Читать книгу: «Standardsprache zwischen Norm und Praxis», страница 5
3. Zur linguistischen Konzeptualisierung standardsprachlicher Variation
Das Modell der Plurizentrik von Standardsprachen trägt dem Umstand Rechnung, dass Standardsprachen überall dort, wo sie National- oder Amtssprachen sind, aufgrund politisch-historischer Eigenentwicklung der betreffenden Gebiete Besonderheiten aufweisen. Dass das Nebeneinander (und nicht hierarchische Übereinander) von Standardvarietäten nicht zum kommunikativen Chaos führt, zeigt uns die Anglophonie (Trudgill & Hannah 2008). Britizismen gelten nicht als korrektere Varianten als Varianten anderer englischer Varietäten. Umgekehrt halten bspw. Amerikaner Britizismen nicht für weniger korrekt als die Varianten des General American Standard, auf den man sich global zunehmend bezieht und der (in Bezug auf den kommunikativen Umsatz weltweit) deshalb als dominante Varietät gelten dürfte. Das Englische kann auch auf eine lange plurizentrische lexikographische Tradition zurückblicken – begünstigt durch seine globale Verbreitung und die geographische Abgrenzung der einzelnen Standardvarietäten. Auch die Varietäten der südlichen Hemisphäre sind Teile des englischen Standardvarietätenkonglomerats. Wie verhält es sich im Vergleich dazu mit der Plurizentrik des Deutschen?
Die lexikalischen und semantischen nationalen und regionalen Varianten des Standarddeutschen sind mittlerweile gut dokumentiert und lexikographiert (Ammon et al. 2004, Ammon et al. 2016.) Die Variation der Standardsprache wird nicht durch die Landesgrenzen allein strukturiert, sondern ist auch regional bedingt (vgl. dazu sowie zur theoretischen Debatte zur Plurizentrik und Pluriarealität des Deutschen Niehaus in diesem Band). Quantitativ von geringerer Bedeutung als lexikalische und semantische Varianten sind grammatische Formen, deren systematische Erforschung erst in jüngster Zeit eingesetzt hat. Allerdings ist auch dieser Bereich nicht zu unterschätzen, wie die aktuellen Ergebnisse des Projekts Variantengrammatik des Standarddeutschen zeigen (Dürscheid & Elspaß 2015). Nachfolgend werden einige Beispiele solcher grammatischen Formen genannt, die Anlass zum Zweifel geben könnten, wo jedoch mehrere Varianten als korrekte Standardsprache gelten. Ich stütze mich bei den Beispielen auf Götz (1995), Bickel & Landolt (2012), Elspaß, Engel & Niehaus (2013), Dürscheid, Elspaß & Ziegler (2011), Dürscheid & Sutter (2014), aber auch auf Material des Variantenwörterbuchs (Ammon et al. 2004, 2016). Um der Anschaulichkeit willen werden die genannten Fälle im Folgenden gleich in Sprechakten des Zweifelns formuliert: Wo sagt man bin gestanden und wo habe gestanden? Darf man auch in einem formellen Text ich bin am Arbeiten schreiben, wenn man meint, dass man gerade dabei ist zu arbeiten? Was ist häufiger: Bestandesaufnahme oder Bestandsaufnahme, Mittelklass- oder Mittelklassehotel? Ist die artikellose Konstruktion bei Anfang oder Ende plus Zeitangabe (Ende Jahr, Anfang Februar) korrekt, inkorrekt oder salopp? Heisst es gewoben oder gewebt, gespiesen oder gespeist? Fragt man bei jemandem an oder jemanden an? Nimmt man sich jemandem an oder jemandes an? Mit welchen Genera können diese Wörter vorkommen: Salami, Achtel, Radio, Spray, Kamin? Welche Pluralformen haben Park und Bogen? Heisst das Wetter ändert etwas anderes als das Wetter ändert sich? Bereits sind die Professuren besetzt – ist an dieser Satzstellung etwas falsch? Vergleichbar selten, aber markant und lexikographisch bzw. grammatikographisch schwierig darstellbar sind pragmatische Unterschiede, also Unterschiede im Sprachgebrauch in bestimmten Situationen. Was sagt man nach einer kurzen Unterbrechung eines Telefongesprächs: Da bin ich wieder? Sind Sie noch da? Ebenfalls auf der Ebene der Sprachpragmatik anzusiedeln sind textuelle Unterschiede. In der geschäftlichen Brief- und Mailkorrespondenz zum Beispiel setzt man in der Deutschschweiz gewöhnlich nach der Anrede kein Komma und beginnt die erste Zeile der Nachricht mit Grossschreibung.
