Читать книгу: «Gipfelkuss», страница 3

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Gäbe es nicht bereits Tausende Fotos, unzählige Bücher und Filme über die Albulabahnstrecke – die Reporterin hätte das Thema sofort aufgegriffen. Doch nun schaute sie einfach fasziniert aus dem Fenster und genoss die Fahrt durch die imposante Landschaft, über das weltbekannte Landwasserviadukt und durch die Kehrtunnel zwischen Bergün und Preda. Wann war sie diese Strecke zum letzten Mal gefahren? Wahrscheinlich auf einer Reise in ein Schullager. Ja, sie erinnerte sich, im Unterengadin war sie als Teenager einmal in einem Wandercamp. Aber im Oberengadin war sie noch nie. Weder beruflich noch privat. Und es war auch keine Feriendestination der Legrand-Hedlunds. Das Bündner Hochtal mit dem weltbekannten Kurort St. Moritz war Charlotte schlicht zu alpin. Es sei immer kalt dort, behauptete sie.

Selma hatte vergangene Nacht wunderbar geschlafen. Das Gespräch mit ihrer Mutter hatte ihr gutgetan, obwohl die letzten Sätze sie irritiert hatten. Warum sollte Charlotte die Wahrheit nicht kennen? Sie war gespannt, ob Charlotte nun endlich reagieren würde. Ihre Mama unter Druck zu setzen, war nicht Selmas Ding. Aber ihre Schwester Elin hatte es ihr schon ein paarmal vorgemacht. Mit Erfolg. Dank Elin war die Existenz von Arvid Bengt überhaupt ans Licht gekommen. Jedenfalls war die schwedische «Fika» wohltuend gewesen.

Auch das Telefongespräch mit Marcel hatte Selma gutgetan. Sie konnten herzhaft darüber lachen, als sie ihm erzählte, dass sie ein oder zwei Tage ins Engadin fahre, er aber keine einzige «klugscheisserische» Bemerkung dazu machen dürfe. Selma wies ihn strikt an, sämtliche geografischen, geologischen, historischen, gesellschaftlichen und kulturellen Informationen, die er bestimmt habe, für sich zu behalten.

«Pass auf dich auf, Liebste», hatte Marcel schliesslich gesagt.

«Pass auf dich auf, Liebster», hatte Selma geantwortet. Das Ritual aus ihrer Zeit der Freundschaft gab es noch immer. Oder jetzt erst recht. Schliesslich waren sie nun ein Paar. Alles war gut. Ja, alles war gut. Mit diesem Gedanken und diesem Gefühl war Selma eingeschlafen.

In Samedan musste Selma umsteigen. Als der Zug schliesslich anfuhr und in der Ebene den kleinen Engadiner Flugplatz passierte, war Selma sofort von der Schönheit des Tals und der Berge fasziniert. Der Zug fuhr durch einen Wald – Selma war entzückt von den stattlichen Arven und Lärchen. Und schon tauchte auf der linken Seite des Zugs der Ausflugsberg Muottas Muragl auf, hoch oben die Bergstation der Standseilbahn, darüber der intensiv blau leuchtende Himmel.

Kurz darauf erreichte der rote Zug der Rhätischen Bahn Pontresina. Selma packte ihren Rucksack und stieg aus.

«Selma?», rief jemand. Es war eindeutig die freundliche Stimme vom Telefon.

Selma drehte sich um: «Katharina?»

«Willkommen im Engadin.»

«Sagt man hier nicht Allegra?»

«Wie du willst. Kannst du Rätoromanisch?»

«Natürlich nicht. Wie hast du mich erkannt?»

«Von den Fotos im Internet. Ich habe dich gegoogelt. Selma Legrand-Hedlund, Reporterin, Fotografin, Malerin. Man findet einiges über dich.»

«Aha», sagte Selma erstaunt. «Ich habe mich selbst noch nie gegoogelt.»

«Solltest du tun. Ich bin sehr gespannt auf dein Buch über die Wölfe.»

«Oh, ja, ich freue mich sehr …» Selma lächelte. Die Wölfe! Wie sehr hatte diese Reportage, dieses Erlebnis, sie doch geprägt.

«Ich freue mich, mit dir zusammenzuarbeiten», sagte Katharina. «Kennst du das Engadin?»

