Читать книгу: «Philosophien der Praxis», страница 8
3.3. Inwiefern fängt Praxisphilosophie beim Denken an?
Dabei war bislang für eine Praxisphilosophie allerdings so viel von „geistiger Tätigkeit“ die Rede, dass der Verdacht, Hegels Vorschlag blende die üblicherweise „handfester“ vorgestellten Bereiche des leiblichen und oft nicht-bewussten Tuns aus, nicht einfach durch den Verweis auf die fabelhaften Versprechen seiner geistphilosophischen Umstellung ausgeräumt ist.
Für diese Umstellung sprach, dass der deskriptive Zugriff einer „Theorie von Praktiken“ den wirklichen Vollzug solcher Praktiken verfehlt. Man begreift einen solchen Vollzug dann (letztlich und unbezweifelbar), wenn der begriffene Vollzug in seinem Begriffenwerden „zu sich selbst kommt“ – wenn man ihn so denkt, dass er sich selbst versteht. So schaut man immer schon auf den geistigen Aspekt an Tätigkeiten, wenn man sie überhaupt als Tätigkeiten anspricht; und am Deutlichsten hat man ihn an der Praktik des Nachdenkens vor Augen.
Das unternimmt die Wissenschaft der Logik. Logik ist als „Wissenschaft Denken des Denkens“ – also das Nachdenken über denjenigen besonderen Vollzug, der in objektiver Gestalt als Gedanke erscheint. Logik begreift diejenige Praktik, die „die Gedanken […] als Gedanken in den Kopf bekommt“ (Hegel 1830, § 19, Hervorh. JM). Selbst die Wissenschaft der Logik ist also Praxisphilosophie, und die Praktik, der sie sich widmet, hat überdies den methodischen Vorteil, dem „unbefangenen Bewusstsein“ darin entgegenzukommen, dass „das eigene Denken und dessen geläufige Bestimmungen […] das Elementarische […,] das Bekannteste“ ist (ebd.).
Folgt aber daraus, dass „Denken“ vielleicht tatsächlich die jeder Denkenden bekannteste und uns gemeinsam deshalb deutlichste Tätigkeit ist, dass man an ihr auch die wesentlichen Aspekte unserer anderen menschlichen Angelegenheiten versteht? Reicht dafür, dass diese Angelegenheiten vom Denken nicht gänzlich unabhängig verständlich sind?
Praxisphilosophie versteht unser menschliches Tätigsein als Wirkliches. Etwas als wirklich denken beginnt mit der Realisierung, dass es einen Unterschied macht, ob man sich eine Sache vorstellt, um dann ergänzend zu fragen, was die notwendigen und hinreichenden Bedingungen ihres Daseins und Vorliegens wären – oder ob man sich eine Sache so vorstellt, dass ihre Wirklichkeit zu ihrer Form dazugehört. Eine Tätigkeit als wirkliche vorstellen heißt, sie als den Vollzug zu denken, der sie ist. Das ist unbezweifelbar genau dann der Fall, wenn das, was gedacht wird, nichts anderes ist als das, was denkt – wenn der Vollzug selbstbewusst ist. Dann ist die Frage, ob das Verstandene angemessen unter einen Begriff fällt, bereits dadurch beantwortet, dass es sich selbst als unter seinen Begriff fallend versteht. Hegel nennt eine begriffliche Form, die das, was unter sie fällt, nicht nur als wirklich repräsentiert, sondern es als wirklich repräsentiert, |55|insofern es unter sie fällt, „Idee“. Es ist klar, dass eine Idee nur eine Aktivität, ein Tun sein kann; denn nur ein Tun kann so als intern reflexiv strukturiert verstanden werden, dass es sich selbst unter den Begriff bringt, unter den es fällt: Denn ein Tun wird vollzogen. „Vollzug“ ist ein Prozess, der nicht (wie andere Prozesse) eine äußerlich gestiftete Einheit sukzessiver Ereignisse ist, sondern dessen Phasen durch ein inneres Prinzip verbunden sind. Während Prozesse unpersönlich, d.h. drittpersonal beschreibbar sind, brauchen Vollzüge die Darstellung aus der Teilnehmerperspektive.