Rechtfertigen es nun solche Beispiele, von der Plurizentrik des Deutschen zu sprechen? Dazu hat es in der Linguistik einige Diskussionen gegeben. Einwände gegenüber dem plurizentrischen Konzept der deutschen Standardsprache können in verschiedene Kategorien eingeteilt werden. Genannt sei als erstes die quantitative Argumentation. Aus dieser Perspektive handelt es sich bei der plurizentrischen Variation um ein paar hundert lexikalische Besonderheiten, die nicht genügen, um von einer eigenen Varietät sprechen zu können – im Sinne Wardhaughs (1987), der in Bezug auf das Englische meinte, dass die Standardvariation eher eine Frage von flavor als von substance sei. Quantitativ argumentiert wird auch in Bezug auf die Lautung. So hat Besch (1990) vorgebracht, dass es die nationale und regionale Variation zwar gebe, dass sie sich aber auf die lautliche Ebene beschränke. Wer wesentliche Elemente nationaler Variation in der Schriftlichkeit suche, suche am falschen Platz, so Besch. Die Schrifteinheit, wie er es nennt, sei die Klammer der deutschen Sprachkultur. Weiter gibt es die Argumentation in Bezug auf die normative Geltung. Aus dieser Sicht gibt es zwar Varianten, diese seien aber dialektal. Konkrete Fälle standardsprachlicher Variation würden nicht nur von Laien, sondern auch von Sprachexperten unterschiedlich eingeschätzt. Dadurch, dass man sich in bestimmten Fällen auch unter Modellsprechern, Kodifiziererinnen und Normautoritäten über den standardsprachlichen Status der Varianten uneinig ist, sei sowohl das Konzept der Plurizentrik als auch der Pluriarealität in Frage gestellt. Ein weiterer Einwand gegen das plurizentrische Sprachkonzept ist derjenige, dass die postulierten nationalen Varietäten zu wenig einheitlich seien und es bereits innerhalb dieser Nationalvarietäten grosse areale Unterschiede gebe (vgl. Greule 2002: 58). Hier wird die alte Gliederung des deutschen Sprachraums stärker gewichtet als es die heutigen Staatsgrenzen werden. Gegenüber dem plurizentrischen Modell von Standardsprachen werden ferner kulturpolitische Einwände geäussert. Aus dieser Sicht ist die sprachliche und kulturelle Einheit durch standardsprachliche Varietäten bedroht. Scharfe Kritik wird schliesslich an der Begrifflichkeit der Plurizentrik-Theorie geübt, namentlich am tatsächlich problematischen Begriff Teutonismus (Schmidlin 2011: 75).
Was kann diesen Kritikpunkten entgegengehalten werden? Was die strukturlinguistisch und quantitativ orientierten Einwände anbelangt, ist auf den Unterschied zwischen Types und Tokens hinzuweisen. Gemessen an den Types, also am lexikalischen Inventar, betrifft die Variation der Standardsprache, wie bereits erwähnt, tatsächlich nur einen kleinen Teil des Wortschatzes. Je nach Textsorte kommen diese Wörter aber als Tokens recht oft vor und führen zu Differenzen in der Wahrnehmung von Texten (Schmidlin 2011: 177). Was die normative Geltung anbelangt, so trifft es zwar zu, dass die Einschätzung der Standardsprachlichkeit von Varianten divergieren kann, sogar unter Lexikographinnen und Lexikographen. Jedoch kommen Varianten auch in Qualitätszeitungen vor, welche in der modernen Lexikographie als Beleglieferanten eingesetzt werden, und ein deskriptiver lexikographische Ansatz fordert die Berücksichtigung dieser Varianten ein. Ferner kann das Argument, die Normautoritäten seien sich in Bezug auf die Beurteilung der Standardsprachlichkeit von Varianten des Standarddeutschen selbst nicht einig, dadurch entkräftet werden, dass dies bei anderen Variationsdimensionen, etwa der Stilebene, nicht anders ist. Zum areallinguistischen Einwand, wonach die nationalen Varietäten regional bereits sehr uneinheitlich seien, sei gesagt: Im plurizentrischen Konzept haben beide Variationstypen Platz. Die regionale und die nationale Variation schliessen einander nicht aus. So weist auch Reiffenstein (2001) auf die Durchkreuzung und Unterlagerung der nationalen Varietätsgrenzen durch regionale Variation hin. Niemand wird bestreiten, dass unspezifische Varianten – solche, die sich über die Regionen von mehr als einem Zentrum erstrecken (z.B. Bayern und Österreich) – ungleich häufiger sind als spezifische (z.B. nur in Österreich geltend). Dennoch gibt es sprachliche Bereiche, bei denen Staatsgrenzen kognitiv als Isoglossen wirken können. Mit den Staatsgrenzen gehen Sachspezifika und ein institutionell bedingter Wortschatz einher, wie etwa die Sprache der Gesetzgebung. Diese lexikalischen Spezifika wirken besonders auf die sprachliche Identitätsbildung und Identitätserkennung ein. Dem areallinguistischen Einwand kann also entgegengehalten werden, dass es die nationalen Varianten durchaus gibt, wenn auch viele davon Ausdrücke sind, die an nationale Sachspezifika gebunden sind, namentlich die politischen Systeme, das Schulwesen und das weite Feld der übrigen amtssprachlichen Bereiche. Was schliesslich die gefürchtete Bedrohung der sprachkulturellen Kohäsion betrifft: Die deutsche Sprache blickt auf eine lange plurizentrische Tradition zurück. Insgesamt war ihre Entwicklung seit der frühen Neuzeit eher eine Entwicklung der Konvergenz als der Divergenz. Beispiele für letztere (vgl. etwa DDR-Varianten) sind selten. Was für die Plurizentrik (unter Mitberücksichtigung der pluriarealen Variation) vor allem spricht, ist die sprachliche Realität selbst. Als Tokens lassen sich Varianten der Standardsprache besonders in alltäglichen und institutionellen Domänen in hoher Frequenz belegen, auch über Texte mit Lokalkolorit hinaus. Sie werden produziert und als solche von den Sprechern wahrgenommen. Das bedeutet nicht, dass die Varietäten des Deutschen als starre und klar definierte Konstrukte gesehen werden sollen; als System im System sind sie innerer und äusserer Dynamik unterworfen. Dass sich Sprecherinnen und Sprecher verschiedener Standardvarietäten in der Interaktion einander anpassen können und exonormative Varianten übernehmen können, muss ebensowenig als Widerspruch gegenüber dem Modell der Plurizentrik gelten; die Möglichkeit der sprachlichen Akkommodation der Sprecherinnen und Sprecher spricht nicht per se gegen Varietäten, mit denen sich die Sprecherinnen und Sprecher identifizieren.
Kommt dazu, dass man sich in einigen Fällen – das betrifft besonders die Lexik – für eine Variante aus einer Variantenreihe entscheiden muss, weil es keine überdachende gemeindeutsche Variante gibt. Dies zeigen z.B. die Variantenreihe Fleischer, Metzger, Fleischhauer, Schlachter etc. und Institutionalismen wie Matura, Matur und Abitur. Dies wird oft vergessen, wenn das monozentrische Modell (wonach die Standardsprache ein geographisch lokalisierbares Zentrum hat und eine Peripherie, die sich mit den Dialekten mischt) dem plurizentrischen Modell als das auch in der Didaktik einfacher handhabbare Modell gegenübergestellt wird mit dem Empfehlung, auf das Gemeindeutsche oder „Binnendeutsche“ (zur Problematik dieses Begriffs Schmidlin 2011: 87) zu fokussieren.
4. Zur Einschätzung standardsprachlicher Variation
Wie ich an anderer Stelle ausführlich dargelegt habe (Schmidlin 2011, Schmidlin 2013), gilt aus Sicht der Sozio- und Variationslinguistik das monozentrische Modell zwar als überholt, es ist jedoch dasjenige Modell, auf das im Zweifelsfall zurückgegriffen wird. Aus der Psychologie wissen wir, dass Einstellungen eine affektive, eine kognitive und eine konative Komponente haben. Mit konativ ist gemeint, dass Einstellungen handlungsleitend sind. Wenn wir davon ausgehen, dass das Zweifeln an der Korrektheit und Angemessenheit sprachlicher Varianten eine Form sprachlichen Handelns darstellt und dass dieses Handeln von Einstellungen geleitet wird, lohnt es sich zu fragen, welche Faktoren diese Handlung beeinflussen.