«Leider sehr schlecht.»

«Dann will ich dir mal deine Foto-Location für die Hochzeit zeigen und erkläre dir alles. Komm mit.»

Katharina ging voran und liess ihre blonden und etwas wirren Locken wirbeln. Die junge Frau zog einen Autoschlüssel aus ihrer luftigen Sporthose und öffnete die Türen eines allradangetriebenen Kleinwagens. «Ich bin eine Freundin der Braut und für die Outdooraktivitäten rund um die Hochzeit zuständig», erklärte Katharina im Bündner Dialekt, während sie den Wagen Richtung Berninapass steuerte. «Die Hochzeit findet in drei Phasen statt. Erste Phase: Die Trauung. Diese findet im Fextal bei Sils im Engadin statt. Kennst du das?»

«Auch nicht», antwortete Selma. «Aber ich habe schon davon gehört. Es soll magisch sein.» Sie dachte an Marcel. Er wüsste wohl alles über das Fextal. Sie hatte nicht die geringste Ahnung.

«Dir als Fotografin und Künstlerin wird es auf alle Fälle gefallen. Und es gibt eine Kapelle. Da wird geheiratet. In kleinem Rahmen. Das Fest findet in St. Moritz statt. Das ist Phase zwei in etwas grösserem Rahmen. Hundert Gäste. In einer Villa am Suvretta-Hang. Schliesslich kommt Phase drei, das ist dann mein Job: die göttliche Trauung.»

«Oh Gott», sagte Selma spontan. «Sektenhochzeit?»

«Nein, nein», lachte Katharina.

«Jonas Haberer, mein Auftraggeber, erwähnte, dass wir eine Wanderung machen. Ist das die göttliche Trauung?»

Katharina lächelte verschmitzt, schaute kurz zu Selma und sagte: «Genau.»

Sie fuhren den ersten Teil der Passstrasse hinauf. Selma genoss die Aussicht. Und sie nahm sich vor, mehr Zeit einzuplanen, damit sie in Ruhe fotografieren und malen könnte.

Sie erreichten die Baumgrenze, fuhren an der kleinen Siedlung Bernina Suot vorbei und kamen schliesslich zu einem riesigen Parkplatz. «Da sind wir», sagte Katharina, stieg aus dem Auto und setzte sich eine dunkle Sonnenbrille auf. «Los geht’s!»

Katharina führte Selma zur Diavolezza-Seilbahn. Die grosse Kabine schwebte über die karge, steinige Landschaft, über einen kleinen See und anschliessend über ein Schneefeld, das Selma seltsam erschien.

«Was ist denn mit dem Schnee?», fragte Selma.

«Der ist zugedeckt. War einmal ein Gletscher. Der Diavolezza-Gletscher. Er wäre aber längst geschmolzen. Seit Jahren wird der letzte Schnee am Schluss der Skisaison zugedeckt, damit er den Sommer übersteht und man möglichst früh die neue Saison beginnen kann.»

«Wie am Titlis», murmelte Selma nachdenklich.

«Ja, genau.»

«Ihr spürt also die Klimaerwärmung sogar hier oben?»

«Das wirst du gleich sehen», antwortete Katharina.

Die Bahn fuhr langsam in die Bergstation ein. Selma und Katharina stiegen aus der Kabine und gingen die Treppe hinunter zum Restaurant. Selma war ganz fasziniert vom blau beleuchteten Handlauf, konnte sich aber nicht draufsetzen, weil er zu nahe an der Wand montiert war. Zudem eilte Katharina voraus. Schnell ging sie durchs Restaurant, winkte den Angestellten zu, öffnete die Türe zur grossen Sonnenterasse und wartete auf Selma. Als die Reporterin durch die Tür kam, wurde sie geblendet. Von der Sonne. Vor allem aber von der Aussicht.

«Wow!», sagte Selma laut.

«Willkommen in der Bernina-Arena», sagte Katharina.

Selma brachte erneut nur ein «Wow!» heraus.

«Links der Piz Palü mit seinen drei Gipfeln und seinen mächtigen Hängegletschern, rechts der Piz Bernina mit dem Biancograt, der Himmelsleiter. Der Bernina ist mit seinen 4049 Metern der höchste Berg der gesamten Ostalpen. Tja, und unter uns der Persgletscher und dort drüben, am Fusse des Berninas, der Morteratschgletscher oder eben das, was von ihm übriggeblieben ist.»