Aus dieser ganz formalen Charakterisierung unserer menschlichen Angelegenheiten als Vollzüge ergibt sich, dass man über sie nicht unabhängig vom „Denken“ nachdenken kann. Dass Vollzüge ihr Prinzip und ihren Ursprung in sich haben, ist nämlich nur genau dann keine bloße Behauptung, wenn man um diese Form von Vollzügen im Vollzug wissen kann. Wissen, was man tut, indem man es tut, und erkennen, was man denkt, indem man seinen Gedanken fasst, sind daher ein und derselbe Vollzug, Ausübung ein und derselben Fähigkeit. So bricht die praxisphilosophische Umstellung auf „Geist“ mit dem Bild, nach dem Denken und Handeln aus unterschiedlichen Quellen schöpfen und auf verschiedene Art (falls überhaupt) wirken. Die als Geist thematisierte Vernunft ist nichts anderes als das, was sich an unserer Praxis als deren Vernünftigkeit zeigt. Dass die „Bestimmtheit des Geistes […] die Manifestation“, „seine Bestimmtheit und Inhalt […] dieses Offenbaren selbst ist“, besagt genau dies: Geist „manifestiert sich“ als menschliches Tätigsein; er ist nichts als unsere Praxis im Allgemeinen (Hegel 1830, § 383).
„Denken“ und „Handeln“ sind dann im selben Sinne Manifestationen des Geistes. Aspekte geistigen Tätigseins. Die Unterscheidung von „theoretischem“ (betrachtendem, das Betrachtete „lassendem“) und „praktischem“ Vernunftgebrauch als eine Unterscheidung von zwei Vermögen ist hinfällig: „Diejenigen, welche das Denken als ein besonderes, eigentümliches Vermögen, getrennt vom Willen, als einem gleichfalls eigentümlichen Vermögen, betrachten und weiter gar das Denken als dem Willen, besonders dem guten Willen, für nachteilig halten, zeigen sogleich von vornherein, daß sie gar nichts von der Natur des Willens wissen“ (Hegel 1821, § 5 Anm.) – dass nämlich „Wollen“ das subjektive Moment der intentionalen Form geistigen Tätigseins ist. Der argumentative Zielhorizont von Hegels Praxisphilosophie begreift Handeln und Wollen als immer schon, nämlich ihrer Form nach, denkend: Handeln ist praktisches Denken; und umgekehrt ist (perzeptives, anschauend auffassendes) Denken seiner Form nach auch begehrend und wollend, nämlich auf Angemessenheit bezogen, und also tätig.
|56|4. Die Elemente „sittlicher Wirklichkeit“
Hegels Praxisphilosophie versteht die Form des geistigen Tätigseins als die Spannung zwischen seiner subjektiven und objektiven Beschreibung. Es wurde deutlich, dass die Gegenstände der Beschreibungen – unsere geistigen Vollzüge – nichts sind, das auch unabhängig von solchen Beschreibungen vorstellbar wäre. Man „hat“ ihren Begriff, indem man sie tatsächlich und angemessen begreift und ausspricht (nicht konstitutionstheoretisch: dadurch, dass man sie ausspricht!). Hegel umschreibt ein derart gelingendes Begreifen als eine „Versöhnung“ des Nachdenkens „mit der Wirklichkeit“ und als „Einheit der Form und des Inhalts“ (Hegel 1821, 27). Darin, dass eine Sache angemessen so gedacht wird, wie sie ist, ist das Nachdenken „mit der Wirklichkeit versöhnt“ – freilich nicht mit derjenigen der gedachten Sache, sondern mit seiner eigenen: „die Form in ihrer konkretesten Bedeutung“, schreibt Hegel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts, „ist die Vernunft als begreifendes Erkennen, und der Inhalt die Vernunft als das substantielle Wesen der sittlichen wie der natürlichen Wirklichkeit“ (Hegel 1821, 27). Ausgehend von diesem methodischen Kern differenziert Hegel