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|39|G.W.F. Hegel. Geistphilosophie als Nachdenken über die Situiertheit vernünftiger Praxis
Jan Müller
1. Einleitung
Das philosophische Projekt Georg Wilhelm Friedrich Hegels (1770–1831) ist einer der Ursprünge des modernen Nachdenkens über menschliches Tätigsein im Allgemeinen („Praxis“) und die Formen und Gestalten, die es stützen und prägen. Hegel greift einerseits das antike Nachdenken über „Praxis“ auf und gibt ihm ein neues Gepräge (vgl. Pinkard 2012, Ilting 1963); andererseits ist Hegel der vielleicht wichtigste Bezugspunkt für die „Philosophien der Praxis“ des 19. und 20. Jahrhunderts.
Dabei ist notorisch unklar, welche Motive und welche Argumentationen jeweils als weiterführend oder zurückzuweisen beurteilt werden; wie bei nur wenigen anderen Figuren der westlichen Geistesgeschichte sind Hegels Überlegungen in ihrer genauen Absicht, ihrem Status und ihrer Reichweite umstritten. Seine (freilich schwierigen, „dunklen“) Formulierungen erscheinen, je nach den systematischen Bedürfnissen seiner Interpreten, als „idealistisch“, „metaphysisch“ und „subjektphilosophisch“, oder umgekehrt als Vorbereitungen pragmatistischer und materialistischer Modelle von Praxis. Derartig interessierte Aneignungen sind unvermeidlich. Hegels Philosophie und die Geschichte ihrer Rezeption konfrontiert die Interpretin indes mit einer besonders verzwickten Variante solcher hermeneutischen Schwierigkeiten: Hier liegen die systematische Aneignung einerseits, die den historischen Argumentationsbestand im Hinblick auf gegenwärtige Problemlagen rekonstruiert, und andererseits die Doxographie, die Autoren – oft im Licht zeitgenössischer Diskussionen und mehr oder weniger plausibler „Einflüsse“ – Meinungen und Auffassungen zuschreibt, bisweilen fast ununterscheidbar nahe beieinander (vgl. Stekeler-Weithofer 2006).
Man kommt an die hegelsche Argumentation nur durch die konfliktbeladene Geschichte ihrer Auslegungen heran. Deshalb ist es nötig, den hier vorgestellten Interpretationsvorschlag schon vorab ungefähr in der umfänglichen und kontroversen Forschungslandschaft zu situieren. Im Versuch, Hegels Überlegungen nicht unmittelbar auf geläufige sekundärliterarische Zuschreibungen zu reduzieren, lässt sich die „Brille der Rezeptionsgeschichte“ aber auch nicht einfach ablegen oder ignorieren. Wie jede andere, so ist auch die Inanspruchnahme Hegels für eine Praxisphilosophie interessiert, und es wäre unanständig, sie als einen Beitrag zum (jenseits echter Philologie ohnehin fruchtlosen) Streit um „den wahren Hegel“ auszugeben. Die inhaltliche Annäherung begleitet so stets die Mitteilung darüber, welche Deutungsoptionen bestehen und ausgeschlagen werden.
Der „kleinste gemeinsame Nenner“ der ansonsten denkbar unterschiedlichen Deutungstraditionen dürfte die Bedeutung des gemeinsamen Tätigseins für Hegels Beantwortung der Frage nach der „Natur menschlicher Subjektivität und ihr[es] Verhältnis[ses] zur Welt“ sein (Taylor 1975, 3). Hegel übernimmt diese |40|Frage nach der Form, den Grenzen und der Wirklichkeit der Vernunft aus der sogenannten „klassischen deutschen Philosophie“. Sein originärer Beitrag besteht darin, die Vernunft, nach der gefragt wird, zu situieren (vgl. zu dieser Charakterisierung u.a. Henrich 1991, Pinkard 1994, Stekeler-Weithofer 2005, Förster 2010): Man verstehe Subjektivität und ihr Verhältnis zur Welt und zur Natur erst richtig, wenn man auch das Medium und Milieu versteht, in dem diese Verhältnisse auftauchen – das menschliche Zusammenleben mit seinen Institutionen, Gepflogenheiten, Sitten und Gebräuchen. Ein angemessenes Verständnis der Vernunft bedürfe so nicht allein der Klärung ihrer geltungstheoretischen Möglichkeitsbedingungen, sondern müsse irgendwie die handfesten sozialen Bedingungen ihrer Verwirklichung mitbedenken. Wenn es aber – mit einer erläuterungsbedürftigen Merkformulierung – Vernunft nur in einer oder als eine soziale Praxis „gibt“ (vgl. etwa Bertram 2017), dann gehört zum Nachdenken über das Denken erstens auch dazu, seine Natürlichkeit, seine