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2

Sie hört die Tür quietschen, Flüstern, dann eine leise, an den Hund gerichtete Rüge: »Hier darfst du nicht rein, geh nach unten!« Jemand nähert sich behutsam ihrem Bett und setzt sich auf die Kante. Ihr bleibt nichts anderes übrig, sie muss die Augen öffnen.

An der Tür steht ein Mann. Auf seinem Gesicht liegt ein Ausdruck trauriger Besorgtheit. Olga – sie ist es, die sich auf die Bettkante gesetzt hat – lächelt, ihr Gesicht ist klein, braun gebrannt, runzlig, es hat etwas beunruhigend Asymmetrisches an sich.

»Den ganzen Tag hast du geschlafen, Kind, jetzt wird es dunkel, und Adrian muss fort, aber er möchte dich gern untersuchen. Vielleicht hast du etwas gebrochen. Dann müssten wir nämlich einen Arzt rufen, Adrian ist Tierarzt. Aber das ist ja egal … Darf er hereinkommen?« Ohne eine Antwort abzuwarten, ruft sie: »Komm rein, Ad.«

Ein junger Mann tritt ein, blond, mittelgroß, ein wenig verschwitzt, als hätte er sich beeilt oder wäre die Treppe hinaufgelaufen. Ungefähr in Majas Alter, um die dreißig. Er trägt einen dicken Pullover aus blau-weiß melierter Wolle. Seine hellen Haare sind schon merklich gelichtet, sie kleben ihm an der Stirn. Er lächelt verlegen, niemandem ähnlich, fremd. Jung. Er sieht sie ruhig an, lächelnd, forschend. Dann betrachtet er fachmännisch ihre Augen und Unterlider, bewegt ihre Hände, betastet ihren Bauch. Er bittet sie, sich aufzusetzen und die Beine zu bewegen. Mit den Augen seinem Finger zu folgen. Ida fühlt sich von der Untersuchung eingeschüchtert, wie immer, alle Ärzte sind junge Männer, die fremdestmöglichen Wesen.

»Ihnen scheint nichts zu fehlen«, sagt der Tierarzt schließlich, er hat eine hohe Stimme. »Sie haben einen Schrecken bekommen, nicht wahr? Stehen Sie nicht auf, bleiben Sie liegen.«

»Ich weiß nicht so recht, wie ich mich fühle. Nicht wohl.«

»Sicher, das ist nicht verwunderlich, das kommt von der Anspannung, es geht von selbst wieder vorüber.«

»Ich würde gern die Polizei anrufen, das Auto ist geliehen.«

»Ja, das muss man erledigen. Vielleicht morgen?«

»Heute nicht? Das Auto muss herausgezogen werden.«

»Heute ist es schon zu spät. Außerdem schneit es die ganze Zeit. Es ist doch nicht so dringend, oder? Morgen bin ich auch hier. Und übermorgen auch.«

»Aber ich bin hier nur auf der Durchreise.«

»Selbstverständlich.«

Der Mann sieht sie lächelnd an, wie ein Kind, mit dem man Doktor spielt. Als glaubte er ihr nicht. Er verneigt sich scherzhaft zum Abschied und geht eilig hinaus. Energisch läuft er die Treppe hinunter, noch draußen hört man seine Schritte, dazu das Knirschen von Schnee, dann das Röcheln des Dieselmotors. Beim dritten Anlauf springt das Auto an. Olga gibt ihr einen alten karierten Morgenmantel, und sie gehen in die Küche hinunter.

»Er ist Tierarzt«, sagt Olga, während sie ihr einen Becher heiße Milch vorsetzt und mit offensichtlichem Genuss Honig hineingibt. »In der Stadt hat er eine Praxis. Hast du Kinder, Familie?«

Der Honig rinnt in einem dünnen Faden hinunter und verschwindet in dem weißen Strudel.

»Eine Tochter«, antwortet sie und betrachtet die Mischung. Früher hätte sie so etwas niemals getrunken, aber jetzt hat sie Lust zu probieren, wie es schmeckt. »Ich habe eine Tochter, und sie hat schon einen Sohn.«

»Ach, dann bist du auch schon Großmutter«, freut sich Olga.

Stefan kommt herein, er reibt sich die Hände, offensichtlich war er draußen. Er holt Topfen und gelben Käse aus dem Kühlschrank, legt sie auf ein Brettchen, dazu Tomaten. Mit einem großen Messer schneidet er Brot.

»Ich müsste sehr hungrig sein, ich habe seit gestern nichts gegessen«, sagt Ida, sie sieht, dass die Frau ein künstliches Gebiss hat, das zu locker sitzt, ein unangenehmer Anblick, wenn sie spricht.