sein Projekt und diskutiert Problemlagen, die traditionell den philosophischen Subdisziplinen überantwortet waren, als unterschiedliche Perspektiven auf ein und dieselbe Praxis des Geistes. Dabei bildet die Frage nach unseren menschlichen Angelegenheiten das Leitmotiv, in dem die Frage nach der „sittlichen“ und die nach der „natürlichen“ Wirklichkeit zusammenhängen. Man kann diesen Zusammenhang unterschiedlich perspektivieren – also eher auf die allgemeine kategoriale Systematik fokussieren, die unser Denken überhaupt strukturiert (das Projekt der Wissenschaft der Logik), oder auf die Art, in der die empirischen Wissenschaften Teil der Selbstreflexion unserer Praxis sind (das Projekt der Naturphilosophie im zweiten Teil der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften), oder schließlich auf die Art und Weise, in der unsere menschlichen Angelegenheiten sich in unserer Praxis manifestieren. Um diese letzte Perspektive geht es nun zuletzt. Sie ist einerseits für die „Geschichte der Praxisphilosophie“ interessant, weil sie traditionelle „praktisch-philosophische“ Aspekte behandelt. Vor allem aber ist sie andererseits für die Systematik der Praxisphilosophie zentral, weil zur Form geistiger Tätigkeiten ihre Normativität gehört. Hegel fasst das in der Frage nach der „sittlichen Wirklichkeit“: Das Wirksamsein praktischer Normativität im Handeln und Denken zu begreifen heißt, diese Normativität „substantiell“, also als objektiv und selbstgenügsam zu verstehen. Ihre Geltung hängt nicht von unserer Zustimmung ab; nur deshalb können diese Normen uns vernünftigerweise binden. Zugleich aber ist „in dem, was substantiell ist, ebenso die subjektive Freiheit zu erhalten“ – denn sonst wäre die freie Anerkennung normativer Autorität von bloßem Zwang, Vollzüge von Widerfahrnissen ununterscheidbar. Die Praxisphilosophie löst diese Spannung nicht (nach der Seite des Subjekts hin, oder nach der Seite etwa der „Struktur“ hin) auf, sondern markiert sie als das, was geistiges Tätigsein ausmacht: Die innere Spannung unseres Tätigseins steht „nicht in |57|einem Besonderen und Zufälligen, sondern in dem, was an und für sich ist“ (Hegel 1821, 27). Methodisch beginnt die Praxisphilosophie mit dem Aufweis der Notwendigkeit dieser Spannung, indem sie die Form unserer wirklichen Vollzüge reflektiert, um die „Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen“ (Hegel 1821, 26), also: gerade in dem, was uns als Problem irritiert, die Form zu verstehen, die sich darin exemplifiziert. Wie die Vernunft selbst ist dieses Fragen nach ihrer Manifestation deshalb unhintergehbar situiert: es ist seiner Form nach durch das bedingt, was es anstieß. Diese Erfahrung und Hegels Umgang mit ihr wird im Folgenden nachvollzogen: Der Anstoß ist das irritierende Dilemma, in das das subjektive Nachdenken über praktische Normativität führt (4.1.). Ganz unproblematisch wirklich ist „objektive“ Normativität dann, wenn sie verleiblicht ist: als Gewohnheit (4.2.). Gewohnheit allein reicht aber nicht, um die unser Handeln bestimmende Normativität zu verstehen. In intentionalen Vollzügen zeigt sich vielmehr, dass das, was (in der Gewohnheit) rein individuell aussah, sachlich schon auf die Allgemeinheit praktischer Formen bezogen ist (4.3.) – sodass die Form des individuellen Wollens seiner Form nach immer schon inter-subjektiv, oder ein Anerkennungsverhältnis ist (4.4.).
