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Mordechai László Kremer


Mordechai Kremer in seinem Chemielabor in der Hebrew University, Jerusalem, Israel 2017

Jerusalem, Israel

Geboren als László Kremer am 26. Mai 1930 in Budapest.

«Die Bewegung begann, uns mit gefälschten Dokumenten auszustatten»
Staatenlos

Meine Grosseltern stammten aus dem galizischen Teil der österreichisch-ungarischen Monarchie. Sie waren um die Wende zum zwanzigsten Jahrhundert nach Ungarn gekommen. Ich wurde in Ungarn geboren, in zweiter Generation Staatenloser. Dieser seltsame Umstand war der eklatanten Verletzung des Vertrags von Trianon geschuldet, der 1920 unterzeichnet worden war.53 Für die Juden wurde der Vertrag nie in Kraft gesetzt, auch nicht nach der Ratifizierung vom 13. November 1920 durch das ungarische Parlament. Um das Groteske der Situation noch zu steigern, wurde meine Mutter, eine ungarische Staatsbürgerin, durch die Heirat mit meinem Vater in Ungarn ebenfalls staatenlos. So wurde ich also als Staatenloser geboren und lebte mit einer Duldung in Ungarn, die von Zeit zu Zeit erneuert werden musste. Eine besondere Abteilung des Innenministeriums [KEOKH]54 war zuständig für alle Staatenlosen, die mehrheitlich Juden waren.

Eine plötzliche Wendung zum Schlimmeren trat für Juden ohne ungarische Staatsbürgerschaft ein, als Deutschland am 22. Juni 1941 die Sowjetunion angriff und Ungarn sich fünf Tage später dem Krieg anschloss. Juden ohne gültigen Staatsbürgerschaftsausweis und alle geflüchteten Juden wurden unter absoluter Geheimhaltung verschleppt. Meine Mutter und ich waren zu diesem Zeitpunkt in einem kleinen Dorf in der Nähe von Budapest in den Ferien. Mein Vater war zu Hause geblieben, um zu arbeiten; die Wochenenden verbrachte er bei uns. Irgendwann fiel ihm auf, dass in unserem Budapester Viertel Juden, die keine ungarische Staatsbürgerschaft besassen, über Nacht verschwanden. Er ahnte, dass etwas Sonderbares vor sich ging. Er verliess die Wohnung und kam zu uns ins Dorf. Tatsächlich vernahmen wir später, dass zweimal Kriminalbeamte nach uns gesucht hatten, aber nur unsere leere Wohnung vorfanden. Ich war damals elf Jahre alt und war mir nicht bewusst, was vor sich ging. Als wir [nach dem Krieg] in unsere Budapester Wohnung zurückkehren konnten, trat ich in die zweite Klasse des jüdischen Gymnasiums ein. Ich erinnere mich, mich gewundert zu haben, dass einige Lehrer froh zu sein schienen, als ich in der Schule auftauchte. Nach dem Krieg habe ich erfahren, dass mein Onkel, meine Tante und ihre kleine Tochter unter den Deportierten waren. Sie sind im August 1941 in Kamenez-Podolsk zusammen mit über 23 000 anderen Juden massakriert worden.

Wir gehörten der unteren Mittelschicht an. Was die religiöse Praxis betraf, waren wir Neologen. Wir hielten die Feiertage ein, aber reisten am Schabbat. Mein Vater Henrik wurde 1900 geboren und musste schon in sehr frühem Alter arbeiten. Als ich ein Kind war, handelte er mit Hosenträgern, die er selbst herstellte. Meine Mutter, Matild Tallenberg, hatte sechs Jahre lang das Gymnasium besucht. Sie konnte die Schule nicht beenden, weil ihr Bruder, mein Onkel, in Prag Medizin studierte. Er musste Ungarn verlassen, weil es dort den Numerus clausus gab, der die Anzahl jüdischer Studenten limitierte – besonders im medizinischen Bereich –, und so ging er in die Tschechoslowakei. Meine Grosseltern mussten ihn unterhalten und hatten nicht genug Mittel, um beide, Sohn und Tochter, zu unterhalten.