Geschichtlichkeit und seine politische Dimension als nicht nebensächlich zu begreifen. Zweitens ist jede Ausübung der Vernunft etwas, das besser oder schlechter getan wird: es ist, wie alle menschlichen Vollzüge, Gegenstand normativer Urteile. Dass das Ausüben vernünftiger Fähigkeiten einer normativen Grammatik folgt (s. Müller 2003), ist zumindest ein Hinweis darauf, dass sich „theoretische“ und „praktische“ Philosophie nicht wie zwei aufgrund ihrer verschiedenen Gegenstandsbereiche grundsätzlich getrennte Unternehmen begreifen lassen: Wenn auch die Probleme der theoretischen Philosophie begrifflich auf eine gute Ausübung vernünftiger Fähigkeiten bezogen sind, dann wird man das Nachdenken über Wahrheits-, Wissenschafts- und Erkenntnistheorie jedenfalls methodisch bei der „praktischen“, d.h. tätigen Vernunftausübung beginnen lassen müssen. Daraus müsste drittens folgen, dass das gesamte Projekt der modernen Vernunftphilosophie grundsätzlich nicht von einem – und sei es methodisch konstruierten – Beobachterstandpunkt, sondern nur vom Standpunkt verwickelter Teilnahme her verstanden werden kann.
Die Absicht dieses Beitrags ist es, Hegels derart radikale Praxisphilosophie (über ihre historische Bedeutung hinaus) wenigstens plausibel zu machen. Hegel formuliert Praxisphilosophie als eine Philosophie des Geistes. Im ersten Schritt werden Gründe dafür gegeben, weshalb das vernünftig ist (2.); der zweite Abschnitt umreisst den methodisch „unbefangenen“ Anfang einer solchen Praxisphilosophie bei der „Wirklichkeit“ menschlicher Vollzüge, und stellt die Darstellungsprobleme vor, die sich aus diesem Vorgehen ergeben (3.). Die beiden letzten Abschnitte schließlich rekonstruieren – von der Gewohnheit über das Handeln hin zur Anerkennung und ihrem gemeinsamen Medium, der „Sittlichkeit“ – die Bestimmungen der Praxis bei Hegel (4.–5.).
|41|2. Praxisphilosophie als Geistphilosophie?
Hegel fasst die verwickelte Teilnahme an Vernunft, die unsere menschliche Lebensweise charakterisiert, unter dem Problemtitel des „Geistes“. Dieser Umweg zur Praxis hat Gründe: Dass bei Hegel das Wort „Praxis“ kaum je auftaucht, passt einerseits zum zeitgenössischen (auch terminologischen) Sprachgebrauch. Es spricht jedenfalls nicht gegen die Bedeutung, die der Begriff „Praxis“ in seinen Überlegungen spielen mag – zumal Hegel natürlich die aristotelische Leitunterscheidung von poiesis und praxis kennt (vgl. etwa seine Referate der aristotelischen Philosophie, v.a. Hegel 1833, II 132ff.), und verwandte Ausdrücke verwendet, um vergleichbare begriffliche Unterschiede zu markieren: „Tun“, „Tätigkeit“, „Herstellen“, „Produzieren“. Trotzdem sollte man Hegels Formulierungen andererseits vielleicht nicht allzu beherzt in das terminologisch scheinbar schlankere Modell der poiesis-praxis-Unterscheidung übersetzen. Erstens wäre „ein affektierter Purismus da, wo es am entschiedensten auf die Sache ankommt, am wenigsten am Platze“ (Hegel 1831, 21). Hegels differenziertere (damit aber auch deutungsbedürftige) Redeweise entspricht seiner Überzeugung, dass „Philosophie […] überhaupt keiner besonderen Terminologie“ bedürfe (Hegel 1831, 21). Hat man ein denkerisches Problem, dann lässt es sich auch in alltäglicher Rede hinreichend streng ausdrücken, und würde durch bloßes Umdefinieren allenfalls versteckt, aber nicht geklärt. Hegels Formulierungen sind zweitens vom terminologischen Modell der „Praxis“ dadurch klar unterschieden, wer oder was in ihnen jeweils als das grammatische Subjekt der Beschreibung auftaucht. „Praxis“ ist eine menschliche Angelegenheit: das Tun und Handeln menschlicher Subjekte und Personen. Wie man diese menschlichen Angelegenheiten befragt, zeichnet vor, was als brauchbare Antwort durchgeht. Zeitgenössisch wurde nach der Bestimmung (endlicher) Subjekte und ihrer Vermögen, Erkenntnis und Handeln, gefragt, und in Rücksicht auf unsere menschliche Verfassung geantwortet. Man fragte, was wir (überhaupt) können, müssen und dürfen, und versprach sich Aufklärung darüber durch die Einsicht, wer „wir sind“ (nämlich: endliche Vernunftwesen, und näher „Menschen“).