«Toll», murmelte Selma. Sie kramte aus ihrem Rucksack die Sonnenbrille und ihre kleine Kamera. Damit schoss sie einige Fotos.

«Allegra!», rief Katharina und winkte einem älteren Mann mit einem markanten weissen Schnurrbart auf einem Liegestuhl zu. Dieser winkte lachend zurück. Katharina liess den Blick über die Terrasse schweifen, erkannte unter den Gästen sonst aber niemanden. Dann blickte sie angestrengt Richtung Piz Palü. «Oh, da kommen sie», sagte sie plötzlich.

Selma schaute nun ebenfalls zum Piz Palü und erkannte auf dem riesigen Schneefeld drei Personen, die abstiegen.

«Das ist mein Freund Conrad mit seinen Gästen. Sie hatten ihn für die Tour Bernina-Palü gebucht.»

«Oh», machte Selma.

«Gestern der Piz Bernina, heute der Piz Palü. Eine fantastische Tour.»

«Bist du auch Bergführerin?»

«Ja.»

«Und Wanderleiterin? Schliesslich machen wir eine Wanderung.»

Katharina lachte. «Klar. Wir machen eine Wanderung.» Sie kicherte aufgeregt und zwinkerte Selma zu.

Selma fielen die dunklen Augen auf, die irgendwie nicht zu den blonden Haaren passten. Selma konnte sich aber nicht vorstellen, dass Katharina ihre Haare färbte. Dazu sahen sie zu wild und naturbelassen aus.

«Da!» Katharina zeigte mit dem Finger auf den Piz Bernina.

«Was für ein stolzer Berg.»

«Dorthin führt uns die Wanderung.»

«Wie meinst du das?», fragte Selma irritiert und begann, mit der linken Hand an ihren Haaren zu zupfen.

«Wir wandern die Himmelsleiter hinauf zum Piz Bernina.»

«Excusé, Katharina, du redest von wir?»

«Die Braut, du und ich. Oben treffen wir den Bräutigam. Dieser steigt von der italienischen Seite her auf, weil er Italiener ist. Oben gibt es den göttlichen Gipfelkuss, und dann ist das Paar bis in alle Ewigkeit miteinander verbunden. Ist das nicht romantisch? Und du fotografierst alles.»

«Moment», sagte Selma. «Ich kann mir nicht vorstellen, dass über die Himmelsleiter ein offizieller Wanderweg führt.»

Katharina lachte und gab Selma einen kleinen Stoss. Selma geriet ins Schwanken, musste sich am Geländer festhalten und schnappte nach Luft.

«Du spürst die Höhe, was?», hörte Selma Katharina sagen. «Wir sind auf fast 3000 Metern über Meer. Du bist dir das nicht gewohnt. War wohl keine gute Idee, gleich hier hinaufzufahren.»

«Die Höhe …», stammelte Selma, «… die Höhe. Klar, Basel liegt auf rund 250 Metern. Hier ist die Luft viel dünner.»

Aber Selma wusste, dass ihr nicht nur wegen der Höhe schwindlig war.

7

Charlotte verbrachte den halben Nachmittag in Selmas Malatelier im Dachgeschoss. Es war brütend heiss. Aber das nahm Charlotte nicht richtig wahr. In ihren Gedanken war sie ganz woanders. Sie war bei Arvid Bengt Ivarsson, ihrem schwedischen Mittsommernachtsschwarm, Selmas Vater. Jetzt würde sie ihn also wiedersehen.

Charlotte schaute sich alle 34 Gemälde, die ihr Arvid Bengt anonym über eine Kunstagentur nach dem Tod ihres Mannes Dominic-Michel hatte zukommen lassen, genau an. Wie so oft in den vergangenen Jahren, in denen sie ihr Geheimnis hatte hüten können. Nächtelang hatte sie versucht, das Rätsel zu lösen. Und obwohl sie ein Leben lang als Kunsthistorikerin gearbeitet hatte, kam sie einfach nicht drauf: Was wollte ihr Arvid Bengt mit diesen Gemälden sagen?