Ich besuchte eine jüdische Schule. Ausserhalb der Schule bekam ich schon recht früh die ersten Anzeichen von Antisemitismus zu spüren. Einmal wurde ich auf meinem Heimweg von anderen Jungen verprügelt. Ich beklagte mich bei meiner Mutter, aber sie liess sich nicht beeindrucken: «Die schlagen dich? Dann schlag zurück!» Auf diese Idee wäre ich nicht gekommen, aber wegen meiner Mutter beteiligte ich mich in diesen Jahren an Strassenkämpfen. Mit acht schloss ich mich der zionistischen Jugendbewegung Hanoar Hazioni an. Wir trafen uns regelmässig, und am Wochenende gingen wir oft wandern. Ich hatte zu jener Zeit nicht ernsthaft in Erwägung gezogen, nach Palästina zu gehen. Unsere Bewegung bekam ein paar Zertifikate, und als ich zehn oder elf war, fragten sie mich, ob ich bereit wäre, die Heimat zu verlassen und nach Palästina auszuwandern. Das war ich nicht. Die zionistische Bewegung war unter den ungarischen Juden, die sich als ungarische Patrioten betrachteten, nicht sehr populär. Zionismus und Patriotismus passten nicht zusammen.

«Eine Zeit ungehinderten Terrors»

Mit dem 19. März 1944 begann die tragische Endphase in der Geschichte des ungarischen Judentums. Mitglieder der verschiedenen Jugendbewegungen starteten intensive Vorbereitungen für Rettungsoperationen. Sie hatten bei Hilfsaktionen für Flüchtlinge aus Polen und der Slowakei bereits Erfahrungen mit illegalen Operationen gesammelt. Nun begannen ungarische Mitglieder der Bewegungen ebenfalls, falsche Ausweise zu benutzen. Verstecke, zum Beispiel Bunker, wurden vorbereitet. Transporte nach Rumänien wurden organisiert, obwohl dies wegen der häufigen Zugkontrollen durch die Polizei sehr gefährlich war. Die Aktivitäten und Ausflüge für meine Altersgruppen in der Bewegung hörten auf, aber wie sich später herausstellte, hatten sie mich nicht vergessen.

Bald mussten wir den gelben Stern tragen und wurden gezwungen, in die sogenannten Judenhäuser zu ziehen. Wir wohnten zu sechst in einer Einzimmerwohnung. Es war aushaltbar, ich kann mich nicht beklagen. Ich erinnere mich, dass wir in dem Haus spiritistische Sitzungen abhielten. Wir nahmen ein Stück Papier und schrieben Buchstaben des Alphabets in einen Kreis; in die Mitte des Kreises stellten wir ein Glas, und jeder legte einen Finger darauf. Dann riefen wir einen Geist, gewöhnlich den einer bedeutenden Person. Der Geist signalisierte seine Anwesenheit durch eine leichte Bewegung des Glases. Dann stellten wir unsere Frage, gewöhnlich wollten wir wissen, was mit uns geschehen würde. Das Glas begann von einem Buchstaben zum nächsten zu wandern. Aus diesen Buchstaben setzten wir die Antwort zusammen. Wir beschränkten uns dabei nicht nur auf ungarische Geister; einer der beliebtesten war der von Sigmund Freud. Er schien mühelos Ungarisch zu verstehen – wahrscheinlich hatte er einen Dolmetscher dabei. Wir bekamen zwar Antworten, aber keine wirklichen Auskünfte. Offenbar waren die Geister über die Situation nicht besser informiert als wir selbst.

Im Sommer 1944 wurde mein Vater zum Zwangsarbeitsdienst eingezogen. Seine Einheit war zu Beginn in Ostungarn stationiert, aber als die Front westwärts rückte, zog die Einheit ebenfalls Richtung Westen. Schliesslich landete mein Vater in Gunskirchen, einem Aussenlager des grossen KZ Mauthausen. Dort wurde er 1945 von der amerikanischen Armee befreit.