4.1. Der Anstoß: „Praktische Vernunft“
Auch die Praxisphilosophie beginnt mit der Subjektperspektive. Denken (und Handeln) tauchen in ihrer „am nächsten liegenden Vorstellung […,] in [ihrer] gewöhnlichen subjektiven Bedeutung“ auf: „Das Denken als Subjekt vorgestellt ist Denkendes, und der einfache Ausdruck des existierenden Subjekts als Denkenden ist Ich“ (Hegel 1830, § 20). Noch bevor man fragt, wie sich die Normativität geistiger Tätigkeit objektiv vorstellen lässt, muss man Denken eben als mein Denken, und „ich“ mich als Subjekt meiner eigenen Selbstbestimmung auffassen.
Fragt man sich aber, wie in einer Situation richtig und gut zu handeln wäre, dann verstrickt man sich mit diesem „unbefangenen“ subjektiven Selbstverständnis unversehens im leeren Formalismus des „moralischen Bewußtseins“ (vgl. etwa Yeomans 2015, Kap. 2). Warum? – „Sich selbst bestimmen“ heißt, das eigene Handeln und Wollen an einem Gut zu orientieren, das als zugleich objektiv und anerkannt vorgestellt werden muss und daher „die Bestimmung der allgemeinen abstrakten Wesentlichkeit – der Pflicht“ hat (1821, § 133). Das ist Kants Einsicht: Nur Pflicht orientiert intern und notwendig. Der Gedanke ist aber, meint Hegel, durch seine Abstraktheit ambivalent: „So wesentlich es ist, die reine unbedingte Selbstbestimmung des Willens als die Wurzel der Pflicht herauszuheben […], so sehr setzt die Festhaltung des bloß moralischen Standpunkts […] diesen Gewinn zu einem leeren Formalismus […] herunter“ (Hegel 1821, § 135). Setzt man „unbefangen“ bei sich als „Subjekt“ an, dann bleibt in konkreten Situationen unklar, ob ein Gut, oder ob ich die Quelle der Notwendigkeit bin, die mich zum Handeln nötigt. Der Gedanke der Pflicht in seiner nötigenden Allgemeinheit ist leer; er sagt nicht, wen er zu was genau zwingt. Man könnte deshalb – immer noch |58|ganz „unbefangen“ überlegend – die Aufgabe, in einer Situation auch inhaltlich zu sagen, wozu man vernünftigerweise verpflichtet ist, in „die Besonderheit überhaupt [… verlegen,] in die Subjektivität […] – das Gewissen“. Denn im Akzent auf die Vernünftigkeit des Wollens fokussiert man „nur die formelle Seite der Tätigkeit des Willens, der als dieser [d.h. als ein bestimmter Wille] keinen eigentümlichen Inhalt hat“ (Hegel 1821, § 136–37). Die inhaltliche Bestimmung (das Gewollte, und die affektive Tönung des Wollens) muss deshalb von anderswoher rühren – und woher naheliegender als aus unserer unergründlichen Individualität?
„Gewissen“ ist hier der Titel für gesinnungsmäßiges Wollen. Mit dem Verweis auf das Gewissen beansprucht man „die absolute Berechtigung des subjektiven Selbstbewußtseins […], nämlich in sich und aus sich selbst zu wissen, was Recht und Pflicht ist, und nichts anzuerkennen, als was es so als das Gute weiß, zugleich in der Behauptung, daß, was es so weiß und will, in Wahrheit Recht und Pflicht ist“. Der Verweis aufs Gewissen ist indes ambivalent: er muß Angemessenheit, „Wahrheit“ beanspruchen, kann sie aber nicht einlösen. Denn „ob das, was [ein Individuum] für gut hält oder ausgibt, auch wirklich gut ist, dies erkennt sich allein aus dem Inhalt dieses Gutseinsollenden“. Wenn aber der Inhalt das Maß für die Güte des Wollens ist, dann kann er gerade nicht rein individuell bestimmt sein, sondern muss die Form „von allgemeinen, gedachten Bestimmungen“ haben, die „Form von Gesetzen und Grundsätzen“ (Hegel 1821, § 137 u. Anm.). Der unbefangene Anfang beinhaltet die Spannung, dass das so vorgestellte gewissenhafte Subjekt zugleich „die urteilende Macht“ sein soll, die sagt, was zu tun gut ist, und „die Macht, welcher das zuerst nur vorgestellte und sein sollende Gute eine Wirklichkeit verdankt“ (Hegel 1821,§ 138). Man verstünde sich zugleich als nach Normen urteilend, und darin als die Quelle der Kraft, die diese Normen zum Maßstab macht, an dem sich Urteile orientieren können. Beim Versuch, sich selbst als Quelle seines guten Handelns zu verstehen, entdeckt der „unbefangene“ Anfang so, dass das Gewissen „als formelle Subjektivität schlechthin [… immer] auf dem Sprunge […ist], ins Böse umzuschlagen; an der für sich seienden, für sich wissenden und beschließenden Gewißheit seiner selbst haben beide, die Moralität und das Böse, ihre gemeinschaftliche Wurzel“ (Hegel 1821, § 139 Anm.).
