Читать книгу: «Anna Q und die Suche nach Saphira», страница 2
Eine Schachpartie
Der große Gong erklingt zum zweiten Mal. Alle Schüler und Professoren werden damit dringend zur Abendmahlzeit gerufen, doch Anna und Robin überhören ihn. Alle anderen Besucher des Lesesaals haben diesen bereits beim ersten Ton verlassen. Die Bibliothekarin kommt hinter der Abgrenzung hervor und geht zum letzten noch benutzten Tisch. Helle Augen schauen durch große Brillengläser auf das Schachbrett. Sofort heben sich ihre Augenbrauen in die Höhe. Sie hüstelt kurz, aber auch das holt die beiden Spieler nicht in die Gegenwart.
»Der Gong hat bereits zweimal gerufen. Wer beim dritten Mal nicht im Speisesaal sitzt, bekommt heute nichts mehr!« Nur widerwillig blicken die Schüler auf. Sollen sie für eine derartige Nebensächlichkeit wie Essen ihr spannendes Spiel unterbrechen? Derzeit ist es ausgeglichen! »Wie lauten eure Namen, und in welchem Jahrgang seid ihr?«, fordert die Frau mit gewohnter Autorität in der Stimme. Bekommen sie jetzt gleich einen Verweis? Robin will es nicht glauben und Anna versteht nicht, weshalb die hellgrauen Augen sie durch die Brille derart seltsam anblicken.
»Aber, Frau Professor«, beginnt der Junge, »sie kennen mich doch. Wir sind wirklich leise gewesen und haben niemanden gestört.«
»Name und Klasse. Ich frage nicht noch einmal!« Die Aufforderung klingt verdächtig danach, dass gleich eine Strafe folgen wird, wenn sie nicht gehorchen. Der Gesichtsausdruck ist streng und wird von dem Knoten am Hinterkopf, mit dem das schiefergraue Haar zusammengehalten wird, zusätzlich unterstrichen.
»Robin Jury, dritter Jahrgang.« Das Gesicht blickt abwartend zum Mädchen. Die hagere Gestalt der Professorin wird kerzengerade gehalten und bewegt sich bis auf den Kopf nicht.
»Nun du!«, fordert sie. Der Gong erklingt zum dritten Mal und übertönt das Schluckgeräusch, mit dem die Schülerin einen Kloß hinunterwürgt. Was wird jetzt folgen?
»Anna Q, erster Jahrgang«, flüstert sie fast. Doch die Bibliothekarin hat sie gut verstanden.
»Auch wenn Jugendliche im Wachstum nicht auf ein Abendessen verzichten sollten, gibt es offenbar Wichtigeres für euch!« Diese Feststellung wird mit nachdenklicher Stimme gesprochen. Ist das jetzt alles gewesen? Die Schüler blicken sich verwundert an. Warum klang die Frage nach Namen und Jahrgang dann so barsch? Professor Morwenna Mulham wirkt kurzzeitig abwesend. Überlegt sie, welche Strafe angebracht ist, obwohl sich Robin keines Vergehens bewusst ist? Annas Augen ruhen fragend auf dem Jungen. Sie ist erst seit wenigen Wochen hier und nicht sicher, mit dem Fernbleiben vom Abendessen möglicherweise eine ihr unbekannte Schulregel gebrochen zu haben.
»Ihr solltet weiterspielen. Ich schließe nur schnell die Tür ab, da die Bibliothek jetzt offiziell geschlossen ist.« Sie kehrt um, geht zum Eingang und dreht den großen Schlüssel. Danach kommt sie zurück und zieht sich einen Stuhl heran. »Wenn ihr erlaubt, werde ich mir euer Spiel ansehen!« Die Bibliothekarin macht es sich bequem. Nach kurzem Zögern konzentrieren sich die Schüler erneut und versuchen, zu ihrer ursprünglichen Strategie zurückzufinden. Nicht lange, und sie haben ihre Beobachterin völlig vergessen. Morwenna verfolgt aufmerksam die Spielzüge. »Erster und dritter Jahrgang! Das ist gut, sehr gut! – Ob sie aber auch geeignet sind? – Hm. Das war jetzt raffiniert, dabei wirkt diese Anna so, als ob sie kein Wässerchen trüben könnte. – Der Gegenzug war gut gekontert. Ich bin fast sicher, hier sitzen fähige Talente vor mir.« Ihre Gedanken äußert sie nicht.