Als die Deutschen im Oktober Horthy festnahmen und die Macht Ferenc Szálasi übergaben, begann eine Zeit des ungehinderten Terrors. Über die Juden wurde eine strikte Ausgangssperre verhängt, und sie durften die Gelbsternhäuser nur noch zwischen zwei und fünf Uhr nachmittags verlassen. Am fünften Tag dieser Ausgangssperre tauchte ein junger Bursche in der Uniform der vormilitärischen Organisation Ungarns [Levente] auf und fragte nach mir. Er sagte, er würde mich in ein Kinderheim bringen, das unter dem Schutz des Internationalen Komitees des Roten Kreuzes stand.

In jenen Tagen setzten internationale Organisationen und Botschaften neutraler Staaten verschiedene Rettungsaktionen in Gang. Das Internationale Komitee des Roten Kreuzes richtete Kinderheime ein für Kinder, deren Eltern deportiert worden waren. Der Zionistische Untergrund konnte es arrangieren, dass Kinder der Bewegungen ebenfalls aufgenommen wurden. Also haben sie auch mich geholt.

Als wir aus dem Haus waren, sagte mein Begleiter zu mir, ich soll den gelben Stern abnehmen. Mit dieser schlichten Geste war die Zeit, in der ich den gelben Stern trug, für mich zu Ende. Während wir zu Fuss die halbe Stadt durchquerten, trafen wir keine Menschenseele. Ganz Budapest stand unter dem Terror der Pfeilkreuzler.

Falsche Dokumente vorbereiten

Das Kinderheim befand sich in einer eleganten Villa in der Orsó-Gasse 27 auf den schönen Hügeln von Buda. Ich hatte noch nie an einem solchen Ort gewohnt. Viele der Kinder gehörten zionistischen Gruppen an. Die Leitung bestand jedoch aus Leuten, die ihre Arbeit durch ihre Verbindungen zum Roten Kreuz erhalten hatten. Sie waren keine Zionisten. Im Haus versteckten sich auch Leute, die vom Zwangsarbeitsdienst desertiert waren. Die meiste Zeit taten wir nichts. Wir sangen viel und liessen die Zeit verstreichen. Nach einer Weile konnte ich erreichen, dass mein Cousin Zvi Pál Engel zu mir ins Kinderheim kommen durfte. Er, der spätere stellvertretende Direktor des israelischen Ministeriums für Handel und Industrie – Abteilung Lederindustrie –, war damals noch keine sechs Jahre alt.

Eines Tages, als wir im Gemeinschaftsraum sassen, stand plötzlich der Verlobte eines der erwachsenen Mädchen in der Tür. Er war aus dem Zwangsarbeitsdienst geflüchtet und ins Kinderheim gekommen. Der Raum verstummte. Das Mädchen stand auf und ging wie unter Hypnose auf den Jungen zu; ich weiss noch, dass er Hershie hiess. Dann standen sie eng umschlungen da, unfähig, ein Wort herauszubringen. Es war ein seltener Augenblick des Glücks inmitten von Gewalt, Zerstörung und Tod. Ich weiss nicht, ob die beiden Liebenden den Krieg überlebt haben – nachdem ich das Heim verlassen hatte, gab es einen Angriff auf das Haus.

Da die Aufsicht nicht sehr streng war, taten wir, was wir wollten. Die Bewegung begann, uns mit gefälschten Dokumenten auszustatten, und so konnten wir das Kinderheim zeitweilig verlassen. Wir gingen in die Büros der Bewegung, die in der Stadt unter dem Deckmantel des Roten Kreuzes operierten. Tatsächlich verteilten diese Büros gefälschte Dokumente. Eines der Büros befand sich in der József-Ringstrasse, mitten in der Stadt. Von dort aus wurden Hunderte, wenn nicht Tausende von gefälschten Schweizer Schutzbriefen ausgegeben. Das Anfertigen der Briefe machte uns Spass. Wir setzten uns an eine Schreibmaschine und trugen den Namen der Person in das leere Formular ein, welches das offizielle Siegel der Schweizer Regierung trug. Als Nächstes fügte jemand die Registriernummer hinzu. Schliesslich wurde das Formular von David Grünwald unterzeichnet, einem der Helden des Untergrunds von 1944. Es war eine schöne Unterschrift, viel besser als das Original.