Wenn gewollt wird, will jemand etwas; man bekommt den konkreten wollenden Menschen nicht aus der Vorstellung vom „Wollen“ heraus. Für Kant war es gerade ein Clou der Moralbegründung, dass die Rede vom „reinen Willen“ eine Abstraktion ist, die es uns erlaubt, zwischen dem universellen Anspruch „an sich guten Wollens“ und seiner Exemplifikation in Leuten wie uns zu unterscheiden. Hegels Analyse des „Gewissens“ zeigt aber, dass diese Abstraktion von der „natürlichen“ Besonderheit wollender Menschen etwas ausblendet, was zum endlichen Wollen doch wesentlich dazugehört: Weil zur Natur von Menschen gehört, dass sie geistig tätig sind, sind ihre „natürlichen“ Triebe und das vernünftige Wollen verbunden – vernünftiges Wollen ist nicht „rein“, sondern die Transformation des natürlichen Triebs (vgl. Hegel 1830, § 474 Anm.). „Der Mensch ist […] zugleich sowohl an sich oder von Natur als durch seine Reflexion in sich böse“ (Hegel 1821, |59|§ 139 Anm.): „Böse“ ist es, sich seinen vermeintlich „bloß natürlichen“ Trieben zu überlassen; spiegelbildlich „böse“ ist es, zu meinen, man könne sich in völliger Abstraktion von seiner eigenen natürlichen Wirklichkeit zum Repräsentanten des „reinen Willens“ aufschwingen, und das konkrete normative Maß guten Handelns dabei nur dem eigenen „Gewissen“ entnehmen. Man muss sich, wenn man „unbefangen“ anfängt, als sich selbst bestimmendes Selbstbewusstein verstehen: als Subjekt praktischer Vernunft. Dabei kann man aber nicht stehenbleiben: Denn die Wirklichkeit praktischer Vernunft, die man so denkt, enhält ununterscheidbar „ebensosehr die Möglichkeit, das an und für sich Allgemeine als die Willkür“, oder „die eigene Besonderheit […] zum Prinzipe zu machen und sie durch Handeln zu realisieren – böse zu sein“ (Hegel 1821, § 139; vgl. Hegel 1830, § 511).
4.2. Die Gewohnheit des Guten: Die geistige Durchbildung des Natürlichen
Hegels „unbefangener“ Beginn der Praxisphilosophie stößt schon im ersten Schritt auf das Dilemma, wie man sich als Subjekt seines Denkens und Handelns so verstehen kann, dass man unter Normen steht, und zugleich Ursprung dieser Normen ist. Beides ist notwendig: Man muss seine Vollzüge als unter Normen stehend begreifen können, damit man sie als „besser“ oder „schlechter“ verstehen kann; diese Normen können einem nicht völlig äußerlich sein, weil sie sonst mit dem eigenen Tätigsein nur noch beiläufig zu tun hätten. Muss man aber so grundsätzlich einsteigen, dass dieses Dilemma unausweichlich scheint?
