mit dem gewaltigen, realistischen Epos des napoleonischen Krieges in Russland, ist noch rätselhafter. Denn seit 1976 gibt es eine detaillierte, kenntnisreiche Inglin-Biographie von Beatrice von Matt, in der man – die Autorin ist übrigens ihrem Dichter sehr gewogen – lesen kann:

«Eine sehr achtbare Zürcher Familie mit drei Söhnen und einer Tochter steht im Mittelpunkt. Ihre Mitglieder bewegen sich als Repräsentanten innerhalb eines bestimmten helvetischen Durchschnitts.» («Meinrad Inglin. Eine Biographie», Zürich 1976, S. 174) Beatrice von Matt hat sich die Mühe genommen, den alten Inglin nach den wirklich existierenden Modellen für seine Romanfiguren zu befragen, und aus der Diskrepanz zwischen lebendigen Modellen und künstlichen Figuren kann man unschwer ablesen, dass Inglins zürcherische Gesellschaft eine sehr geschrumpfte war, eine vom Bewusstsein des oberen Mittelstands wahrgenommene Welt. (Sehr achtbar.) Da geht ein Landpatrizier in der Stadt spazieren und nimmt auf, was ihm sein Koordinatensystem aufzunehmen gestattet.

Wie war das bei Gottfried Keller? Der als unübertroffener helvetischer Realist gerühmte Erzähler: Was erzählt er, während sein Freund Alfred Escher mit Bismarck auf höchster Ebene um den Gotthard-Durchstich pokert, die Geldströme in die Schweizerische Kreditanstalt leitet wie irgendeine Balzac-Figur, die Eisenbahnspekulation ins Kraut schiessen lässt und in der Villa Belvoir die Finanzmagnaten aller Herren Länder üppigstens bewirtet? Während am Gotthard gestreikt und einige Arbeiter erschossen werden, im Zürcher Oberland in den Fabriken der Textilbarone Gujer-Zeller und Kunz malocht und gehungert wird wie in einem Roman von Dickens? Und etwa 15% der schweizerischen Landbevölkerung von der Hunger-Misere zur Auswanderung gezwungen werden? Er erzählt seine Handwerker- und Schützenfestgeschichten, seine vorindustriellen Kleinstadtidyllen und Schnurrpfeifereien, und wenn's hoch kommt, hat ein mittlerer Handelsherr wie Martin Salander ein paar Schwierigkeiten, weil der betrügerische Kompagnon ihm das Wasser abgräbt. Die Profitgier, Motor des 19. Jahrhunderts: bei Keller eine Ausnahmeerscheinung, die man sich mit gesundem Bürgersinn vom Leibe halten kann, etwas Artfremd-Unschweizerisches, das nicht zu unserem Wesen gehört, die Akkumulationswut als vorübergehende Entgleisung – während sie bei Balzac schon vierzig Jahre früher als Regulativ erkannt wird und als Herz des neuen geldorientierten Systems. Dabei waren die Schweizer Bankiers der siebziger Jahre um nichts harmloser als die Bankiers zu Balzacs Zeiten unter Louis Philippe, nur unsere Schriftsteller waren harmloser als die französischen und viel gemütlicher.

Ungleichzeitigkeit von Literatur und Leben.

Aber natürlich, bei uns war und ist alles halt doch anders als anderswo, nicht so krass, in Frankreich und England waren doch die Gegensätze viel himmelschreiender. Woher wissen wir das? Aus Gottfried Kellers Werken. O du unausrottbare Gewissheit! Weil Gottfried Keller keinen Roman über Bodenspekulation und Bauwut geschrieben hat wie z.B. Emile Zola («La curée»), hat es damals vermutlich auch keine Bodenspekulation gegeben. Wirklichkeit als Post-festum-Produkt der zaghaften Phantasie unserer Erzähler.

Keller, das ist bekannt, hat Zola, seinen Zeitgenossen, verabscheut. So ein kruder Bursche, beschäftigt der sich doch sogar mit Prostitution («Nana»), mit Lokomotivführern («La bête humaine»), mit Kohlenförderung und Streiks und Armee-Einsätzen («Germinal»). Und auch mit Warenhäusern («Au bonheur des Dames»). Kein Thema für einen Dichter, fand Keller, und kippte noch einen hinter die Binde im Zunfthaus zur Meise, wo er immer gewohnheitsmässig soff, schon lange bevor dort das neue Buch von Otto F. Walter Premiere hatte und der Buchhändlerschaft vorgestellt wurde, im Herbst 1988. Natürlich gab es Lokomotivführer und Streiks und Prostitution auch in der Schweiz, aber G. Keller hätte vielleicht einmal seinen müden Staatsschreiber-Arsch ein bisschen lupfen und zum entstehenden Gotthard-Tunnel reisen müssen oder in die Fabriken des Spinnereikönigs Kunz ins Zürcher Oberland, damals der reichste Mann Europas, und bei den Huren hätte er sich auch einmal nach ihren Arbeitsbedingungen erkundigen können.

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