Einmal wurde ich gebeten, mehrere hundert leere Formulare ins Büro zu bringen. Ich dachte mir nicht viel dabei. Ich habe erst später erfahren, dass Adonijahu Billitzer, ein anderer tapferer Leiter des Untergrunds, von der Polizei geschnappt wurde, als er dasselbe tat; er wurde der Gestapo übergeben und schrecklich gefoltert. Ein vierzehnjähriger Junge war viel weniger verdächtig als ein Erwachsener.

Ich brachte auch meiner Mutter und meiner Tante einen solchen selbstgemachten Schutzbrief. Als der Hausmeister im Gelbsternhaus sah, dass ich den gelben Stern nicht trug, erklärte ich ihm, dass ich ihn nicht zu tragen brauche, weil ich für das Rote Kreuz arbeitete. Er glaubte mir aufs Wort.

Die Nachricht, dass ich an Schweizer Schutzbriefe kam, sprach sich rasch im Haus herum. Alle wollten einen haben, und so brachte ich bei meinem nächsten Besuch allen einen Schutzbrief mit. Es war kein Problem und kostete kein Geld. Tatsächlich haben diese Schutzbriefe meine Mutter und meine Tante vor der Deportation gerettet. Im November, als die Behörden begannen, Leute zwischen 16 und 60 nach Österreich zu verschleppen, tauchten die Pfeilkreuzler auch im Gelbsternhaus in der Wesselényi-Gasse 75 auf. Sie befahlen allen Bewohnern, sich auf der Strasse vor dem Haus in einer Reihe aufzustellen. Meine Tante ging zu einem Pfeilkreuzler und sagte zu ihm, sie und meine Mutter ständen unter Schweizer Schutz – was natürlich nicht stimmte. Der Mann wusste nicht, was er in dieser unerwarteten Situation tun sollte, und sagte nur: «Dann verschwinde von hier, bevor ich meine Meinung ändere.» Sie [die Pfeilkreuzler] liessen sie gehen. Danach kamen beide ins Kinderheim in der Zoltán-Gasse 4, wo sie sich dem Personal anschlossen.

Meine Grossmutter, die allein im Haus zurückgeblieben war, musste ins Ghetto umsiedeln. Kurz danach verlangten die Machthaber, dass alle in den Kinderheimen versteckten Kinder ebenfalls ins Ghetto zu gehen hatten, trotz des Schutzes durch das Internationale Komitee des Roten Kreuzes. Das alles geschah im November. Da beschloss der Untergrund, uns an den letzten sicheren Platz in Budapest zu bringen, ins Glashaus.


Schweizer Kollektivpass 1 (S. 109), 1944

Der letzte sichere Platz in Budapest

Nicht alle schafften es ins Glashaus. Es brauchte gute Verbindungen – einer Zionistischen Jugendgruppe anzugehören, galt als gute Verbindung. Die grausame Regel bedeutete, dass, wenn nur eine beschränkte Anzahl Leute gerettet werden konnten, es welche gab, die nicht gerettet werden konnten. Moralische Fragen bestimmten nur selten die Kriterien. Ich erinnere mich an die Angst und Bitterkeit jener, die im Kinderheim zurückgelassen wurden.

Ein Begleiter brachte uns von der Orsó-Gasse ins Glashaus. Zu diesem Zeitpunkt war das Haus bereits mit Tausenden von Leuten gefüllt. Ich erinnere mich an eine Szene vor der Pforte des Gebäudes. Es war Abend, und die Wächter wollten uns nicht reinlassen. Zwischen ihnen und unserem Begleiter entstand ein lauter, heftiger Wortwechsel, bis ihm endlich erlaubt wurde, einzutreten und mit den betreffenden Leuten zu sprechen. Schliesslich öffnete sich für uns das Tor zum Paradies; der Anblick war ein schrecklicher Schock. So etwas hatten wir noch nie gesehen. Überall drängten sich die Menschenmengen – vor den Toiletten gab es lange Schlangen. Wir wurden unter das Dach gebracht, dieser Teil des Gebäudes war der Hanoar Hazioni überlassen worden. In den Gesichtern der Menschen stand Lethargie. Nirgendwo gab es Betten. Als ich fragte, wo sie sich nachts hinlegten, antworteten sie mir, dass sie auf dem Boden oder auf einem Holzbrett schliefen. Es war für mich wie ein Konzentrationslager ohne Aufseher; ich muss allerdings zugeben, dass ich nie in einem Konzentrationslager war, weder davor noch danach.