Hegel befragt die menschlichen Angelegenheiten dagegen daraufhin, was in welcher Weise getan wird. Er fokussiert auf das Tätigsein selbst. Verstehen, was auf welche Weise getan wird, ermöglicht verstehen, was den Tätigen auszeichnet – nicht umgekehrt. Diese Herangehensweise verspricht, dass wir uns als Subjekte unseres Denkens und Handelns in einer Weise verstehen, die nicht von äußerlichen („dogmatischen“, vorausgesetzten) Annahmen abhängt, sondern unbedingte („absolute“) Selbst-Erkenntnis ist. Weil man aber über solche Tätigkeit schlechterdings nicht sprechen und nachdenken kann, ohne ein tätiges Subjekt zu nennen, versetzt Hegels Darstellung die Beschreibung von Tätigkeit ins Medium des Geistes. Sie schreibt die untersuchten Tätigkeiten einem formalen Subjekt zu, einer darstellungstechnischen Kunstfigur. Weil es ihm um menschliche Angelegenheiten geht, sind die Tätigkeiten, die er beschreibt, zumindest grundsätzlich |42|nicht vom Denken unabhängig. Deshalb besetzt Hegel die Stelle des grammatischen Subjekts solcher Tätigkeitsbeschreibungen mit „dem Geist“.
2.1. „Geist“: Hegels methodische Kunstfigur
Diese Verwendung des Ausdrucks „Geist“ als eine methodische Kunstfigur, die zunächst nur formal das grammatische Subjekt von Tätigkeiten im Allgemeinen markiert, provoziert trotz aller sprachlichen Bemühungen Hegels das referenzialistische Missverständnis, der Ausdruck „Geist“ müsse auf eine Sache „in der Welt“ Bezug nehmen: z.B. eine individuelle Fähigkeit einzelner Menschen (im Sinn des engl. „mind“), oder eine geheimnisvolle transzendente Instanz (im Sinn der religiösen Rede von einem „heiligen Geist“). – Tatsächlich liegt jedenfalls das erste Missverständnis nahe. Da der Ausdruck grammatisch ein individuelles Subjekt – „den Geist“ – benennt, scheint es plausibel, dieses formale Individuum mit einem realen menschlichen Individuum zusammenfallen, und „Geist“ dessen faktische individuelle Eigenschaft oder Fähigkeit bezeichnen zu lassen. Wäre „Geist“ aber (nur) eine individuelle Eigenschaft, dann wäre prinzipiell fraglich, wie „individuelle Geister“, also die Ausprägung und Ausübung einer geistigen Fähigkeit in verschiedenen Individuen, zusammenhängen. Man könnte sich dann weder vorstellen, dass zwei Menschen nicht-zufällig denselben Gedanken fassen, oder dass sie einander aus Respekt vor ihrer Würde vernünftigerweise verpflichtet sind, weil die fraglichen geistigen Tätigkeiten bloß äußerlich zusammenhingen (gestiftet z.B. durch die Beschreibung eines unabängigen Beobachters, durch subjektives Entgegenkommen, oder ganz und gar aus Angst vor möglichen Sanktionen im Fall des Nicht-Mitspielens).
Die Kantische Vernunftkritik reagierte auf diese Herausforderung mit dem Gedanken, dass wir, auch wenn die Vernünftigkeit unseres Denken und Handelns in jedem einzelnen Fall fraglich sein mag, zumindest über die reine Idee ihres Gelingens verfügen. Wir kennen die reinen Formen des Verstandes und die reine Selbstbestimmung des Wollens als Gesetz, und das zeigt (meint Kant), dass die verschiedenen Ausübungen geistiger Fähigkeiten darin zusammenhängen, dass sie sich an einem objektiven, über-subjektiven Maßstab der Vernunft bemessen. Diese Versicherung kommt allerdings um den Preis, dass nun umgekehrt der objektive Vernunftmaßstab dem individuellen Denken äußerlich und vorausgesetzt bleibt. Versteht man, warum der Maßstab objektiv gelten kann, dann muss man zusätzlich erläutern, warum er auch für mich gilt. Im Kantischen Bild hängen die Ausübungen geistiger Fähigkeiten, die Tätigkeiten von Geistern, zwar innerlich in ihrem objektiven Maßstab zusammen, aber sie hängen sozusagen nicht aus eigener Kraft zusammen.