Beide schneiden ihr Käsebrot in quadratische Stücke, die sie langsam, andächtig in den Mund schieben. Kauend sehen sie sie an. »Ein menschlicher Tierblick«, denkt Ida und wendet verstohlen die Augen ab. Sie schaut auf das Essen, aber verspürt keinen Hunger. Sie geht zum Wasserhahn und trinkt Wasser direkt aus den zu einer Schale zusammengelegten Händen.

Sie erwartet, dass die beiden sie nach dem Unfall fragen werden, aber sie schweigen, essen den weichen Käse mit Tomate und Brot, werfen ihr nur zufriedene Blicke zu. Sie bricht ein Stück Käse ab und schiebt es in den Mund. Sie schmeckt nichts.

»Ich hatte noch nie einen Unfall«, sagt sie, »noch nicht mal einen Blechschaden. Ich fahre immer sehr vorsichtig. Wahrscheinlich klebte Schnee an dem Straßenschild, ich wusste nicht, dass eine Kurve kam. Ich hatte das Auto von einer Freundin geliehen, um endlich den Ort zu besuchen, wo ich als Kind gewohnt habe, bei Lewin.«

»Lewin? Klar«, sagt Stefan mit vollem Mund. »Weißt du noch?«, wendet er sich an seine Frau, sie runzelt die Stirn, als versuchte sie, sich an etwas zu erinnern.

»Dort sind wir hingefahren, um das Pferd zu holen, weißt du noch? Das ist hinter Polanica.«

Olga nickt zustimmend.

»Dann hast du hier in der Nähe gewohnt«, sagt sie verwundert.

»Wir wohnten in einem kleinen Dorf in den Bergen, aber ich bin ziemlich früh von dort weggegangen.« Ida lächelt, ihre Hand zögert vor dem nächsten Stück Käse.

»Und die Eltern?«, fragt Olga.

Ida erzählt bereitwillig. Ihre Eltern leben nicht mehr. Nach dem Tod der Mutter, die ein paar Monate nach dem Vater starb, hat sie das Haus verkauft und nicht mehr daran gedacht. Es war unbequem, hoch in den Bergen, alt und klein. Sie sagt auch, dass sie sich nie danach gesehnt hatte, aber jetzt, vor ein paar Tagen, als sie hier in der Gegend war, bekam sie plötzlich Lust, dort vorbeizuschauen.

»Ich wollte morgens von Jelenia Góra aus losfahren und abends wiederkommen, aber das klappte nicht. Ich hatte vor, irgendwo auf dem Land in einer Pension zu übernachten und am nächsten Morgen weiterzufahren, in das Dorf. Na ja, aber jetzt ist das passiert, und das Auto ist sicher kaputt.«

»So was kommt vor. Iss etwas und mach dir keine Sorgen«, sagt Olga.

Aber Ida hat keinen Appetit. Der fette gelbe Käse schmeckt wie feuchtes Papier. Olga isst und sieht sie mit ihrem leeren Tierblick an. Sie hat ein Gesicht wie eine Katze oder ein Fuchs – wachsam. Als es plötzlich raschelt, richtet sie den Blick auf die Kiste, wo der Hund liegt. Ihr Mann macht dasselbe, wie auf Kommando. Beide schauen starr auf die Kiste.

»Du willst rausgehen, nicht? Du willst rausgehen und schaffst es nicht allein, nicht wahr?«

Der kleine unansehnliche Mann hebt den ziemlich großen Hund hoch und nimmt ihn auf den Arm. Es sieht nicht so aus, als könnte man dem Tier noch helfen. Der schwarze zottelige Hundekopf hängt kraftlos herab.

»Macht mir die Tür auf«, sagt er.

Ida erhebt sich rasch, hält die Tür auf und folgt den beiden nach draußen. Der Hund steht schwankend im Schnee, ein mitleiderregender Anblick. Unwillkürlich wendet Ida den Blick ab, die Schwäche des Tiers erscheint ihr intim und peinlich. Der Mann ermuntert den Hund sanft, ein paar Schritte zu tun, er schiebt ihn zart voran: »Nun geh, beweg dich etwas.«

Ida schlägt die Schöße des Morgenmantels zusammen, dabei wird ihr bewusst, dass ihre Beine nackt sind. Aber sie spürt keine Kälte. Von Sekunde zu Sekunde wird es dunkler im Hof, als sei der Abend fest entschlossen, hier, vor ihren Augen, anzubrechen. Es schneit, der Schnee hat die Spuren des Autos schon fast zugedeckt. Der Hund macht ein paar Schritte auf schwankenden Beinen, dann lässt er einen Strahl Urin, ohne überhaupt zu versuchen, in die Hocke zu gehen. Ein dunkler Fleck im Schnee. Reglos steht er darüber, hilflos, offenbar haben die paar Schritte seine Kräfte völlig erschöpft, und er senkt den Kopf.