In Schmidlin 2011 werden mittels eines Internetfragebogens bei über 900 Sprecherinnen und Sprechern aus dem ganzen deutschen Sprachraum Gebrauch und Einschätzung nationaler und regionaler Varianten des Standarddeutschen erhoben. Dabei wurde nicht nur die nationale, sondern auch die regionale Herkunft der Gewährspersonen als Einflussfaktoren erfasst, womit dem im vorliegenden Aufsatz vertretenen Postulat der Perspektivierung des Zweifelns entsprochen wird. U.a. wurden die Gewährspersonen gefragt, mit welchem Wort sie den Satz Er stolperte und bemerkte, dass seine … offen waren am ehesten ergänzen würden, wenn sie diesen in einem Brief oder einem Schulaufsatz schreiben müssten. Sie hatten Schuhbändel, Schuhbänder, Schnürsenkel und andere Varianten zur Auswahl. Als markanteste Variantenloyalitätsgrenze zeigte sich hier die Landesgrenze. Die Gewährspersonen aus Deutschland wählten am ehesten diejenige Variante, die gemäss areallinguistischen und lexikographischen Befunden „ihre“ eigene Variante ist – d.h. die Südwestdeutschen wählten Schuhbändel, die Nord- und Mitteldeutschen Schnürsenkel. Mittlere Loyalitätswerte wiesen Gewährpersonen aus Österreich auf: Sie wählten Schuhbänder neben Schnürsenkel. Die Deutschschweizer aber hielten in dieser Versuchsanlage jeweils Schnürsenkel für angemessener – sie wählten die „eigene“ Variante also eher ab. Auch bei der Beurteilung einer Serie von Varianten im Hinblick darauf, ob sie dialektal, eher dialektal, eher standardsprachlich oder standardsprachlich sind – z.B. einlangen, speditiv, Klassenfahrt, besammeln –, zeigt sich die Landesgrenze als kognitive Grenze, halten doch alle Gewährspersonen aus Deutschland die südlichen Varianten eher für dialektal (was aber die Südwestdeutschen interessanterweise nicht davon abhält, „ihre“ Variante im Lückentext zu wählen), während ihnen die Gewährspersonen aus der Schweiz und vor allem aus Österreich eher standardsprachlichen Status zuschreiben. Aber insgesamt zeigt sich, dass am standardsprachlichen Status der empirisch belegbaren und als standardsprachlich kodifizierten Varianten des Standarddeutschen in einer elizitierten Beurteilungssituation generell gezweifelt wird. Inwiefern sie sie für konditionierte Zweifelsfälle halten, konnte mit dem verwendeten Untersuchungsdesign allerdings nicht erhoben werden.
Beim Befund, dass regionale und nationale Varianten trotz ihrer Belegbarkeit in der Mediensprache und trotz ihrer Aufnahme in die einschlägigen Kodices in den Augen der Sprecherinnen und Sprecher Zweifelsfälle sind, wenn sie einzeln und in eingeschränktem textuellen Kontext abgefragt werden, zeigt sich eine gewisse Widersprüchlichkeit, wie sie die Kolleginnen und Kollegen aus Österreich bezogen auf die österreichische Standardvarietät immer wieder erwähnen (Wyss in diesem Band spricht vom „schielenden Blick auf die eigene Sprache“). Im elizitierten Zweifelsfall, in dem Varianten zur Auswahl gegeben werden, greift man offenbar auf ein Standardsprachenkonzept zurück, das auf die National- und Einheitssprachenideologie des 19. und 20. Jahrhunderts verweist (vgl. dazu Elspaß 2005). Warum tut man das? Die Soziolinguistik hat es vor langer Zeit gezeigt, und auch die Laienlinguistik oder Folk-Linguistik weist es nach: Spracheinstellungen beeinflussen das sprachliche Handeln massgeblich. Sie tun dies, weil sich Sprecherinnen und Sprecher über den Sprachgebrauch sozial nach verschiedenen Parametern gegenseitig bewerten. Man schliesst vom Sprachgebrauch auf persönliche und soziale Eigenschaften. Indem wir also aus der Fülle der stilistischen, fachsprachlichen oder auch regionalen Varietäten, die uns zur Verfügung stehen, auswählen, bestärken oder verhindern wir Bewertungen. Sprachbiographisch gesehen werden wir ja bei weitem nicht nur in Lern- und Lehrkontexten für die Art und Weise, wie wir uns sprachlich ausdrücken, bewertet; es ist ein soziolinguistischer Automatismus, den wir selber dauernd erfahren und den wir selber dauernd praktizieren. Dies könnte auch die Variantenskepsis beim schriftlichen Sprachgebrauch, welcher bei den in diesem Kapitel referierten Erhebungen mit ihrem metasprachlichen Fokus den Rahmen bildete, erklären. In der Meinung, gute Standardsprachkompetenz mit variantenfreien Texten nachweisen zu müssen, nimmt man bei der elizitierten Bewertung wenn immer möglich von Varianten Abstand – auch wenn es sich dabei aus linguistischer Sicht nicht um (gefürchtete) Dialektinterferenzen handelt. Der Widerspruch aber zum regelmässigen Vorkommen von Varianten1 in Textsorten, die durchaus Vorbildcharakter haben, bleibt.