Hegels neuer „Geist“-Rahmen entlarvt dieses Missverständnis als ein Darstellungsproblem, indem er vorführt, wie individuelle geistige Vollzüge (Fähigkeiten und Vorgänge) in direktem Zusammenhang mit anderen Individuen stehen. Sie sind – metaphorisch gesprochen – Vollzüge vom selben Geist: Der Maßstab, in dem sie zusammenhängen, besteht nicht irgendwie von ihnen getrennt (so wie „die Vernunft“), sondern er besteht in nichts anderem als genau diesen vernünftigen Vollzügen – als der von allen, die an ihm teilnehmen, geteilte „Geist“. |43|Ein gutes Beispiel dafür ist das Sprechen: Einerseits „gibt es“ Sprache nicht unabhängig von unseren sprachlichen Äußerungen und Tätigkeiten; andererseits haben unsere sprachlichen Tätigkeiten ihr Maß und ihren internen Zusammenhang eben darin, dass sie (unvermeidlich mehr oder weniger gut) den Normen der Sprachpraxis folgen. „Sprache“, die Praxis des Miteinandersprechens, ist „das Dasein des Geistes“ (Hegel 1807, 478): An ihr zeigt sich, wie individuelle geistige Tätigkeiten und der geteilte „Geist“ ihres Mediums zusammenhängen.
So benennt Hegels Rede vom „Geist“ erstens die Fähigkeit, sich selbst als Subjekt seines Denkens und Handelns zu verstehen. Der Ausdruck „Geist“ funktioniert dann subjektiv: als Ausdruck für ein reflexives Selbst-Wissen. „Subjektiver“, als Subjekt angesprochener Geist bezeichnet den geistigen Vollzug, in dem „das, was sein Begriff ist, für ihn wird“ (Hegel 1830, § 382), man sich also als das begreift, was sich so begreift (vgl. Boyle 2011, § IV). Das wiederum beinhaltet wesentlich, sich als selbst-bestimmt zu begreifen. Natürlich findet man sich immer auch durch Anderes bestimmt; man weiß sich dann aber als nur beiläufig äußerlich bestimmt (wäre das anders, dann könnte man sich nicht als Subjekt seines eigenen Tätigseins, sondern allenfalls als Objekt irgendeines anderen Subjekts ansprechen). Deshalb ist das „Wesen des Geistes […] formell die Freiheit“ (Hegel 1830, § 382): Geistiges Tätigsein gelingt desto besser, je selbstbestimmter es ist. „Das Sein des Geistes ist ihm, bei sich, d.i. frei zu sein“ (Hegel 1830, § 385).
Solches „bei sich-Sein“ kann man sich nicht nur als durch das Tun eines individuellen Subjekts bewirkt vorstellen; ein „geistiges Individuum“ kann sich das Maß seiner Vollzüge weder selbst geben, noch es bloß vorfinden. – Das Sprachspiel des „Geistes“ zeigt aber, dass man sich geistiges Tun ohnehin nie rein individuell vorstellt. Unser geistiges Tun hat sein Maß nie nur (obzwar immer auch) in uns, sondern immer auch (aber nie nur) darin, wie man so etwas tut, d.h. in der allgemeinen Form solchen Tuns – nicht nur im subjektiven Geist, sondern auch im Geist der Tätigkeit. Deshalb muss man vom „Geist“ zweitens auch objektiv sprechen. Denn der Art, „wie man etwas macht“ (der Form dieser Handlung), begegnet man in der Welt – nicht als etwas schlechthin von uns Unabhängigem (denn ohne unser φ-en „gibt es“ die Form „wie man φ-t“ nicht), aber auch nicht als etwas einfach von je mir Gemachtem (denn ich kann nicht beliebig das, was ich tue, als gutes φ-en ausgeben). Diese objektive Beschreibung thematisiert geistige Tätigkeit „in der Form der Realität als eine[] von ih[r] hervorzubringende[] und hervorgebrachte[] Welt, in welcher die Freiheit als vorhandene Notwendigkeit ist“ (Hegel 1830, § 385): denn nur vor dem Hintergrund der Üblichkeiten und Institutionen einer solchen normativen „Welt“ ist es verständlich, subjektive geistige Tätigkeiten als besser oder schlechter zu beurteilen, ja sogar (aus „vorhandener Notwendigkeit“) unumgänglich, weil man nicht sagen kann, dass die Güte des eigenen Tuns einem bloß zustoße.