Tatsächlich kennen wir das Phänomen eines normativen Tätigseins, bei dem wir (in einer bestimmten, aber nicht nebensächlichen Hinsicht) buchstäblich selbst die Quelle der Normen sind, unter denen wir stehen – nämlich das Tätigsein aus Gewohnheit. Ganz analog zur aristotelischen Erläuterung der Tugend (vgl. auch Haase 2017) versteht Hegel Gewohnheit als eine gestaltete, erworbene Disposition zum Tätigsein: keine einfach „natürliche“ Disposition, sondern eine, die durch die Bearbeitung und Transformation solcher natürlichen Dispositionen entsteht. Der Erwerb solcher Gewohnheiten ist leicht begreiflich: Sie entstehen durch Übung, durch Wiederholung, manchmal durch Lehre und Anleitung. Aufregend ist, wie sie funktionieren, wenn sie bestehen: Sie gehen einem Menschen buchstäblich „in Fleisch und Blut“ über und gehören zu seiner Leiblichkeit. Wer gewohnheitsmäßig eine Tätigkeit φ ausführt, der stößt ihr eigenes φ-en in bestimmter Weise zu (sie kann sich zum Beispiel über ihr φ-en wundern). Und in einem bestimmten Sinn ist nicht sie das Subjekt dieses φ-ens, sondern ihre Gewohnheit: Beurteilt man z.B. ihr φ-en als schlecht, dann entschuldigt sie (in einem gewissen Grad) die Auskunft, sie habe „aus Gewohnheit so“ ge-φ-t (weil nicht ihr aktuelles Tun, sondern die Art und Weise der Gewöhnung zu tadeln ist). In der Gewohnheit ist einem die eigene Tätigkeit, das eigene Denken unmittelbar: Man tut und denkt, aber man ist nicht bei seinem Tun und Denken, sondern bei |60|dessen Gegenständen. Hegel nennt diese Unmittelbarkeit des eigenen Denkens Seele; und „Seele“ ist nur vorstellbar als verkörpert: als beseelter Leib. (In Hegels Formulierung: „Seele“ ist die „ideelle, subjektive Substantialität dieser Leiblichkeit […], wie sie in ihrem an sich seienden Begriff […] nur die Substanz derselben als solche war“; Hegel 1830, § 409.)
Man weiß in der Ausübung der Gewohnheit nicht um sich (allenfalls hat man, sagt Hegel, ein „Selbstgefühl“); trotzdem muss man sich im Zweifelsfall das, was man aus Gewohnheit getan hat, als eigenes Tun zuschreiben, und sich also auch zuschreiben, dass man es unmittelbar auf eine gewisse Art und Weise, nämlich gewohnheitsmäßig besser oder schlechter getan hat. Und in dieser unmittelbaren, nicht-bewussten Weise sind wir als Gewohnheit zugleich diejenigen, die φ-en, und die Verkörperung der Norm des φ-ens. Als Gewohnheit hat die „Seele […] den Inhalt […] in Besitz und enthält ihn so an ihr, da sie in solchen Bestimmungen nicht als empfindend ist, nicht von ihnen sich unterscheidend im Verhältnisse zu ihnen steht noch in sie versenkt ist“ – denn wenn wir gewohnheitsmäßig handeln, dann orientieren wir unser Tun nicht an einer objektiv vorgestellten Norm, sondern handeln unmittelbar auf die Art normativ, die uns zur Gewohnheit wurde. Die Seele hat die Norm dann „empfindungs- und bewußtlos an ihr“ (Hegel 1830, § 410): sie ist ein Teil ihrer individuellen Gestalt geworden.