Seit ihr Geheimnis gelüftet war und die Bilder nicht mehr in der Kammer im zweiten Stock des Hauses «Zem Syydebändel» lagerten, sondern in Selmas Atelier, konnte Charlotte die Bilder nicht mehr regelmässig betrachten. Sie fürchtete, dass dies Selma auffallen und sie sich fragen würde, warum ihre Mutter diese Bilder so intensiv studierte. Deshalb ging sie nur ins Dachgeschoss, wenn sie sicher war, dass Selma nicht zu Hause war.

Was wollte ihr Arvid Bengt mitteilen? Was übersah sie? Es waren 34 Landschaftsbilder, gemalt über viele Jahre, denn es zeichnete sich eine künstlerische Entwicklung ab, erst waren die Bilder naturnah, dann impressionistisch, zuletzt abstrakt. Eine ähnliche Entwicklung, wie sie auch Selma in ihrer künstlerischen Arbeit durchmachte, obwohl sie von ihrem leiblichen Vater nichts wusste. Bis zu jenem Tag, als Charlotte ihre Tochter in diese Kammer geführt hatte, hatte Selma kein einziges Bild ihres Vaters gesehen.

Vielleicht steckte das Geheimnis in der Zahl 34. Aber Charlotte konnte ihre Vergangenheit so lange durchrechnen, wie sie wollte: Die Zahl 34 passte zu nichts, was in ihrem Leben eine Rolle gespielt hätte. Als sie Arvid Bengt kennengelernt hatte, war sie Ende zwanzig. Sie hatte ihr Studium der Kunstgeschichte in Basel abgeschlossen und mehrere Praktika in Museen in der Schweiz und in Frankreich absolviert und verbrachte in jenem Jahr einige Monate an der Kunstakademie in Stockholm. Arvid Bengt war zwei Jahre älter, also auch keine 34.

Charlotte konnte in der Zahl 34 auch nichts Magisches oder Esoterisches erkennen. Vielleicht müsste sie Marcel fragen. Vielleicht hatte er eine Antwort. Er hatte doch immer eine Antwort.

Die Bilder zeigten auch nicht alle die gleiche Landschaft. Auch nicht die gleichen Häuser oder Figuren. Oft war Charlotte abgebildet, aber nicht auf allen Bildern. Zudem hing ein weiteres Gemälde von Arvid Bengt in einem Hotel in Engelberg, auf dem sie ebenfalls zu sehen war. Aber jenes Bild passte definitiv nicht in die Reihe der 34 Bilder, die Charlotte bekommen hatte, es war ganz anders aufgebaut und gemalt.

Warum 34 Bilder? Es musste eine Verbindung geben. Davon war Charlotte überzeugt. Entweder sah sie sie nicht. Oder es fehlten einige Bilder. Genau, es mussten einige Bilder fehlen. 34 ergab einfach keinen Sinn.

Charlotte schaute abermals die Bilder durch. Die ungerahmten Gemälde waren wie in einem Postershop in einem Gestell gelagert, sodass sie sie durchblättern konnte. «Ich erkenne die Verbindung, die Gemeinsamkeit nicht», murmelte Charlotte. «Ich sehe sie nicht, weil ich sie nicht sehen kann.» Sie schluckte und sagte dann leise: «Weil ich zu nah dran bin.»

Tatsächlich hatte sie die Bilder noch nie aus Distanz betrachtet. Als sie damals das Paket bekommen hatte, hatte sie die Bilder kurz durchgeblättert und dann in den zweiten Stock in die Kammer gelegt. Und sie immer nur nachts bei schlechter Beleuchtung und aus der Nähe betrachtet. Doch Bilder können ganz anders wirken, wenn sie aus Entfernung betrachtet werden. Aber dies hatte sie nie getan. Aus Angst, Selma oder Elin könnten sie dabei erwischen. Doch jetzt müsste sie die Bilder in einem grossen Saal bei gutem Licht aufhängen oder aufstellen und studieren können. Vielleicht würde sie dann das verbindende Element erkennen.

Und dann würde sie sich vielleicht auch erklären können, warum es 34 Bilder waren. Oder warum einige Bilder fehlten. Hatte Arvid Bengt ihr bewusst nur einen Teil geschickt, um das Geheimnis aufrechtzuerhalten?