So ist man, wenn man tätig ist, beim Geist, und das heißt, bei sich. Man spricht nicht von „zwei Geistern“, sondern aus zwei unterschiedlichen Perspektiven über ein und denselben Geist. Geistiges Tätigsein „objektiv“ betrachten heißt, seine |44|allgemeine Form aussagen, die wir Individuen gemeinsam haben. Sich als Subjekt wissen heißt, aus der subjektiven Teilnehmerperspektive um das geistige Tätigsein wissen, das man mit allen möglichen Subjekten teilt und an jedem Subjekt exemplifiziert findet: „Das allgemeine Selbstbewußtsein ist das affirmative Wissen seiner selbst im anderen Selbst, deren jedes als freie Einzelheit“, als tätiges Individuum, „absolute Selbstständigkeit hat“, sich aber hinsichtlich seiner Form „nicht vom anderen unterscheidet, allgemeines und objektiv ist“ (Hegel 1830, § 436). „Geist“ besteht oder ist wirklich in dem und als das, was unserem geistigen Tun gemeinsam ist. „Diese Allgemeinheit ist […] sein Dasein. […] Die Bestimmtheit des Geistes ist daher die Manifestation. Er ist nicht irgendeine Bestimmtheit oder Inhalt, dessen Äußerung oder Äußerlichkeit nur davon unterschiedene Form wäre; so daß er nicht etwas offenbart“, was dann losgelöst von ihm da wäre, „sondern seine Bestimmtheit und Inhalt ist dieses Offenbaren selbst“ (Hegel 1830, § 383). „Geist“ ist nichts Anderes als unser geistiges Tun; er ist das, was sich in unseren Tätigkeiten manifestiert, indem wir sie als mehr oder weniger vernünftig, und damit uns als Subjekte unseres Tuns und Handelns begreifen.
Begreifen wir unser geistiges Tun so aus subjektiver und objektiver Perspektive, dann denken wir unsere menschlichen Angelegenheiten selbst: wir denken den Geist als unbedingt, als „absoluten Geist“. Wir denken unser Denken dann „in an und für sich seiender und ewig sich hervorbringender Einheit der Objektivität des Geistes und […] seines Begriffs“ (Hegel 1830, § 385). Das „Geist“-Modell für die Formulierung hergebrachter vernunftphilosophischer Fragen macht „Vernunft“ als nichts Anderes als die Form unseres wirklichen Tätigseins sichtbar, als den internen Zusammenhang unserer menschlichen Angelegenheiten. „Vernunft“ manifestiert sich als unsere Praxis.
2.2. Zwei Arten des Nachdenkens über geistiges Tätigsein: „Philosophie der Praktiken“ oder „Praxisphilosophie“
Praxisphilosophie geht es (mit einer programmatischen Formulierung von Volker Schürmann) „nicht primär um das Verhältnis von theoretischer und praktischer Vernunft“ im Sinn individuell verstandener subjektiver Vermögen, „sondern um die Einbettung und damit Bedingtheit von Vernunft in ‚Geist‘, ‚Praxis‘, ‚Leben‘, ‚Gesellschaft‘“. Deshalb stellt sie „von einer […] Bewusstseinsphilosophie auf eine Philosophie des Geistes“ um (Schürmann 2017, 121). Hegel realisiert diese „Umstellung“ durch einen neuen Beschreibungsrahmen, der Tätigsein und Handeln in subjektiver, in objektiver und in unbedingter Perspektive thematisiert. Das korrigiert nicht den Gegenstandsbereich der aufklärerischen Vernunftphilosophie, sondern verändert die Art und Weise des Nachdenkens über vernünftiges Denken und Handeln. Man spricht aus der Perspektive eines exemplarischen, repräsentativen Teilnehmers über Vernunft als etwas, zu dem unsere Teilnahme – unbeschadet ihrer unbedingten objektiven Ansprüche – dazugehört.