Der Alte nimmt ihn auf den Arm und trägt ihn unter sichtlicher Anstrengung ins Haus.

»Was fehlt ihm?«

»Sie kann nicht mehr«, sagt der Mann. »Sie hat Krebs. Es ist eine Hündin. Ina, so heißt sie.«

»Lässt sich nichts mehr machen? Eine Operation oder Bestrahlungen?«

»Es ist für alles zu spät.«

»Was soll denn dann werden?«, sagt sie mit plötzlicher Sorge, ja Panik.

»Sie wird sterben«, sagt der Mann keuchend unter dem Gewicht des Tieres und verschwindet im dunklen Viereck der Tür.

Ida folgt ihm nicht in die Küche, sondern bleibt im dunklen Flur stehen. Sie greift nach dem Geländer, sie fühlt sich, als wöge sie Tonnen, als wäre sie schwer wie die ganze Welt. Sie versucht, ihr Bein zu bewegen, aber es gelingt ihr nur, den Fuß ein kleines Stück nach vorn zu schieben. Der Körper gehorcht ihr nicht. Sie will nach Olga rufen, doch die Stimme versagt ihr. Kehle und Zunge sind in der richtigen Stellung, aber die Luft fließt einfach durch sie hindurch, berührt sie nicht einmal. Vor Angst wird ihr heiß. Sie meint einen Herzinfarkt oder Schlaganfall zu haben, etwas Plötzliches, das sich wie ein Netz über sie gestülpt hat und sie einengt. Langsam, Wort für Wort, Gedanke für Gedanke, muss sie sich klarmachen, dass dies ihre Beine sind und dass sie ein Recht auf sie hat. Sie konzentriert sich auf ihre Beine, und nach einer Weile gelingt es ihr, einen kleinen Schritt zu tun. Wie eine Schwerkranke beginnt sie, die Treppe hinaufzusteigen. Es geht immer besser, ja, das Schreckliche ist vorüber. Auf der Suche nach dem Lichtschalter tastet sie im Dunkeln, findet ihn und dreht ihn, es ist ein altmodischer brauner Ebonitschalter, die Finger müssen lernen, ihn zu drehen und nicht zu knipsen. Ihr wird übel.

»Entschuldigung«, sagt sie nach unten. »Ich lege mich einen Augenblick hin.«

Sie bemerkt Olga, die unten an der Treppe steht und ihr besorgt nachschaut. Noch ein paar Schritte, und sie hat es geschafft, sich in dem entsetzlichen düsteren Licht der Glühbirne zur Tür ihres Zimmers zu schleppen. Erst jetzt begreift sie, dass es nur Angst ist, die sie quält, keine Krankheit.

 

Olga kommt in ihr Zimmer, setzt sich auf die Bettkante und nimmt ihre Hand.

»Ich bin bei dir. Es ist ja alles gut.«

Dankbar erwidert Ida den Druck der trockenen, knochigen Hand.

3

Das Bild erscheint zaudernd, schwerfällig – zuerst füllt sich das Rechteck des Fensters vor dem Hintergrund der gleichmäßigen Dunkelheit im Zimmer mit Grau, dann leuchtet es silbern und kalt, wie eine aus der Lethargie erweckte Leinwand unmittelbar vor einer Projektion. Ida könnte nicht genau sagen, wann sie aufgewacht ist. Aber sie weiß undeutlich, was kommen wird, sie hat das Gefühl, dass sich hier ein Tagesanbruch wiederholt, vielleicht sogar viele Tagesanbrüche.