Natürlich hätte Charlotte ihn einfach fragen können. Schliesslich hatte sie vor einigen Monaten schon einmal mit ihm telefoniert und ihm mitgeteilt, dass er in der Schweiz eine Tochter habe. Warum hatte er eigentlich so ruhig darauf reagiert? Warum hatte er das einfach so hingenommen? Weil er es bereits wusste? Von wem? Hatte Dominic-Michel etwa Kontakt zu ihm gehabt? Oder sogar Charlottes Vater, der grosse Forscher Hjalmar Hedlund? Oder hatte Arvid Bengt eine mystische Verbindung zu Selma?

«Mais non», flüsterte Charlotte. Nein, Mystik gab es allenfalls in der Kunst, aber nicht im wahren Leben. Und wenn sie Arvid Bengt anrufen und ihn das alles fragen würde? «Mais non», wiederholte sie. Unmöglich. Zu persönlich. Zu intim. Zu … peinlich? Offene Fragen offen ansprechen? Nein, das war nicht ihr Ding, das hatte sie nie gelernt. Totschweigen schon eher. Vielleicht war alles nur Zufall. Und Arvid Bengt hatte so ruhig reagiert, weil er noch immer jener stille, grosse, schöne und geheimnisvolle Schwede war, in den sie sich damals verliebt hatte.

«Oh ja», flüsterte Charlotte und schaute vom Atelier zum Rhein hinunter. Jetzt spürte sie die enorme Hitze. Sie hatte Schweissperlen auf der Stirn. «Verliebt …» Charlotte spürte einen Stich im Herzen. Einen, wie sie ihn seit sehr langer Zeit nicht mehr gespürt hatte.

Würde sie tatsächlich Arvid Bengt Ivarsson wiedersehen? Was würde mit ihr passieren? Mit Selma? Mit der ganzen Familie?

Charlotte legte ihre rechte Hand auf ihre linke Brust, spürte den Herzschlag: «Arvid Bengt, meine grosse Liebe, ich werde dein Geheimnis lüften, noch bevor ich dich wiedersehen werde.»

8

«Geht es wieder?», fragte Katharina.

Selma ass ein Stück Engadiner Nusstorte und spülte mit einem Mineralwasser ohne Kohlensäure und einem Latte Macchiato nach: «Das Zeug ist genau gleich süss und klebrig wie unsere Basler Läckerli», kommentierte Selma.

«Und genauso fein», ergänzte Katharina.

«Ich bin kein Fan der Läckerli. Auch nicht von Nusstorte. Aber in diesem Moment gilt: Hauptsache Zucker.»

«Ist der Schwindel weg?»

«Ja, alles wieder gut.»

Selma und Katharina sassen auf der Sonnenterrasse der Diavolezza. Selma sah, dass der ältere Herr im Liegestuhl, den Katharina vorher begrüsst hatte, immer wieder zu ihnen schaute. Was wollte der Typ?

Selma bemerkte, dass sie selbst gerade am Starren war. Also schaute sie wieder auf die Berge, tupfte mit der Papierserviette ihren Mund sauber und kramte aus ihrem Rucksack eine Lippenpomade. Sie strich ihre Lippen ein und bot Katharina den Stift ebenfalls an. Diese lehnte dankend ab. «Um nochmals auf die Wanderung zurückzukommen», sagte Selma schliesslich. «Das geht nicht.»

«Warum nicht?»

«Da muss es ein Kommunikationsproblem zwischen dir und Jonas Haberer gegeben haben. Ich bin keine Bergsteigerin.»

Katharina machte grosse Augen. In diesem Moment kam die polnische Serviceangestellte zu ihrem Tisch, räumte ab und fragte, ob sie noch etwas bringen solle. Selma bedankte sich. Katharina sagte: «Wir sind zufrieden. Bring doch Carlo noch einen Kaffee. Ich nehme an, das Bier hat er schon gehabt.»

Die Polin bejahte und lächelte zum Mann hinüber. Dieser lächelte zurück und nickte Katharina zu. Dann wandte sich die junge Bergführerin wieder an Selma: «Du bist doch Berg- und Tierfotografin. Haberer erzählte, dass du auch Gletscher- und Lawinenerfahrung hast.»