|45|Das ist eine Praxisphilosophie, weil die Form solchen Teilnehmens an Vernunft praktisch ist – etwas, das getan wird. – Es geht in Hegels Überlegungen aber auch noch in einem anderen Sinn um „Praxis“: Nämlich in Bezug auf die rechtlichen, staatlichen, pädagogischen Institutionen (und ihre Geschichte), in denen sich das faktische Subjektwerden von Menschen und ihr Zusammenleben abspielt. Der Unterschied beider Akzente lässt sich markieren, indem man im ersten Sinn von einer „Praxisphilosophie“, im zweiten Sinn von einer „Theorie von Praktiken“ spricht. Als Praxisphilosophie gelesen macht Hegel mit der Auffassung Ernst, dass das Nachdenken über menschliche Angelegenheiten ein Nachdenken über Tätigsein ist (und eine verkomplizierende Konsequenz davon ist, dass dieses Nachdenken dann selbst als Exempel desselben Tätigseins begriffen werden muss). Als Theorie der Praktiken gelesen liefert Hegel begriffliche Modelle der sozialen Institutionen, in denen die Ausübungen der Vernunft verortet sind. Die Lesart als Praxisphilosophie bedeutet eine Veränderung des Stils und des Modus, in dem über die (stets mehr oder weniger vernünftigen) menschlichen Angelegenheiten nachgedacht wird: Nicht mehr ausgehend vom Modell der Subjekt-Objekt-Relation, sondern vom Vollziehen von Tätigkeit. Die Lesart als „Theorie von Praktiken“ beinhaltet (scheinbar bescheidener) keine andere Art und Weise, sondern nur einen veränderten Gegenstand des Nachdenkens: Hegel (so sagt man dann) empfiehlt uns, neben den üblichen subjektphilosophischen Themen auch (womöglich sogar insbesondere) über „Praxis“ nachzudenken.
Beide Arten des Nachdenkens über geistiges Tätigsein hängen zusammen: Hegels radikale geistphilosophische Praxisphilosophie wäre ohne „Theorie von Praktiken“ eine blasse Konzeption situierter Vernunft, die nichts darüber sagt, wo sie situiert ist.
Dass auch eine „Theorie der Praktiken“ ohne Praxisphilosophie, ohne die reflexive Transformation des Beschreibungsrahmens, unsinnig wäre, ist umgekehrt viel weniger selbstverständlich, und hängt entscheidend davon ab, wie sehr Hegels methodische Umstellung auf den Rahmen des „Geist“-Sprachspiels überzeugt. Die fachphilosophische Kontroverse darüber wird immer noch von Deutungen bestimmt, die das „Geist“-Modell nicht als methodisches Mittel, sondern als eine Meinung Hegels lesen, die (in doxographischer Nacherzählung) zu tolerieren oder (in systematischer Fortführung) zu korrigieren wäre. Historisch sind solche Deutungen nachvollziehbar: Hegel entwickelt seine Überlegungen in Auseinandersetzung mit den zeitgenössisch avanciertesten Vorschlägen – also an Kant, Reinhold, Fichte und Schelling, und sachlich am epistemologischen Modell von Subjekt und Objekt, das das nachkantische Problemfeld prägt. Teils wird er durch diesen Diskursrahmen und seine Redeweisen eingeschränkt und fehlgeleitet (so Adorno 1963); teils verdecken seine diskursiven Verstrickungen den innovativen Gebrauch, den er von beherzt umgewidmeten Begriffsmitteln macht (so Stekeler-Weithofer 2005, Kap. 1). Deshalb bleibt prekär, in welcher Betonung man Hegels Wortgebrauch hören und welchen systematischen Status man ihm zubilligen soll. Exemplarisch: In Hegels erstem umfassenden Entwurf einer Situierung der Vernunft in der Phänomenologie des Geistes (1807) geht es um den Begriff des Wissens – denn er beginnt methodisch bei der Thematisierung geistigen Tätigseins aus der Subjekt-Perspektive, und mithin bei der Frage, wie man um sein Tätigsein weiß. Es macht aber einen Unterschied, ob man die Phänomenologie als Antwort auf die (begriffliche) Frage „Was ist ‚Geist‘?“, oder auf die (epistemologische) Frage „Wie kann man ‚Geist‘ (überhaupt) erkennen?“ liest (vgl. etwa Emundts/Horstmann 2002, 36f., und mit derselben Strategie |46|Pippin 1989). Am Status, den man dem „Geist“-Modell zuschreibt, entscheidet sich so, ob man sich vom hegelschen Projekt eine Fortführung, eine Radikalisierung, oder eine systematische Überwindung der Kantischen Reflexionsphilosophie erhofft, und alle Urteile über sein Gelingen werden im Licht solcher Hoffnungen gefällt (vgl. exemplarisch Cassirer 1920, Henrich 1991, Halbig 2004, Pippin 2008, Förster 2010, Khurana 2017). Dabei hilft gewiss nicht, dass die Denunziation des „Geist“-Modells historisch mit politischen Transformationen koinzidierte (1848, 1871, 1917, 1968), während derer behutsame Lektüre nachvollziehbarerweise weniger drängte als identitätspolitische Abgrenzung.