5. Standardsprachliche Variation im Kräftefeld der Norminstanzen
Wie die in Kap. 3 erwähnte Internetbefragung von über 900 Gewährspersonen zeigt, ist das in der Variationslinguistik und Lexikographie gut etablierte Konzept der Plurizentrik, das auf einer soliden empirischen Basis fusst (vgl. z.B. Schmidlin 2011: 144–177), in den Einstellungen der Sprecherinnen und Sprecher kaum vorhanden (vgl. Schmidlin 2011: 179–281). Insbesondere den Varianten des südlichen deutschen Sprachgebiets wird der standardsprachliche Status nicht zugetraut, selbst wenn ebendiese Varianten in Qualitätszeitungen belegt werden können und in den Kodices als standardsprachlich ausgewiesen sind.
Auch die Art und Weise, wie Lehrpersonen Sprachnormen vermitteln, wird von ihren eigenen Einstellungen gegenüber der Sprachvariation und ihrem theoretischen Konzept der Standardsprache geprägt. Lehrpersonen bilden einen Teil des Kräftefeldes, welches hinter der Standardisierung und Normierung von Sprachen steht: Sie werden als Normautoritäten wahrgenommen, die neben Lexikographinnen und Lexikographen, Modellsprechern und -schreiberinnen sowie Sprachexpertinnen und -experten das Kräftefeld der Sprachnormierung bilden (vgl. Ammon 1995: 80), auch wenn sie sich dieser Rolle möglicherweise nicht immer bewusst sind. Über die Gewichtung dieser einzelnen Akteure in Ammons Modell kann man diskutieren; unabhängig davon sind Normen nichts anderes als das Produkt sozialer Prozesse, in denen bestimmte sprachliche Phänomene einen normativen Status bekommen oder dabei sind, diesen zu bekommen, andere nicht oder noch nicht (vgl. Auer 2014). Normen sind nichts mehr als dies, aber auch nichts weniger.
Wird jedoch verinnerlicht, in einer Sprachregion zu leben, wo nicht richtig Hochdeutsch gesprochen (oder sogar geschrieben) wird, kann sich dies negativ auf das Selbstbild in Bezug auf die standardsprachliche Kompetenz auswirken – zum Selbstbild der Standardsprachkompetenz bei Deutschschweizerinnen und Deutschschweizern vgl. z.B. Schläpfer, Gutzwiller & Schmid (1991), Hägi & Scharloth (2005), Schmidlin (2011: 231f) sowie Studler (2013).1 Um dem negativen Selbstbild in Bezug auf die Standardsprachlichkeit entgegenzuarbeiten, sollen sprachliche Zweifelsfälle nicht als Kristallisationspunkt der eigenen vermuteten standardsprachlichen Defizite verstärkt werden – „weil ich in der Standardsprache unsicher bin, weiss ich nie, ob man Bahnhofbuffet oder Bahnhofsbuffet schreibt“ –, sondern als Zeichen der Dynamik des Sprachsystems betrachtet werden. Die innere Mehrsprachigkeit (de Cillia 2014) soll nicht in sprachliche Selbstzweifel münden („ich spreche verschiedene Varietäten des Deutschen, ich mische sie, ich fühle mich unsicher“), sondern als Ausgangspunkt für eine Form des Nachdenkens über Sprache dienen, das über die Dichotomie von korrekter vs. nicht korrekter Standardsprache hinausgeht (vgl. Rastner 1997, de Cillia 2014: 16) und vor der vielschichtigen Frage der situativen2, textuellen3 und inhaltlichen Angemessenheit4 bestimmter Varianten nicht zurückschreckt.5