Nach langem Überlegen setzt Anna einen Läufer, der einen gegnerischen Bauern schlägt. Robin zieht einen Springer, der diesen Stein bedroht. Schnell wird der aus dem Gefahrenbereich gebracht, da schlägt das gegnerische Pferd ihre Dame. Das Mädchen zieht eine Augenbraue hoch und ärgert sich, weil es die Falle nicht vorhergesehen hat. Es dauert noch mehrere Spielzüge, dann endet die Partie schließlich unentschieden. Die Professorin kommentiert das lediglich mit einem: »Gut!« Sie schiebt ihren Stuhl unter den Tisch zurück, von wo sie ihn vor zwei Stunden herangezogen hat. Anna bedankt sich mit geröteten Wangen für die Partie bei ihrem Gegner, dann legen beide die Figuren in das klappbare Schachspiel. Anstatt es zu schließen, verharrt der Junge. Anna bemerkt, dass er in Gedanken versunken ist.
»Robin, was ist los?« Das Mädchen erhebt sich und wartet auf Antwort. Sie widersteht der plötzlichen Regung, ihm die Schulter zu klopfen. Das würde er vermutlich als herablassenden Aufmunterungsversuch missverstehen.
»Du spielst wirklich gut!«, beginnt er langsam. »Ich habe das Match zuerst zu leicht genommen. Ich bin unbewusst davon ausgegangen, dass ich dich mit Leichtigkeit schlagen würde. Vermutlich hat mich Alexanders Ausspruch dazu verleitet. Entschuldige bitte meine Überheblichkeit. Ich hatte echt Mühe, mich in ein Remis zu retten.« Robins dunkle Augen blicken sie ernst an. »Ich würde gern eine neue Partie gegen dich spielen. – Wer ist dein Lehrer gewesen?«
»Mein Vater. Du musst dich nicht entschuldigen. Ich bin es gewohnt, unterschätzt zu werden. Das ist oft ein großer Vorteil für mich. Ich freute mich schon, dich besiegt zu haben, als du dann doch wieder ins Spiel zurückkamst. – Ich trete gern erneut gegen dich an. Können wir das hier machen? Ich möchte dabei nicht von vielen Mitschülern begafft werden. Das irritiert mich etwas.« Robin schaut sie ungläubig an.
»Trotzdem wolltest du im Speisesaal gegen Alexander antreten? Da hätten seine Bewunderer doch sicher nicht das Feld geräumt!«
»Ich hatte gehofft, dass sie wie Alexander davon ausgehen, dass ich schnell unterliegen würde, weshalb sie schon vorausgehen könnten. Notfalls hätte ich ein paar Figuren geopfert, um das zu untermauern. Spätestens dann wären sie abgezogen!«
»Du bist unglaublich!«, stellt der Junge bewundernd fest. So viel Hinterlist hätte er ihr nicht zugetraut. Sie wirkt so unschuldig und zurückhaltend, dass er Derartiges nicht von ihr denken würde, wenn sie es nicht gerade gesagt hätte.
»Trotzdem rechnetest du dir noch eine Chance gegen ihn aus?«
»Darauf habe ich zumindest gehofft. Damit er gewinnen könnte, müsste er sich schon gewaltig anstrengen. Und dann wäre er mir eine Revanche schuldig, die wir zu meinen Bedingungen austragen würden, also ohne Zuschauer. Ich kann mir gut vorstellen, dass er das auch fordert, um nicht vor großem Publikum Gefahr zu laufen, von »einem Baby« besiegt zu werden.« Die Röte ihrer Wangen ist mittlerweile verblasst, trotzdem, oder gerade deswegen, wirkt sie vollkommen harmlos. Robin zieht in Gedanken seinen Hut vor ihr.