Hegels „geistphilosophische“ Situierung der Vernunft provoziert zwei typische Abstossungsreaktionen: Man kann erstens meinen, das unter dem Titel „Geist“ Verhandelte sei im einfacheren Modell menschlicher Praxis eigentlich besser und sparsamer gefasst. Hegels Rede von „geistiger Tätigkeit“ wird dann übersetzt in die Vorstellung einer besonderen Lebens-Tätigkeit, und im Rahmen eines ethischen Naturalismus entfaltet (vgl. etwa Lukács 1948, 826ff. u. 1984, Kap. III; Arndt 2003, Kap. III; Pinkard 1994 u. 2012; immer noch wegweisend für das Nachdenken der in solchen Paraphrasen enthaltenen Naturvorstellungen Ruben/Warnke 1979). Man kann zweitens die Rede vom „Geist“ grundsätzlich suspekt finden, weil man ihre referentialistische Ausdeutung für unvermeidlich hält. Als Lackmustest für die Zumutbarkeit des „Geist“-Modells dient dann oft das, was man Hegels „Geschichtsphilosophie“ nennt: Wenn in das Sich-Selbst-Verstehen des Geistes eine Spannung zwischen subjektiver und objektiver Perspektive eingetragen ist, und wenn sich dieses Verhältnis in „absoluter“ Perspektive in unseren menschlichen Angelegenheiten selbst manifestiert – dann muss man provozierenderweise sagen, dass „der Geist“ eine Geschichte hat, in der er sich entwickelt und verändert. Und wenn man an dieser Stelle die methodische Umstellung auf „Geist“ nicht mitvollzieht, sondern als einen spleen Hegels versteht, dann behauptet Hegels „Geschichtsphilosophie“ in der Tat eine unbegründbare teleologische Ausrichtung historischen Geschehens, an deren Ende aus metaphysischer Notwendigkeit der „preußische Staat“, das „Ende der Kunst“, und die Selbsterhebung der „Philosophie“ über andere (religiöse, wissenschaftliche, ästhetische) Weltverhältnisse steht – anstatt das reflexive Durchprobieren von Modellen vorzuführen, in denen man über Geschichte, auch die des Geistes, nachdenken kann (vgl. zur ersten Lesart exemplarisch Honneth 2014, Schnädelbach 2000a oder Jaeschke 2010, 385, zur zweiten gelungen Pinkard 2017). Unter dem Druck dieses Verdachts wird Hegels Praxisphilosophie verbreitet als überambitioniert und „nicht aktualisierbar“ zurückgewiesen (vgl. etwa Siep 2010, Abschn. IIIc), seine Überlegungen zu einer „Theorie von Praktiken“ aber nutzbar gemacht. So kommt man um Hegels Revision der subdisziplinären Arbeitsteilung im Nachdenken über menschliche Angelegenheiten herum, und kann gleichwohl Lehren für Probleme der „theoretischen“ oder der „praktischen“ Philosophie ziehen. So wurde Hegels methodisch-metaphorische Rede von der „Entäußerung“ des Geistes an die Diskussion der sogenannten „Philosophy of Mind“ assimiliert und handlungstheoretisch nutzbar gemacht (vgl. Quante 1993 u. 2011, v.a. 324ff.; in kritischer Absetzung vom handlungstheoretischen Rahmen Yeomans 2015), oder – vor allem anhand der Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) – in meta-ethische, moralpsychologische und sozialphilosophische Argumentationen integriert. In dieser Lektüre wird Hegels „Theorie des objektiven Geistes“ zum Stichwortgeber für eine Theorie der Praktiken (vgl. Schnädelbach 2000b), und genauer für den Gedanken, dass sich die politischen und sozialen Institutionen des Zusammenlebens als verhältnismäßig vernünftig so beschreiben lassen, dass mit ihrer Entstehung soziale Ansprüche verbunden sind. Der „objektive Geist“ betitelt dann die sozialen und institutionellen Rahmenbedingungen, die erfüllt sein müssen, damit Menschen sich zu einander als Personen und zu sich selbst als Subjekte verhalten können. Er erklärt die Konstitution sozialer Praktiken (vgl. Honneth 2001, Abschn. 1), und zwar als eine Stufung verschiedener Sphären der Intersubjektivität, die die Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft und des (modernen) Staates zugleich hervorbringen und von ihnen gestützt werden (vgl. die aktuellste Fassung dieses Arguments in Honneth 2011). Eine solche Theorie des Sozialen ermöglicht es, indem sie die institutionellen und sozialen Bedingungen der |47|Entwicklung normativer Selbstverhältnisse nennt, Erfahrungen des Leidens und des Nicht- oder Fehlfunktionierens als diesen Institutionen immanente soziale „Pathologien“ zu problematisieren, und zugleich den vermeintlich „rechtfertigenden“ Status der hegelschen Beschreibungen des „objektiven Geistes“ zu vermeiden (vgl. in diesem Sinn Jaeggi 2014, Kap. 7).