Das Wachen unterscheidet sich vom Schlaf durch die Anspannung der Gedanken – diese unsterblichen, dehnbaren Atome der Welt, diese summenden, bebenden Saiten, ohne Anfang und Ende, Geschosse, die mit Lichtgeschwindigkeit durch den Kosmos schnellen wie die Samen von Außerirdischen. Sie siedeln sich in den Köpfen an und verbinden sich miteinander durch einzelne Details, Assoziationen, Analogien zu unendlichen Ketten. Eigentlich weiß niemand, wie sie sich verbinden, was sie zusammenhält, was für eine Ordnung darin herrscht, und sie wissen es selbst nicht, sie brauchen keine Ordnung, lieber geben sie sich nur als Ordnung aus, schaffen kurzlebige, schöne, logische Konfigurationen, phantastische Schneeflocken, fügen sich zu einfallsreichen Abläufen mit Ursache, Grund und Ergebnis, die sie dann jedoch unvermittelt wieder zerstören, zerschlagen, zerreißen und auf den Kopf stellen, sie eilen weiter, doch auf gewundenen Wegen, als Kreis, Spirale, Zickzack oder umgekehrt, sie verschwinden, ersterben, verfallen in einen tiefen Schlaf, um dann plötzlich zu explodieren und als Lawine abzugehen. Man kann auf gut Glück einen Gedanken fangen, ihn packen wie die Schnur eines Drachens, sich eine Zeit lang tragen lassen oder daran festhalten, ihn genauer betrachten und dann beiseitelegen, um anderen, noch verwickelteren und zudringlicheren Platz zu machen. Im Wachen spiegeln sie eine Ordnung vor und täuschen, der Schlaf befreit sie vom Schein. Nachts führen sie ihr Lotterleben.

Mit dem Licht, das durch das Fenster hereinfällt, werden sie immer aggressiver und ausgeprägter, sie formieren sich zu heimtückischen Gruppen und ziehen aus, den Tag zu unterwerfen, sie zerrupfen ihn unter sich, reißen ihn in kleine Streifen, zerstampfen ihn. Die Denkmaschine läuft.

Ein Gedanke ist stärker als die anderen, er drängt sich vor, und nach Sekundenbruchteilen herrscht er über alle anderen. Es ist ein Bild: Mai, Frühling. Ida erkennt den Geruch der Erde, die die ersten Knospen schon hat durchbrechen lassen und jetzt ein wenig ausruht. Die Sonne fällt durch die kleinen, zerkratzten Fensterscheiben, verschönert das Haus, verwandelt es in ein anderes Gebäude, das größer, heller ist. Die fast waagrechten Lichtstrahlen lassen die Struktur des Putzes auf den Wänden hervortreten, die Geheimnisse der Placken und Wasserflecken, lassen die älteren Farbschichten sichtbar werden. Die Sonne ist nicht die Schöpferin der Kunst der Welt, vielmehr bietet sie sie auf gewiefte Weise feil.

Ida ist acht Jahre alt, sie lernt zaubern, ganze Nachmittage vergnügt sie sich mit der Herstellung von Mixturen, die ihr Zauberkraft verleihen sollen. Sie ist oben in ihrem Zimmer. Sie geht ans Fenster und sieht einen Schmetterling, den die Sonne aus seinem Schlupfloch geholt hat. Schmutzig, verstaubt liegt er auf der Fensterbank, bestimmt ist er vom letzten Jahr. Die Flügel mit dem schönen symmetrischen Muster hat er ausgebreitet. Das ist kein gewöhnlicher Schwalbenschwanz, sondern ein selteneres Exemplar. Auf den graubraunen Flügeln zeichnet sich ein Augenpaar ab. Die Illusion ist vollkommen: In der Mitte der mandelförmigen Augen sind die dunkelgrüne Regenbogenhaut und die schwarze Pupille. Der Schmetterling sitzt reglos da, wie ein schöner, geheimnisvoller Gegenstand, ein zartes, chimärisches Schmuckstück. Sie meint zu erkennen, dass die Flügelspitzen zittern. Die kleine Ida schiebt vorsichtig die Hand unter den Schmetterling und legt ihn genau in die Mitte, wo sich die Handlinien kreuzen: Die waagrechte Schicksalslinie schneidet die Herzlinie und gleich dahinter die Lebenslinie. Manchmal spielt sie mit der Mutter Handlesen, daher weiß Ida das. Sie schließt die Augen und stellt sich vor, dass die Handmitte einen Leben spendenden Dunst ausströmt. Der federleichte Schmetterling ist ganz darin eingetaucht, der Dunst wäscht Staub und Winter von ihm ab und gibt ihm das Leben zurück. Ihre Aufregung steigert sich, als sie nach einiger Zeit eine Bewegung spürt, ein verhaltenes nervöses Zittern, sie öffnet die Augen und sieht, dass sich die Flügel wirklich bewegen, sie wollen sich weiter strecken, den ganzen Raum umspannen. Der Schmetterling wandert nun unbeholfen über ihre Handfläche, trippelt nach vorn und zurück, rollt auf der Landebahn. Ida bewegt sich behutsam, hält den Atem an. Sie öffnet das Fenster und streckt die Hand mit dem Schmetterling von sich. Die Luft strömt in frischen Wellen herein, in leisen Windstößen. Der Schmetterling lebt auf, er spürt das Sonnenlicht, das den Raum erfüllt, den warmen Tag, und beginnt mit den Flügeln zu schlagen. Idas Herz klopft heftig, sie hält den Atem an. Die Augen erklimmen ihren Mittelfinger und erforschen eine Zeit lang die Luftströme, wie ein Flieger, der auf den rechten Moment für den Start wartet. »Flieg, flieg!«, sagt sie zu ihm, aber er zaudert, die Flügel schwirren, die kleinen Beinchen klammern sich noch an der Fingerhaut fest, wollen nicht gehorchen. Zu guter Letzt löst er sich, unwillig und langsam, von seinem Halt und setzt sich in Bewegung, erst fällt er ein kleines Stück, dann schwebt er hinauf – Ida sieht ihn auf der Höhe der Dachkante, dort zieht er ein paar Kreise und fliegt schließlich zum Kamin. Links davon kann das Mädchen noch aus dem Augenwinkel einen kleinen Schatten erkennen. Alles geschieht sehr schnell. Ein braunes Vögelchen, sperlingsgroß, mit orangefarbenem Schwanz, fliegt auf den vom Flug benommenen Schmetterling zu und fängt ihn mit einer weichen Bewegung wie ein vom Wind aufgewirbeltes Papierfetzchen auf. Er verschwindet hinter dem Haus.