»Was Alexander betrifft, bin ich nicht sicher, ob du ihn richtig einschätzt. Wir sind hier in einem Internat für hochbegabte Schüler. Dein Schachspiel beweist, dass du hierhin gehörst! Du besitzt eine große Begabung für Strategie, aber Alexander ebenfalls. Ich bin mir absolut nicht sicher, ob er so ist, wie er sich in der Öffentlichkeit gibt. – Aber genug davon. Ich möchte gern regelmäßig gegen dich spielen, das würde unserer Spielpraxis guttun. Ich werde Professor Mulham fragen, ob wir uns dazu täglich hier treffen dürfen.«
»Du sagst Professor zu ihr, dann ist sie auch eine unserer Lehrerinnen? Ich dachte, sie wäre die Bibliotheksleiterin. Wie passt das zusammen?«
Robin schaut sich kurz um und zieht Anna wieder auf einen Stuhl herab, als er die Frau nirgends bemerkt. Wohin ist sie denn jetzt verschwunden? Die Eingangstür haben sie nicht gehört, aber umso besser. Dann muss er nicht flüstern.
»Sie heißt Professor Morwenna Mulham und ist schon über dreißig Jahren am CC. Sie übt beide Funktionen aus«, erklärt er. »Wie sie das schafft, ist mir ein Rätsel. Vermutlich liegt das daran, dass ihr Lehrgebiet Strategie und Logik ist, und erst ab dem vierten Jahrgang unterrichtet wird. Ich habe gehört, dass sich kaum Schüler dafür melden. Außerdem kommt ihr entgegen, dass die Bibliothek erst nach dem Regelunterricht, also Fächern wie Mathematik, Sprachen und Naturwissenschaften, am Nachmittag geöffnet wird. Sport, Kunst und andere Neigungsfächer finden dann zwar parallel statt, doch das stört nicht. Geschlossen wird die Bibliothek mit dem ersten Gong fürs Abendessen.«
»Dann war das eine Ausnahme und ein Entgegenkommen von ihr, dass wir hier zu Ende spielen durften? Sie hat dadurch ebenfalls das Abendessen verpasst.« Anna schaut suchend umher. »Warum sie das wohl gemacht hat?«
»Das ist mir auch ein Rätsel. Sie gilt als besonders streng und nimmt es einem sehr krumm, wenn man ihre Anweisungen missachtet. Du hast ja gesehen, wie gebieterisch uns »M hoch Zwei« angesehen hat.«
»Wen meinst du … ach so. Ist das ihr Spitzname?« Bevor Robin sich dazu äußern kann, vernehmen beide ein empörtes Schnauben.
»Du nennst mich »gebieterisch« und sprichst im gleichen Atemzug meinen Geheimnamen aus? Was fällt dir ein und woher kennst du ihn? Weißt du nicht, wie gefährlich …?« Morwenna unterbricht sich plötzlich. Graue Augen schleudern Blitze und die hagere Gestalt wirkt kurzzeitig bedrohlich, bevor sie wieder ihr vorheriges Aussehen annimmt. »Jetzt verschwindet besser schleunigst, bevor ich es mir überlege und ihr eine angemessene Strafe bekommt!« Woher die Professorin so plötzlich gekommen sein mag, ist den Schülern ein Rätsel.
Sie brummen verdattert: »Danke«, erheben sich und stürmen zum Ausgang. Die Tür lässt sich sofort öffnen, obwohl sie nicht gehört haben, wie der Schlüssel erneut gedreht worden ist. Sobald sie ins Schloss fällt, atmen beide erleichtert auf.
»Wow, das war knapp!« Anna ist immer noch über das plötzliche Erscheinen der Professorin erschrocken. Robin fasst sie am Arm.
»Ich habe mein Schachspiel liegenlassen. Was machen wir jetzt?«
»Ich geh da nicht wieder rein!« Der Gesichtsausdruck des Mädchens ist eindeutig. Es weiß zwar nicht, welche mögliche Strafen angedroht wurden, doch sie will es auch lieber nicht wissen. Der Junge grübelt. Soll er es riskieren? Professor Mulham schien reichlich aufgebracht. Warum nannte sie »M hoch Zwei« ihren Geheimnamen? Robin hatte diesen Ausdruck wie Anna für einen Spitznamen gehalten, abgeleitet von den zwei Anfangsbuchstaben ihres Namens.
MM könnte mathematisch ausgedrückt zu M mal M, also M zum Quadrat, oder M hoch Zwei werden! Wofür benötigt man überhaupt einen speziellen Namen und weshalb ist es gefährlich, ihn auszusprechen?