Man könnte jetzt den Standpunkt vertreten, dass bereits die nicht regional und national bedingten Zweifelsfälle (vgl. den „Zweifelsfälle-Duden“, DUDEN 2011) genug sprachdidaktische Arbeit verursachen, und dass man den schulischen Unterricht mit der Kategorie der Zweifelsfälle, die durch die plurizentrische Sprachvariation entstehen, nicht zusätzlich belasten möchte. Tatsächlich ist gemäss Dürscheid & Sutter (2014) der Anteil der Zweifelsfälle im Zweifelsfälle-Duden, die ganz explizit auf regionale und nationale Varianten zurückgeführt werden können, gering: Nur 348 Einträge enthalten einen expliziten Verweis auf ein Geltungsareal (nordd. 29, südd. 63, deutschl. 10, schweiz. 97, österr. 149).6 Regional und national bedingte Zweifelsfälle nun aufgrund ihrer relativ geringen Anzahl Types zu vernachlässigen, halte ich nicht für angemessen, da die Varianten als Tokens – z.B. bin gestanden und habe gestanden – durchaus häufig sind. Zudem sind im Korpus, das dem Zweifelsfälle-Duden zugrunde liegt, vor allem die „Süddeutsche Zeitung“, die „Frankfurter Rundschau“, „Die Zeit“ und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ massgeblich. Dagegen wurden die überregionale Presse Österreichs und der Schweiz nur in sehr geringem Umfang berücksichtigt. Das Wörterbuch der Zweifelsfälle, von dem man ja annehmen könnte, es sei für alle Zweifelsfälle des Deutschen das einschlägige Referenzwerk, scheint in Bezug auf die regionale und nationale Variation des Standarddeutschen also nicht umfassend genug zu sein. Die Situation wird jedoch dadurch entschärft, dass man sich über die Standardsprachlichkeit von sehr vielen Varianten bereits in anderen Wörterbüchern ein Bild machen kann – oder könnte, wenn man wollte.
Es gibt verschiedene Studien, die nachweisen, dass Lehrkräfte in ihren Korrekturen sprachliche Formen und Ausdrucksweisen anstreichen, die von den Kodices eigentlich zugelassen werden (vgl. Davies 2000 und Davies in diesem Band), von den Lehrkräften dennoch mehrheitlich als falsch angestrichen werden – im Sinne von Klein 2003 also wie eine Nullvariante behandelt wird. Henggeler (2008) zeigte ebenfalls auf, dass einige Konstruktionen von Lehrerinnen und Lehramtsanwärtern als falsch angestrichen werden, obwohl die Kodizes die Formen ausdrücklich akzeptieren, wie z.B. der doppelte Akkusativ neben der ebenfalls standardsprachlich anerkannten Dativ-Akkusativ-Konstruktion (Dieses Abenteuer kostete mich /mir fast das Leben). Ferner sind Korrekturen von Lehrkräften heterogen und zuweilen widersprüchlich. Häcker (2009) (vgl. Dürscheid 2011: 163) konnte grosse Unterschiede in der Korrektur von Abiturarbeiten nachweisen. Die Fragilität des Fehlerbegriffs und die Varianz der Fehlerwahrnehmung und Fehlerkorrektur auch bei professionell mit Sprache umgehenden Personen zeigt eindrücklich Henning (2012) (vgl. Schneider 2013: 30).
An dieser Stelle fragt man sich vielleicht, wie es zu diesen Divergenzen und teilweise ungerechtfertigten Korrekturen kommen kann, die doch durch den Blick in einschlägige Wörterbücher und Grammatiken hätten vermieden werden können. Es geht mir hier nicht etwa darum, Wörterbücher gegen die sprachliche Intuition der Lehrerinnen und Lehrer in Stellung zu bringen, sondern vielmehr um ein Plädoyer für die Differenzierung zwischen statuierten, subsistenten und individuell vermuteten Normen. Die vielfältigen lexikographischen und korpuslinguistischen Mittel, die aus variationslinguistischer Forschung hervorgegangen sind, können dabei hilfreich sein.