Verblüfft steht sie da, die Hand in die Luft gestreckt.

Sie setzt sich aufs Bett. Sie hebt ihre Sachen auf und fängt an sich anzuziehen. Es ist kalt, die Apfelfeuchtigkeit haftet auf der Haut, jetzt nimmt Ida in diesem Geruch einen Hauch von Fäulnis wahr.

Es war eine dumme, unüberlegte Idee gewesen, bei diesem Wetter loszufahren, um das alte Haus zu besuchen. Eine unkluge Sentimentalität, vielleicht gab es das Haus gar nicht mehr. Als sie es verkaufte, hielt es sich kaum noch aufrecht. Und selbst wenn es noch existiert – sicher wohnen jetzt fremde Leute dort, die aus der Stadt auf Urlaub hier sind, und solche Besuche sind für beide Seiten peinlich. Sie sieht den Flur vor sich, Skibindungen und Skistöcke liegen drunter und drüber, in der Küche Rucksäcke, fremde Socken, die über dem Herd trocknen. Den Kachelofen haben sie abgerissen und stattdessen einen norwegischen Eisenofen aufgestellt. Vielleicht haben sie auch renoviert, und es ist nichts mehr da, was sie erkennen könnte.

Aber auch wenn es noch genauso wäre wie früher – was sollte sie damit anfangen? Wo sollte sie diese Bilder unterbringen, womit sie verbinden, wie die überflüssigen Erinnerungen pflegen? Sie lächelt vor sich hin, während sie den Rock anzieht – ihre Mutter war in den Osten gefahren, um die Orte wiederzusehen, die sie verlassen hatten. Ihr fallen die Deutschen ein, die jedes Jahr die Gegend heimsuchten, guckten und fotografierten, das Gelände wie mit einem Scanner absuchten, um sich zu vergewissern, dass jene vergangene Welt, die in ihren Köpfen existierte, doch in der Außenwelt verankert ist, dass sie nicht einer, wenn auch harmlosen, Paranoia erlegen sind, in der sie unter den ironischen Blicken der eigenen Kinder von Erinnerungen und Träumen zehren. »Das muss ein magischer Glaube sein, in dem Menschen auch nur für einen Augenblick die Zeit umkehren und das Vergangene berühren können«, denkt Ida. Das Wesen jeder Religion ist nicht die Auferstehung und nicht die Erlösung, sondern die Umkehr der Zeit, die bewirkt, dass sie sich selbst in den Schwanz beißt, endlos das wiederholt, was sie bereits gesagt hat, auch wenn es ein kaum verständliches Gebrabbel ist. Ihre Mutter kam von diesen Reisen lebhafter und scheinbar verjüngt zurück. War es ihr gelungen, die Zeit zurückzudrehen? War es der östliche Sabbat, an dem die Vergangenheit heraufbeschworen wird, der das vielsagende Lächeln auf das Gesicht ihrer Mutter zauberte?

Ida versucht, die Miene der Mutter nachzuahmen. Sie übt die zarten Gesichtsmuskeln. Sie schaut sich nach einem Spiegel um, aber es ist keiner im Zimmer, deshalb geht sie ans Fenster. Doch sie kann ihr Gesicht nicht darin sehen, oder sie sieht es und beachtet es nicht.