Umgekehrt bliebe es unbefriedigend, wenn man Hegels „Theorie von Praktiken“ metaphysik-skrupulös einfach von seiner Praxisphilosophie entkoppelte. Einerseits wäre durchaus fraglich, ob Hegels Beschreibungen der (seither erheblich fortentwickelten) bürgerlichen Gesellschaft unverändert nützlich sind; immerhin wurde das Ungenügen seiner Beschreibung des entstehenden Kapitalismus bereits zeitgenössisch bemängelt. Es müsste zuerst gezeigt werden, dass seine „Theorie von Praktiken“ (etwa in den Grundlinien) beanspruchen darf, die institutionelle Gestalt der bürgerlichen Gesellschaft im Wesentlichen erfasst zu haben (denn nur unter dieser Voraussetzung ließe sich an faktischen Institutionen zugleich ein normativer Anspruch identifizieren, an den eine kritische Theorie die bürgerliche Gesellschaft erinnert; vgl. Honneth 2001, 43). Andererseits muss eine Theorie von Praktiken den inneren Zusammenhang der vielen vielgestaltigen Praktiken erklären können; andernfalls wäre sie nur eine äußerlich sortierende „Gewürzkrämerbude“ (Hegel 1807, 50).
Hegels Vorschlag ist so aufregend, weil er verspricht, dass diese interne Verbindung im geistphilosophischen Darstellungsrahmen nicht bloß vorausgesetzt ist, sondern sich im wirklichen Vollzug geistiger Tätigkeit, in den Praktiken, exemplifiziert. In den mannigfaltigen Praktiken manifestiert sich die Form der Praxis im Allgemeinen; an unserem Tätigsein zeigt sich der interne normative Zusammenhang der menschlichen Angelegenheiten. Das ist eine vermutlich „anspruchsvollere“ Deutung (aber keine furchtbar heterodoxe: vgl. bei allen Unterschieden etwa Hubig 1985, Stekeler-Weithofer 2005 und 2014a, Menke 1996, Holz 2010, Arndt 2003, Pinkard 2012 u. 2017, Weisser-Lohmann 2011, 264ff.). Zu ihren Begründungshypotheken gehören wenigstens drei Posten: Erstens liest sie Hegels Texte im interessierten Rückblick als gleichberechtigte Beiträge zu einem kontinuierlichen Projekt und bleibt deshalb, weil sie dabei über manche biographische Brüche hinwegsieht, wie jede systematische Aneignung philologisch anfällig. Zweitens schreibt sie Hegel aus Interesse an einer undogmatischen – nicht im Sinne unbegründbarer Meinungen – „metaphysischen“ Geistphilosophie eine (freilich auf seine Selbstkommentierung gestützte) reflexiv-ironische Aufmerksamkeit für seinen eigenen Sprachgebrauch zu – was seine Überlegungen als besonders anfällig für die entstellenden Effekte jeder Paraphrase erscheinen lässt. Drittens ist die hegelsche Praxisphilosophie, weil sie einen methodischen Umweg beschreitet, auf die Geduld ihrer Leserinnen angewiesen: Ihre Radikalität liegt nicht in der direkten Beschreibung von Praktiken, sondern darin, die Tätigkeit solchen beschreibenden Nachdenkens, die Vernunft selbst, als „praktisch“ zu begreifen. Die Theorie von Praktiken hätte erst im zweiten Schritt dem Nachdenken darüber zu folgen, wie man vernünftig über Praktiken reflektieren kann, indem man in sie verstrickt ist. Deshalb fehlt sie in dieser Darstellung fast gänzlich.