«Unfreiwillig.» Selma erzählte Katharina kurz die Geschichte, wie sie beim Fotoshooting mit den Freeridern in Engelberg erst in eine Gletscherspalte gefallen und später fast in eine Lawine geraten war: «Das hat nicht das Geringste mit Bergsteigen zu tun. Haberer hat masslos übertrieben. Gibt es keinen Berg, der nicht so gefährlich ist?»

«Doch. Wir könnten auf den Piz Languard wandern. Der liegt gleich oberhalb von Pontresina, ist nur 3262 Meter hoch, und es führt ein Bergweg hinauf.»

«Prima. Das klingt besser.»

«Geht aber nicht. Das Brautpaar will auf den Piz Bernina.»

«Wird das eine Bergführer-Ehe?»

«Nein. Julia ist Juristin, Stefano Ingenieur.»

«So heissen sie also», sagte Selma. «Julia und Stefano. Schön. Auch wenn sie keine Bergführer sind – sie müssen geübte Bergsteiger sein.»

«Julia auf alle Fälle. Wir sind befreundet und haben schon viele Touren gemacht. Stefano ist am Berg unerfahrener.»

«Und warum muss es ausgerechnet der Piz Bernina sein?»

«Weil man den Piz Bernina sowohl von der Schweiz als auch von Italien her erreichen kann.»

«Julia ist also Schweizerin?»

«Ja, nein, also sie ist schon Schweizer Bürgerin, kommt aber ursprünglich aus Deutschland. Sie fühlt sich jedoch als Schweizerin. Deshalb steigt sie von der Schweizer Seite auf.»

«Das ist fast kitschig.»

«Ist doch schön. Julia freut sich extrem.»

Nein, Selma konnte dieser Idee nicht wirklich viel abgewinnen. Würden Marcel und sie einmal heiraten, dann … Sie zuckte zusammen. Was hatte sie da gerade für einen Gedanken? Heiraten?

«Selma, alles okay? Oder wird es dir wieder …»

«Nein, alles gut.» Selma drehte an ihren Fingerringen und sagte: «Ich kann da nicht hinaufsteigen.»

«Dann lässt du dich mit dem Helikopter auf den Berg fliegen. Oder du fotografierst mit einer Drohne.»

«Für die Drohne bräuchtest du einen Profi. Da oben hat es vermutlich viel Wind.»

«Dann also per Helikopter.»

«Das ist doch …» Selma fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und sagte schliesslich: «Das mache ich nicht.»

«Flugangst?»

«Nein. Ich bin genug geflogen in meinem Leben. Ich vermeide das, wenn immer ich kann. Klimaschutz und so, okay?»

«Da hast du recht. Julia will das auch nicht. Die Klimaerwärmung stellt auch uns Bergführer vor neue Herausforderungen. Der Untergrund wird weicher, instabiler. Wir müssen mehr auf Bergstürze achten. Oder auf Einbrüche und Abrisse bei Gletschern. Auch der Biancograt ist deshalb anspruchsvoller geworden. Der Schnee auf dem Firn wird oft matschig und gefährlich, darunter ist blankes Eis. Trotzdem ist und bleibt es eine …» Katharina war plötzlich abgelenkt, winkte strahlend einem Bergsteiger zu. «Da ist er. Mein Freund. Er kommt gerade vom Palü.»

Conrad kam mit seinen Gästen zu Selmas und Katharinas Tisch. Er hatte wie Katharina blonde Locken. Dazu blaue Augen, einen blonden Dreitagebart und markante Wangenknochen. Ein Bergler wie aus dem Bilderbuch, dachte Selma. Er war allerdings nicht allzu gross. Er erschien Selma sogar etwas kleiner als Katharina, die fast so gross war wie sie.

«Allegra», sagte Selma und kam sich gleich ziemlich doof vor. Deshalb schickte sie ein «Hei» hinterher. «Ich bin Selma.»

«Conrad, freut mich.» Er gab Katharina einen Kuss und winkte danach dem älteren Herrn auf dem Liegestuhl zu, der immer noch oder schon wieder zu ihnen hinüberstarrte. Danach ging Conrad mit seinen Gästen an einen anderen Tisch, kam aber kurz darauf wieder zurück. «Na, alles vorbesprochen?», fragte er und schaute zu Selma. «Katharina schrieb mir gestern, dass sie mit der Bergfotografin heute hier hinaufkäme.»