Vor ihr tritt ein großer Hof aus dem Nebel, leer, frisch beschneit, unter seiner weißen Decke vor Blicken geschützt. Weiter oben, hinter den Gebäuden, sieht sie den Berg, er ist hoch, der Gipfel sogar noch im Nebel. Die Hänge sind steil und glatt, nur mit kleinen Bäumen bestanden, die von hier aus wie Kommas aussehen, nervös gesetzte Strichlein auf einer schwarz-weißen Skizze. Sie ragen über den Garagendächern auf, über den Gebäuden und untätigen Grubenkränen.

Gebannt von diesem Anblick, wartet Ida fröstelnd, dass sich der Nebel weiter lichtet und endlich den Gipfel enthüllt. Doch Augenblick um Augenblick vergeht, offensichtlich ist die Darbietung schon vorüber, in weichen Kaskaden fließt weißliches Grau herab und verhüllt wieder, was es zögernd hat sichtbar werden lassen.

Vorsichtig steigt sie die steile, schlecht beleuchtete Treppe hinunter. Auf den Stufen liegen Reste eines roten Läufers. Der Geruch von brennendem Holz steigt ihr in die Nase, und als sie kurz darauf die vertraute Küchentür öffnet, schlägt ihr eine Woge warmer, harzduftender Luft entgegen. Es riecht auch nach gekochten Kartoffeln, die in einem Topf auf der erhitzten Herdplatte leicht dampfen, und nach Grütze, die bullert und fast gar ist, wie Ida sieht, als sie den Deckel hochhebt. Sie würde gerne nur den Geruch essen, die Grütze selbst sieht nicht sehr appetitlich aus, ein grauer Brei.

Die Hauswirte sind nicht da. Das Lager der Hündin Ina ist auch leer. Ida will aus dem Fenster schauen, doch vor der Fensterscheibe hängt schon das neblige Grau, dessen Invasion sie von oben beobachtet hat. Krankenhaus, es erinnert sie an das Krankenhaus ihrer Kindheit, wo alle Scheiben weiß angestrichen waren.

Die Eltern hatten sie ins Krankenhaus gebracht und dortgelassen. Sie weinte die ganze Nacht und den ganzen folgenden Tag, sie fühlte sich zutiefst hintergangen, dass ihre Eltern so etwas tun konnten. Am zweiten Tag war sie schwach vom Fieber und vom Weinen, sie stellte sich vor, sie wäre tot und sähe den Begräbniszug und ihren Sarg, und natürlich auch die beiden: ihre schöne, ruhelose Mutter, die sich jetzt vor Gram windet, oh, wie sie sich grämt, wie sehr sie sich grämt, und den Vater, das Gesicht in den tränennassen Händen, und die Kinder aus der ganzen Schule und die Lehrer und die Ärzte und Krankenschwestern. Der Gedanke an den eigenen Tod ist gut, bittersüß wie junge Stachelbeeren, wie die ersten Äpfel.

Aus diesen Fenstern sieht man nichts. Sie setzt sich an den Tisch mit der abgewetzten Wachstuchdecke und schaut sich in dem Raum um, während sie auf das Essen wartet. Hier gibt es nichts Überflüssiges, kein Luxusobjekt, höchstens der Kalender: Bilder von raffinierten Speisen in grellen Farben. Der März zeigt einen Fisch, angerichtet auf einer länglichen Schale, gelbe Zitronenscheiben und grüne Petersiliensträußchen beleben den gebackenen toten Fischkörper. Das Grün und Gelb auf dem Kalender sind die einzigen Farbflecken in dieser farblosen Küche, in dieser blinden Küche mit den milchigen Fenstern. Über der Herdplatte hängen Porzellanbecher an Haken, sie nimmt einen herunter und füllt ihn mit Leitungswasser. Sie trinkt gierig, ein, zwei Becher und noch einen halben. Nach einem kurzen Blick auf den Teekessel geht sie auf die Suche nach der Toilette, hinaus in den dunklen, kalten Flur. Sie öffnet erst die falsche Tür zu einem kleinen Vorratsraum voller Pappschachteln. Aber gestern war sie doch im Bad, irgendwo hier muss es sein. In diesem Augenblick öffnet sich die Eingangstür, zuerst stürmt der große weiße Hund herein, kurz darauf steht Olga in der Türöffnung, sie hat die kranke Hündin auf dem Arm. Der eisige Nebel dringt in den Flur, rasch drängt er sich an Olgas kleinem Körper vorbei und erfüllt den Flur mit einem flüchtigen, milchigen Dämmer. Ida öffnet ihr schnell die Tür zur Küche und murmelt dabei einen Morgengruß. Olga dankt und sagt:

 

»Letzte Tür links.«

Dann verschwindet sie mit dem Hund in der Küche.