Wie gut ist der Griff zum Wörterbuch oder zur Grammatik im Alltag von Lehrpersonen verankert? Wie bekannt sind die mittlerweile gut ausgebauten lexikographischen elektronischen Portale oder auch, für die explizite Thematisierung von Zweifelsfällen auf höheren Schulstufen, die durchsuchbaren Korpora wie DWDS7, OWID8 und COSMAS9? Auch zur im vorliegenden Aufsatz diskutierten standardsprachlichen Variation gibt es neben dem Variantenwörterbuch (Ammon et al. 2004, 2016) einige lexikographische Werke: Bickel & Landolt (2012), Meyer (2006), Ebner (2009), Österreichisches Wörterbuch (2012). Aber bereits in den Vollwörterbüchern (DUDEN Deutsches Universalwörterbuch 2015, Wahrig 2006) und in Wörterbüchern für Deutsch als Fremdsprache (z.B. Langenscheidts Grosswörterbuch Deutsch als Fremdsprache 2003) bekommt man Informationen zu nationalen und regionalen Varianten des Standarddeutschen. Selbst die Aussprachevariation der Standardsprache ist dokumentiert – s. z.B. König (1989) und Krech et al. (2010). Die lexikographische Datenlage zu den regionalen und nationalen Varianten des Standarddeutschen kann also als gut bezeichnet werden. Dennoch: Einzelne Studien weisen darauf hin, dass generell nicht gern in Wörterbüchern nachgeschlagen wird (Engelberg & Lemnitzer 2009: 86) – lieber nehme man ein grosses Mass an Unsicherheit bei der Textproduktion in Kauf, als dass man ein Wörterbuch zurate ziehe. Eine gewisse Wörterbuchabstinenz ist auch in anderen so genannten Sprachberufen beobachtbar. So wies Markhardt (2005) darauf hin, dass professionelle Übersetzerinnen und Übersetzer Zweifelsfälle eher informell im Fachkollegium klären, als sie in Wörterbüchern nachzuschlagen. Inwiefern trifft dies auch für Lehrerinnen und Lehrer zu? De Cillia (2014: 17) zitiert eine Interviewerhebung des Klagenfurter Deutschdidaktikers Werner Wintersteiner, woraus hervorgehe, dass für die Beurteilung der standardsprachlichen Korrektheit letztendlich die individuellen Normvorstellungen der Lehrkräfte ausschlaggebend seien. Gerade die Varietätenfrage finde im Unterricht kaum Niederschlag. Empirische Untersuchungen zum Nachschlage-Verhalten von Lehrkräften zur Klärung von varietätenbedingten Zweifelsfällen liegen erst punktuell vor. So hat z.B. eine Befragung von Läubli (2006) von 15 Lehrpersonen ergeben, dass zwar der Rechtschreibduden neben einem Schülerwörterbuch regelmässig konsultiert wird, aber keine Varianten überprüft werden.
Wie bereits erwähnt, gibt es eine Reihe von lexikographischen Werken, die Zweifelsfälle, die durch regionale und nationale Variation der Standardsprache entstehen können, zu klären helfen. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Kodices selbst nicht immer konsistent sind. Dürscheid & Sutter (2014) zeigen auf, dass das Wörterbuch Schweizerhochdeutsch. Wörterbuch der Standardsprache in der deutschen Schweiz (Bickel & Landolt 2012), das Variantenwörterbuch (Ammon et al. 2004) und das Wörterbuch Richtiges und gutes Deutsch. Das Wörterbuch der sprachlichen Zweifelsfälle (Duden 2011) Zweifelsfälle, die national und regional bedingt sind, teilweise unterschiedlich behandeln. Dies hänge einerseits damit zusammen, dass es keine klare Unterscheidung von standardsprachlichen und nonstandardsprachlichen Varianten gibt. Dürscheid & Sutter (2014) monieren zudem, dass das Variantenwörterbuch die Kategorie „Grenzfall des Standards“ in 10 % der Einträge vergibt. Dies trage nicht zur Klärung bei und sei für den Benutzer unbefriedigend. In einem Wörterbuch zur standardsprachlichen Variation erhoffe man sich eindeutige Aussagen zum Status einer Variante. Wo das nicht möglich sei, solle man besser auf einen Eintrag verzichten. Meines Erachtens handelt es sich bei diesen 10 % nicht um einen hohen, sondern im Gegenteil um einen geringen Anteil an Varianten, deren standardsprachlicher Status als nicht eindeutig ausgewiesen ist. Und anders, als Dürscheid & Sutter (2014) dies sehen, erachte ich die Markierung „Grenzfall des Standards“ gerade als besonders hilfreich bei der Klärung von (in Kleins Begrifflichkeit) konditionierten Zweifelsfällen, also solchen, deren Standardsprachlichkeit je nach Verwendungszusammenhang unterschiedlich beurteilt wird. Gerade die Grenzfälle des Standards halte ich als Ausgangspunkt für die Sprachreflexion für besonders wichtig. Sowohl Lehrkräfte als auch Lernende müssen damit umgehen lernen – auch mit dem Umstand, dass Varianten ihren Status ändern können. Dürscheid & Sutter (2014) nennen dazu das Beispiel, dass die nicht-reflexive intransitive Verwendung von ändern bspw. in Das Wetter ändert erst seit 2013 im Rechtschreib-Duden figuriert, und selbst die Mitglieder des Schweizerischen Dudenausschusses seien sich über die Standardsprachlichkeit dieser Konstruktion nicht durchwegs einig. Widersprüche in den Kodices liegen in der Natur der Dynamik von Varietätensystemen. Widersprüche in den Kodices sollen keine Entschuldigung sein, Wörterbücher nicht zu verwenden.