«Leider war der Ausflug ein Flop», entgegnete Selma. «Ich bin Fotografin, keine Bergsteigerin, deshalb muss ich passen.»

«Keinerlei Bergerfahrung?»

«Doch, schon. Aber nicht so, wie es hier erwartet wird.»

«Du siehst sportlich aus. Bist du auch ehrgeizig?»

«Na ja, ich …»

«Conrad will sagen», mischte sich Katharina ein, «dass du mit Training durchaus in der Lage wärst, den Piz Bernina zu bezwingen. Mit mir als deiner Bergführerin. Ich klettere dir jeden Schritt vor.»

«Klettern? Klettern muss man auch noch? Ich dachte, wir gehen über diesen Schneegrat.»

«Es gibt einige Kletterpassagen», sagte Conrad. «Aber die sind zu schaffen.» Er neigte sich zu Selma und Katharina und sagte leise: «Meine beiden Gäste sind auch keine grossen Bergsteiger. Die Tour war viel zu anstrengend für sie. Und klettern können sie eigentlich überhaupt nicht.»

«Siehst du», sagte Selma. «Ich will euch Profis nicht quälen.»

Katharina schaute Selma lange an und sagte dann: «Julia wird enttäuscht sein.»

«Oh, ja», bestätigte Conrad. «Seit deiner Wolfsreportage ist sie ein Riesenfan von dir.»

«Die Wolfsreportage, aha.»

«Ja, das junge Wolfspaar, das in Engelberg ein Rudel, eine Familie, gründen wollte. Julia will dich unbedingt dabei haben.»

«Kannst es dir noch überlegen», sagte Katharina schliesslich. «Bis zur Hochzeit dauert es noch zwei Monate. Wenn du jetzt mit dem Training beginnst, würden wir es hinbekommen.»

«Klar», pflichtete Conrad seiner Freundin bei. «Für den Mount Everest ist die Vorbereitungszeit zu kurz. Aber auf den Piz Bernina bringen wir dich.»

Selma war irritiert. Aber auch angestachelt. Das Abenteuer reizte sie. War das eine schicksalshafte Begegnung mit Katharina und Conrad? Warum sollte sie mit ihren Kenntnissen als Natur- und Tierfotografin nicht auch Alpinistin werden und sich zusätzliche Kenntnisse aneignen? «Mein Vater war ein begeisterter Berggänger», erzählte sie jetzt. «Er war sogar im Schweizer Alpen-Club.»

«Na siehste», sagte Conrad. «Dann bist du sicher auch viel gewandert. Und ich wette, ihr habt anspruchsvolle Touren gemacht.»

«Sehr zum Leidwesen meiner Mutter», sagte Selma und grinste. «Als Jugendliche habe ich sogar einen Kletterkurs besucht.»

«Jetzt hast du keine Ausrede mehr», meinte Katharina.

Selma fröstelte. Sie rieb sich die Arme und sagte: «Ich überlege es mir, okay?»

«Du schaffst das», sagte Katharina und legte ihre Hand auf Selmas Unterarm: «Du hast kalt. Wollen wir hinunter ins Tal?»

«Gerne.»

Selma stand auf. Ihr Blick fiel zufälligerweise auf den älteren Herrn im Liegestuhl. Er schaute sie erneut an und lächelte. Dabei wurde sein weisser Schnurrbart auseinandergezogen, das Lächeln wirkte dadurch besonders breit und freundlich. Selma lächelte zurück.

Auf einmal änderten sich die Gesichtszüge des Mannes. Er starrte Selma nun mit ernster Miene an. Aber er schaute ihr nicht etwa in die Augen, sondern auf die rechte Wange. Selma verdeckte mit der Hand rasch ihr Grübchen. Dann setzte sich der Mann im Liegestuhl auf. Er hob seinen Arm und wollte etwas sagen.

Doch Katharina kam ihm zuvor: «Auf Wiedersehen. Du solltest auch bald nach Hause, du weisst schon …» Sie deutete mit dem Arm Schläge an und lachte.

Selma sah, dass der Mann zu lächeln versuchte. Doch es wollte ihm nicht gelingen. Stattdessen schaute er wie versteinert Selma an. Seine Augen sahen plötzlich ganz traurig aus. Und Selma schien es, als würde er durch sie hindurchsehen.

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