Das Badezimmer ist kalt und karg. Auf dem Boden steht ein elektrischer Heißluftofen. Der Ventilator setzt sich unwillig, schwerfällig und knirschend in Gang.

In dem kleinen Spiegel über dem Wasserhahn mustert Ida ihr Gesicht. Keine Verletzungen, aber sie ist verändert, vielleicht liegt das an dem trüben Licht, das hier überall herrscht. Ihr Gesicht kommt ihr nicht fremd vor, aber anders, als sei es keiner längeren Betrachtung wert, verschwommen, ein Objekt, das man tagtäglich sieht, die gelangweilten Augen gleiten langsam und systematisch darüber hinweg und nehmen es nicht mehr wahr. Sie berührt die Oberfläche des Spiegels, ihr Gesicht versteckt sich hinter ihren Fingern, dann ist es wieder da, immer noch merkmalslos, unscharf. Ida tastet sich systematisch ab, Arme und Bauch, sie prüft die Härte des Brustkorbs und die Weichheit des Halses, ob nichts gebrochen ist, nichts auf Druck wehtut, nichts zu Besorgnis Anlass gibt. Beine, Füße, Knie, Schenkel, Gesäßbacken, Becken. Stille.

Sie sieht sich selbst. Haare bis auf die Schultern, glatt, das Grau verborgen unter einer Haarfarbe der Serie »Natürliche Tönung«, Wella oder Schwarzkopf, Nummer null fünf, wahrscheinlich hellbraun – an diese Farbe hat sich ihre Gesichtshaut über die Jahre hinweg gewöhnt. Der Hals – lauter Ringe, als wäre er mit etlichen dünnen Fäden umwickelt. Dieser Prozess ließ sich nicht aufhalten, weder Cremes noch Massagen haben geholfen. Die Oberarme wurden kleiner, zerbrechlich, das Gewebe, das sie bedeckte, verwelkte, jetzt fängt es an, den Gesetzen der Schwerkraft folgend, nach unten zu wandern, an geschütztere Stellen. Die Brüste – sie schenkt ihnen selten noch Aufmerksamkeit – sind tränenförmig geworden, Tropfen aus weichem, feinem Wildleder. Und jetzt fällt es ihr auf: Den ganzen Körper zieht es zur Erde, als wären alle seine Teile schon erschöpft und müde und gäben still das tägliche Gerangel mit der Erdanziehungskraft auf. Ja, sagt der Körper, ich ergebe mich, ich komme dir entgegen, ich kämpfe nicht mehr gegen dich, ich welke, beuge mich, krümme mich, falle auf die Knie und drücke mich schließlich mit Gesicht, Bauch, Schenkeln an die Erde, breite die Arme aus – saug mich in dich auf, lass mich in dich versickern, mich auflösen, lass mich zu Staubteilchen werden, zu Boden sinken und dort bleiben.

Ida berührt ihre Brust an der Stelle, wo das Herz unter den Rippen ist. Es ist ein krankes Herz, wie sie meint, und an diesem Herzen wird Ida sterben. Es ist gut, wenn man sein Leben lang weiß, woran man schließlich sterben wird. Von Zeit zu Zeit und ohne ersichtlichen Grund kommt es zu Vorübungen.

Es beginnt mit einem Beben im Brustkorb. Das Herz flattert darin wie eine Biene in einer Schachtel, die blindlings an die Wände schlägt, surrt und flirrt, bis sie vor Erschöpfung umsinkt. Das dauert zehn, zwölf Sekunden, nicht länger, anschließend setzt das Herz minutenweise aus. Ida liegt wach im Dunkeln, denn meistens passiert es in der Nacht. Ein Probetod – plötzliche, weiße Stille. Die Angst entsteht nur bei diesem Surren des Herzens und ist eine Folge der Bewegung, des Flatterns, des plötzlich abhandengekommenen Rhythmus. Emotionen sind immer Folge eines körperlichen Zustandes, nie umgekehrt, stellt Ida fest. Wenn das Herz stillsteht, verschwindet die Angst. Dann muss sie die Lampe anmachen, denn sie möchte gern wissen, ob es möglich ist, dass das Herz diesmal wirklich stehen geblieben ist, dass es keine Einbildung ist, dass es keine Hysterie oder Hypochondrie ist. Und ob das heißt, dass sie tot ist. In der kleinen Rinne längs der Adern findet die Fingerkuppe die wohlbekannte Stelle. Nichts pulsiert dort, nichts bewegt die glatte, körperwarme Haut. Das Herz steht tatsächlich still.