Mit der Gewohnheit erinnert Hegel aber nicht nur an eine uns ganz „unbefangen“ bekannte Art und Weise, in der die Norm einer Tätigkeit und der Vollzug dieses Tätigseins unproblematisch zusammenfallen, ohne in das leitmotivische Dilemma der Subjektphilosophie zu geraten. Er macht auch auf die Unmittelbarkeit des gerade-wirklich-Vollziehens als den Modus dieses Zusammenfallens aufmerksam. Wohlgemerkt: Hier geht es nicht um einen vermeintlichen Unterschied von (nicht-denkendem) „Handeln“ und (irgendwie distanziertem) „Nachdenken“ – sondern um den Modus, in dem man sich (unbefangen und im ersten Schritt) den Vollzug geistigen Tätigseins vorstellen muss. „Gewohnheit“ ist der Name für den Umstand, dass wir ständig in dieser Weise unmittelbar dabei sind, unsere menschlichen Angelegenheiten auszuführen: „Die Form der Gewohnheit umfaßt alle Arten und Stufen der Tätigkeit des Geistes“, vom aufrechten Gang („der Mensch steht nur, weil und sofern er will, und nur so lange, als er es bewußtlos will“), über die Tätigkeit des Sehens, bis hin zu den „vielen Bestimmungen der Empfindung, des Bewußtseins, der Anschauung, des Verstandes“, die „unmittelbar […] in einem einfachen Akt vereint“ sind, wenn wir z.B. ein Rotkehlchen wahrnehmen, zum Kaffee greifen, oder in der Rede unseres Gegenübers der Pause entgegenfiebern, in der wir sprechen dürfen. „Das ganz freie, in dem reinen Elemente seiner selbst tätige Denken bedarf ebenfalls der Gewohnheit und Geläufigkeit, dieser Form der Unmittelbarkeit, wodurch es ungehindertes, durchgedrungenes Eigentum meines einzelnen Selbsts ist“. Warum? Weil das, worauf man sich bezieht, wenn man von sich als geistig Tätiger, oder als einem geistigen Wesen spricht, zunächst nicht die avancierte Vorstellung eines „sich selbst bestimmenden Subjekts“ ist, sondern die Vorstellung einer habituell geistig Tätigen. |61|„Erst durch diese Gewohnheit existiere Ich als denkendes für mich“ (Hegel 1830, § 410 Anm.): Die einzige Gestalt, auf die wir Bezug nehmen können, wenn wir von uns als „Denkenden“ reden, ist die verkörperte Gewohnheit des Denkens. Der methodische Anfangspunkt der Praxisphilosophie beim Vollzug ist, nolens volens, der Anfang bei einem konkret, leiblich exemplifizierten Vollzug – beim unmittelbaren Tun eines Menschen. Leiblichkeit ist kein einfacher Zusatz zum geistigen Tun, sondern sein Medium: „Die Seele ist als diese Identität des Inneren mit dem Äußeren, das jenem unterworfen ist, wirklich; sie hat an ihrer Leiblichkeit ihre freie Gestalt, in der sie sich fühlt und sich zu fühlen gibt“ (Hegel 1830, § 411). Man muss „sich von der Trennung“ losmachen, die man „einmal zwischen den Seelenvermögen, dem Gefühl, dem denkenden Geiste willkürlich gemacht hat, […] und zu der Vorstellung […] kommen, daß im Menschen nur eine Vernunft im Gefühl, Wollen und Denken ist“; dann verschwindet auch das Unbehagen vor der Einsicht, „daß die Ideen, die allein dem denkenden Geiste angehören, Gott, Recht, Sittlichkeit, auch gefühlt werden können. Das Gefühl ist aber nichts anderes als die Form der unmittelbaren eigentümlichen Einzelheit des Subjekts, in die jener Inhalt, wie jeder andere objektive Inhalt, dem das Bewußtsein auch Gegenständlichkeit zuschreibt, gesetzt werden kann“ (Hegel 1830, § 471 Anm.). Praxisphilosophie fasst unsere menschlichen Angelegenheiten in ihrer tätigen Wirklichkeit. Die erste, unbefangene Erscheinung solchen Tätigseins ist die Gewohnheit: der Norm und Ausübung, „Innen“ und „Außen“ unmittelbar verbindende, gefühlte, wirkliche Vollzug.