»Ich trau mich auch nicht«, gesteht Robin. »Da Professor Mulham gesehen hat, dass das mein Schachspiel ist, werde ich es morgen Mittag abholen. Ich hoffe nur, dass sie uns trotz dieses Zwischenfalls erneut im Lesesaal spielen lässt!« Beide gehen den langen Flur entlang, in dem ihnen lachende oder diskutierende Mitschüler entgegenkommen. Sie verabreden sich schließlich für den morgigen Nachmittag um Drei, nicken kurz und trennen sich.
Draußen herrscht schon Dämmerung. Anna möchte noch etwas die Nachtluft genießen und wandert durch den Park. Sie muss ihre Gedanken ordnen, bevor sie sich zu dem Nebengebäude begibt, in dem sich die Schlafräume der Schülerinnen befinden.
In der Nacht
In dem Nebengebäude geht sie durch mehrere Gänge und über steile Treppen bis ganz nach oben. Die Schülerinnen des ersten Jahrgangs schlafen in Zimmern mit vier Betten unter dem Dach. Auf dem Weg dorthin denkt Anna kurz an ihre Ankunft im Internat.
Alle Schüler mussten am Vorabend des ersten Tages zum Abendessen im Speisesaal eintreffen, wo der Schulleiter Iain Raven die neuen Kinder mit einer kurzen Ansprache empfing. Er wies auf die Schulregeln hin, die unbedingt zu beachten seien und deshalb in jedem Schlafraum ausliegen würden.
»Verstöße führen im Wiederholungsfall zum sofortigen Schulverweis!« Diesen Satz unterstrich er mit einem ausgestreckten Arm in Richtung Tür. Anna weiß noch, dass sie meinte, die Augen unter den buschigen, weißen Augenbrauen würden speziell sie betrachten. Unwillkürlich versuchte sie, sich kleiner zu machen, als sie ohnehin schon ist, um sich hinter ihrem Nachbarn zu verstecken.
Nach dem Essen, von dem sie wegen des Knotens im Bauch fast nichts zu sich nahm, wurden die Kinder einzeln aufgerufen und der Obhut älterer Schüler übergeben. Diese Vertrauensschüler führten die Neuankömmlinge zu ihren Schlafräumen in den rechts und links vom Haupthaus liegenden Nebengebäude. Die Mädchen hatten mehr Glück als die Jungen, da die eigentlich für vier Kinder gedachten Zimmer mehr Schlafplätze boten, als benötigt wurden. Nur wenige Schülerinnen kannten sich untereinander, die deshalb gemeinsam einen Raum belegten. Die schmächtige Anna wurde von den kräftigeren Mädchen an die Seite gedrängt, so dass sie schließlich mit ihrem Koffer allein im Flur stand. »Du hast aber Glück«, wurde sie von der Vertrauensschülerin angesprochen. »Das Zimmer neben dem Treppenaufgang wurde offenbar von den anderen übersehen, dabei ist es das mit dem schönsten Blick in den Park.« Anna blickte fragend in ein freundlich lächelndes, mit Sommersprossen übersätes Gesicht. Die langen und dichten, roten Locken reichen weit über die Schultern hinab. »Ich bin Caitlin Neville«, stellte sie sich vor. Erst da raffte sich die Angesprochene zusammen.
»Entschuldigung. Ich war in Gedanken … Ich bin Anna Q. Warum meinst du, dass ich Glück habe, nur wegen der Aussicht?«
»Nein, obwohl sie wirklich schön ist. Aber es gibt einen weiteren Grund. Die anderen belegen zu dritt ein Zimmer. Na ja, manche auch nur zu zweit, aber du hast ein Einzelzimmer.« Anna erinnert sich, dass sie nicht sicher war, ob das ein Vorteil ist, doch inzwischen stimmt sie Caitlin zu. Der Raum ist kleiner als die Viererzimmer und eigentlich für zwei Bewohner ausgelegt. Es erinnert das Mädchen mittlerweile an sein Zimmer zuhause. Die Fotografien ihrer Mutter und Großmutter, aber besonders die ihres Vaters, tragen erheblich dazu bei. Sie hängen über ihrem Schreibtisch, so dass ihr Blick oft darauf haften bleibt.