»Sie wissen doch, dass das Herz unmöglich stehen bleiben kann. Das muss Ihnen nur so vorgekommen sein«, sagt die sehr junge Krankenschwester, als sie die Angaben auf der Karte notiert. In ihrem Blick liegt jedoch ein unfreiwilliger Respekt, wie man ihn den Dingen zollt, die man nicht ganz begreift.

Jetzt sitzt Ida im Wartezimmer und umfasst ihr Handgelenk mit den Fingern der linken Hand. Hier besteht eine ideale Abstimmung: Das Handgelenk passt genau in den Ring, den Daumen und kleiner Finger bilden. Sie berührt den halbrund vorstehenden Knochen, eigentlich ein Knöchelchen, das sich wie eine Kugel unter der Haut wölbt. »Wie heißt dieser Knochen, und was hat er mit mir gemein?«, denkt sie. Sie ist verärgert, weil der Arzt sich verspätet. Auf welche Weise ist dieser Knochen, dessen Namen Ida nicht kennt und dessen Wesen sie nicht versteht, sie selbst? Wäre sie ohne diesen Knochen immer noch sie selbst? Ohne welches Organ wäre sie nicht mehr sie selbst? Das Herz? Das Gehirn? Sie muss den Arzt fragen.

Sie stellt sich das Innere ihres Körpers vor, als wäre er der Held eines Unterrichtsfilms, wie er den Kindern in der Biologiestunde gezeigt wird, Deine Haut oder So arbeitet das Gehirn des Menschen, alles ist in riesiger Vergrößerung dargestellt, zusammengesetzt aus gewaltigen Zellen, pulsierenden Einzelheiten von Teilen eines größeren Ganzen, das man sich nicht einmal vorstellen kann. Ihr Körper besteht aus geheimnisvollen Gräben und Auswölbungen, übereinanderliegenden Schichten, fleischigen Rohren, schimmernden Oberflächen, seerosenartigen Gebilden. Er ist genauso fremd wie der Meeresgrund, wie ein von ungeheuerartigen und furchterregenden Wesen bevölkertes Korallenriff.

Da ist die Gebärmutter, ein dunkler Tunnel, und an seinem Ende sieht man in blutigen Fleischfalten einen kleinen gelblichen Tropfen, der perlengleich hinuntergleitet und durch den Tunnel fällt, kurz darauf beginnen die fleischigen Wände sich vor Kummer zu schuppen, blutige Plättchen lösen sich und verwandeln sich in unzählige klebrige Blutstropfen. Das Herz – ein monströses Gebilde aus fleischigen Bändern, elastisch und gummiartig. Der Rhythmus, in dem es sich bewegt, ist der Rhythmus der Kopulation. Jeder Takt gebiert einen Augenblick, der sofort stirbt. Ein kleines farbloses Bläschen, das platzt, bevor man es betrachten kann.

Man sollte einfach aus den sterilen Räumen hinaus auf die Straße gehen und rufen: Traut keinen Ärzten! Glaubt nicht, dass auch nur einer von ihnen irgendwann etwas Wesentliches sagen wird. Seht euch vor, ihr Wissen ist ein Scheinwissen, und in Wirklichkeit erinnert es an ein einfältiges Spiel, es geht nur darum, im geeigneten Moment den Blick von den Papieren oder dem an den fremden Körper gepressten Stethoskop zu heben und in Sekundenbruchteilen die Kontrolle zu übernehmen: Ich weiß über deinen Körper etwas, was du nicht weißt; obwohl ich nicht du bin, weiß ich etwas, dessen du dir nicht bewusst bist. Was uns unterscheidet, ist Wissen. Ich weiß, denn ich bin nicht du. Du kannst nichts über dich wissen, denn man kann nur etwas erkennen, was man nicht selbst ist. So sieht das aus. Ja, du hast einen Körper, aber du weißt nichts darüber. Ich weiß alles darüber, denn er ist genauso wie andere Körper, die ich schon lange erkannt habe, indem ich sie von oben bis unten abgetastet habe, in ihr Inneres geschaut habe, sie in meiner Vorstellung in kleine Stücke geschnitten habe, damit sich nichts vor mir verbergen kann. Mich überrascht nichts. Im Wesentlichen sind Körper einfache hydraulische Apparate. Erkennen und Handeln – ein paar ausgestellte Rezepte und Überweisungen zu weiteren Untersuchungen. Weiterreichen des Körpers an andere, die auch so tun, als wüssten sie besser Bescheid.

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