Bei der Vermittlung lexikographischer Kompetenzen sind die sprachwissenschaftliche Grundausbildung und die Fachdidaktik gleichermassen gefordert. Es geht nicht nur darum, dass Lehrkräfte Wörterbücher benutzen, sondern auch darum, das informative Potenzial von Wörterbüchern zu vermitteln und zu üben, wie man mit der Makro- und Mikrostruktur von Wörterbüchern umgeht. Gemäss Engelberg & Lemnitzer (2009) werden in Wörterbüchern generell vor allem die Rechtschreibung verifiziert sowie Bedeutungserklärungen nachgeschlagen. Andere Informationsangebote von Wörterbüchern werden ungleich seltener genutzt bzw. es wird nicht der für die spezifische Information vorgesehene lexikographische Slot verwendet. So würden Syntaxinformationen aus den Beispielen extrahiert anstatt aus dem grammatischen Apparat des Wörterbuchartikels (Engelberg & Lemnitzer 2009: 88). Die Umtexte von Wörterbüchern, welche explizite Erklärungen zur Lesart der Artikel liefern würden, werden selten zur Kenntnis genommen. Insgesamt konstatieren Engelberg & Lemnitzer (2009: 88–90) einen generellen Mangel in der Nachschlagkompetenz von Lernenden. Insbesondere in der muttersprachlichen Didaktik des Deutschen werde die Wörterbucharbeit nur unzureichend (sowie einseitig auf die Rechtschreibung fokussiert) berücksichtigt. Das Informationsangebot zur Angemessenheit der Lexik und Semantik und zu weiteren Sprachgebrauchsangaben wird offenbar zu wenig genutzt. Von zentraler Wichtigkeit im Zusammenhang mit regionalen und nationalen Zweifelsfällen scheint mir die Vermittlung des Stellenwerts arealer Markierungen zu sein. Möglicherweise kommt die Variantenskepsis dadurch zustande, dass die Markierungen schweiz. oder österr. nicht als Angabe zur Herkunftsregion einer standardsprachlichen Variante gelesen wird, sondern als Warnhinweis bei der Verwendung von Standardsprache – neben einem weiteren, weit verbreiteten Missverständnis, wonach ein Helvetismus eine Dialektvariante sei, die bei der Redaktion standardsprachlicher Texte eliminiert werden müsse.10 Dabei bräuchte es gerade für die Differenzierung zwischen Dialektalismen und standardsprachlichen Varianten – wahrscheinlich die grösste Herausforderung im Umgang mit variationsbedingten Zweifelsfällen – linguistisches Wissen und lexikographische Informiertheit. Die Variantentoleranz ist keineswegs ein Freipass für Dialektinterferenzen. Zum linguistisch-lexikographischen Wissen gehört, dass es keinen Grund gibt, das Poulet durch das Hähnchen oder das Trottoir durch den Bürgersteig zu ersetzen, aber dass gewunken als Partizip für winken standardsprachlich nicht korrekt ist, ebenso wie die einten und die andern anstatt die einen und die andern, anderst statt anders oder der ach-Laut anstelle des ich-Lauts bei der Aussprache, oder der ich-Laut anstelle des ach-Lauts.