Anna hat sich mittlerweile an die vielen Treppenstufen gewöhnt und ist kaum merklich außer Atem, als sie in ihr kleines Reich tritt. Das verpasste Abendessen lässt ihren Magen vernehmlich knurren. Ihr Blick schweift sofort zum Bild des Vaters und von dort zu einer Schale auf dem Schreibtisch. Darin liegen zwei Äpfel und eine Banane. Beim Frühstück ist es den Schülern erlaubt, sich Obst für den Tag mitzunehmen, was Anna gerne nutzt. Zu den Hauptessenszeiten verspürt sie noch oft einen Knoten im Magen, der vermutlich von der Trennung vom Vater herrührt. Doch es wird langsam und von Tag zu Tag besser. Sie fühlt sich manchmal wie beim letzten Ausflug ihrer Grundschulzeit, als sie für fünf Tage in einer Jugendherberge einquartiert waren.
Anna schnappt sich die gelbe Frucht, öffnet die Schale und beißt hungrig ein Stück ab. Kauend wirft sie einen Blick nach draußen in den Park. Ein Schauer läuft über ihren Rücken, als sie ein lautes Kreischen vernimmt. Was ist das? Sie legt die angebissene Banane auf die Schreibunterlage, öffnet einen Fensterflügel und beugt sich etwas hinaus. Sie horcht angestrengt. Von wo mag das gekommen sein, und vor allem, was war die Ursache?
Lauert innerhalb des mit Mauern und Toren umgrenzten Gebiet des Internats eine Gefahr auf die Schüler? Anna verspürt einen stechenden Schmerz im Kopf. Es fühlt sich an, als ob ein glühendes Messer zu einem Auge hinein, quer durch ihren Schädel stoßen würde.
»Hoffentlich bekomme ich keine Migräne!« Anna schwankt etwas und kneift die Augen zu. Eine derart heftige Attacke hatte sie noch nie. Plötzlich ist der Schmerz wieder vorbei. Sie atmet erleichtert auf. Als erneut ein schrilles Kreischen erklingt, richten sich ihre Nackenhärchen auf. Sie holt mehrmals kontrolliert Luft, um nicht in Panik zu fallen. Obwohl das Schreien lauter als bei geschlossenem Fenster gewesen ist, kann Anna das Geräusch nicht zuordnen. Trotzdem ist sie sicher, das klingt nach einem verängstigten Tier. Sollte ein nächtlicher Greifvogel eine Maus gefangen haben? Doch für eine Maus war das Kreischen zu laut, zumal eine Eule ein Opfer schnell tötet. Das Mädchen versucht, mit weit geöffneten Augen draußen etwas zu erkennen. Die Dämmerung ist mittlerweile in eine stockfinstere Nacht übergegangen, auch Sterne sind nicht mehr am Himmel zu sehen. Nach der Hitze des Tages zogen am Nachmittag erste Wolken auf. Auf ihrem Weg durch den Park bemerkte Anna die Schwüle, die ein heraufziehendes Gewitter ankündigt. Aber das Geräusch eben war kein entfernter Donner, es klang wie ein Schrei in höchster Not. Soll sie ihre Taschenlampe aus dem Schreibtisch nehmen und draußen nach der Ursache forschen? Etwas in ihr drängt sie, also gibt sie nach kurzem Zögern nach. Sie will zumindest in der näheren Umgebung um das Gebäude nach der Ursache suchen. Den gesamten Park wird sie nicht durchstöbern können, der ist zu weitläufig.
Auf dem Weg die Treppenstufen hinab, beruhigt sich das Mädchen. Gefährliche Raubtiere gibt es in der Region nicht. In den Nachrichten wird zwar von einer wachsenden Zahl von Wolfsrudeln im Land berichtet, aber so weit im Westen sind bisher keine gesehen worden. Außerdem müssten diese Räuber erst Mauern und Tore überwinden, was ihnen sicher unmöglich ist.
Einige Schülerinnen wundern sich, wohin Anna so spät am Abend will. In einer Viertelstunde müssen besonders die Erstklässler im Gebäude sein, wenn sie nicht Gefahr laufen wollen, eine Strafarbeit aufgebrummt zu bekommen. Anna lässt sich nicht beirren, lächelt und nickt ihnen zu. Dann schließt sie die Außentür hinter sich. Mit klopfendem Herzen steht Anna lauschend davor. Sie orientiert sich kurz und begibt sich dann zu der Giebelseite, in der sich ihr Zimmerfenster befindet. Erneut erklingt ein Kreischen. Es kommt von der Seite, ist sie sicher. Sie lässt die Taschenlampe aufleuchten und sucht mit dem hellen Lichtkegel nach der Ursache. Das Geräusch klang so, als ob es aus der Nähe, aber irgendwie gleichzeitig von unten, fast wie aus der Tiefe kam. Erneut läuft ein Schauer über ihren Rücken. Am Rande des Lichtkegels bemerkt sie eine plötzliche Bewegung. Sie erschrickt derart, dass ihr die Taschenlampe aus der Hand fällt. Sie landet auf dem Weg und sendet den Lichtstrahl in ein Gebüsch. Anna atmet aufgeregt. Was ist das dort? Nach wenigen Augenblicken meint sie, zu träumen. Unter einem Haselbusch wurde eine Durchlauffalle aufgestellt. Das können der Gärtner oder der Hausmeister gewesen sein. Aber anders als beabsichtigt, wurde darin keine Ratte oder ähnliches Getier gefangen, sondern ein großer, schwarzer Vogel. Das Mädchen hält den Atem an, greift sich die Taschenlampe und leuchtet mit ihr nicht direkt auf das verängstigte Tier. Das kreischt laut und versucht mit den Flügeln zu schlagen, was wegen der Enge der Falle jedoch unmöglich ist.
»Schsch!« Anna will mit leiser Stimme den aufgeregten Vogel beruhigen. »Ich lasse dich sofort frei, du musst nur ruhig sein.« Sie bückt sich und kriecht vorsichtig in das Gebüsch. »Hoffentlich wurde das arme Tier nicht verletzt, möglicherweise an einem Flügel«, denkt sie bekümmert. Sie schirmt den Lichtkegel etwas mit der Hand ab, um den Mechanismus der Falle zu erkunden, ohne den darin Gefangenen zu blenden. Sie versucht dabei immer wieder, den Vogel mit »Schsch« zu beruhigen, was offenbar erfolgreich ist. Er hat aufgehört mit den Flügeln zu schlagen, kollert mit tiefer Stimme und klappert mit den Augendeckeln. Sollte er verstehen, was Anna versucht? Endlich gelingt es ihr, die Sicherung der Eingangsklappe zu entriegeln. Sie schiebt das Gitter nach oben. »Komm heraus, mein Freund. Aber sei mit den Flügeln vorsichtig, der Ausgang in die Freiheit ist reichlich eng.«
Das Tier legt den Kopf schräg, klappert zweimal mit den Augendeckeln und kommt langsam auf Anna zu. Sie versucht nicht, ihm durch die schmale Öffnung zu helfen. Das könnte ihn ängstigen oder zurückscheuchen. Außerdem weiß sie nicht, wo sie das Tier anfassen sollte, also wartet sie ab und redet ihm gut zu. Tatsächlich schafft es der große Vogel allein, hinauszukommen. Er krächzt einmal leise, fast so, als ob er sich bedanken wolle. Dann huscht er tiefer unters Gebüsch und Anna lässt die Falle wieder zufallen. Sie will verhindern, dass erneut ein Tier darin gefangen wird. Seufzend richtet sie sich auf und fährt erschrocken zusammen. Ein heftiger Donnerschlag zeugt von dem beginnenden Gewitter. Die ersten, dicken Regentropfen fallen, ein Blitz zuckt grell über den Himmel und erneut droht ein tiefes Grollen. Anna hastet zurück ins Haus. Sie ist froh, den Vogel aus seinem Gefängnis befreit zu haben. Bei dem Gewitter wäre er in der engen Falle vermutlich vor Schreck gestorben. Dass Kolkraben einerseits, dieser aber im Besonderen, keineswegs so zart besaitet sind, weiß sie nicht. Trotzdem ist eine Nacht in Freiheit einer in Gefangenschaft immer vorzuziehen, egal von welcher Kreatur!