Wir, eine Gruppe von vier Jugendlichen, entschieden, das sei nichts für uns. Wir gingen hinunter zum Eingang und sagten dem Wächter, für uns sei die Sache hier erledigt. Das Haus zu verlassen war eine Sache von Sekunden; einzig das Hineingelangen war schwierig gewesen. Wir wussten, dass es in der Wekerle-Sándor-Gasse noch ein zweites Gebäude unter Schweizer Schutz gab. Wir gingen dorthin, wurden jedoch sofort aufgefordert, von dort zu verschwinden. Rückblickend verstehe ich den Grund dafür: Es war ein Ort für wichtigere Leute als für Kinder. Es hielten sich dort auch nichtjüdische Politiker vor der Pfeilkreuzlermiliz versteckt. Jeder in unserer Gruppe wusste, wohin er gehen wollte. Mein Cousin und ich gingen ins Kinderheim in der Zoltán-Gasse 4, in der Nähe des Flusses, wo unsere Mütter waren. Wenigstens bekamen wir normale Betten und halbwegs zivilisierte Bedingungen.

Wir beschlossen aber, nicht im Kinderheim zu bleiben, sondern wollten versuchen, eine Wohnung für uns zu finden. Ich ging wieder ins Büro der Bewegung und bat um andere Dokumente. Mein neuer nichtjüdischer Familienname war «Köves», und ich wurde zum unehelichen Sohn meiner Mutter, die Maria hiess. Für meine Tante und meinen Cousin gab es ähnliche Arrangements. Es ist meinem sechsjährigen Cousin hoch anzurechnen, dass er, bezogen auf unsere neuen Namen kein einziges Mal einen Fehler machte, es wäre fatal gewesen.

Der Untergrund bat uns, Adressen von leer gewordenen Wohnungen von Juden ausfindig zu machen, die gemietet werden konnten. Das war keine schwierige Aufgabe. Meine Tante und ich gaben uns als Flüchtlinge aus russisch besetzten Gebieten aus und zogen von Strasse zu Strasse. Wir wurden überall sehr freundlich empfangen. Die Leute waren erfreut, anstelle von Juden gute Christen als Nachbarn zu bekommen. Wir sahen uns die Wohnungen an, stellten ein paar Fragen und versprachen wiederzukommen. Am Ende des Tages gaben wir die Adressen an den Untergrund weiter. Was danach aus unseren Listen geworden ist, weiss ich nicht.

Zwei Frauen vom Kinderheim gelang es, eine Wohnung zu bekommen, und wir konnten zusammen mit ihnen einziehen. Sie befand sich in der Honvéd-Gasse, in einer eleganten Wohngegend – unser Wohnstandard stieg also während des Holocausts beträchtlich an. Ein anderes Problem waren die Lebensmittelkarten. In jenen Tagen konnte man Nahrung nur auf Lebensmittelkarten bekommen. Das übernahm meine Tante. Sie ging zum städtischen Bezirksamt, wo die Karten ausgestellt wurden. Natürlich fehlten ihr dazu die nötigen Dokumente. Sie setzte den leistungsfähigsten Wasserkraftgenerator in Betrieb, der je erfunden wurde – weibliche Tränen. Es wirkte: Der Beamte rückte Lebensmittelkarten für uns alle heraus. An Weihnachten verteilte die ungarische Regierung grosszügige Portionen der besten Lebensmittel, die sie in den Lagern hatten. Ich erinnere mich noch an die enorme Genugtuung, die einzige jüdische Familie in Budapest zu sein, die 1944 vom ungarischen Naziregime ein Weihnachtsgeschenk bekommen hatte.

«Unsere Mission war ein Fiasko»

Bald setzten die Bombardierungen ein. Wir mussten zusammen mit den anderen Bewohnern des Hauses in den Luftschutzkeller. Dort blieben wir etwas mehr als drei Wochen. Während dieser Zeit hatte ich ausgiebig Gelegenheit, die obere Mittelklasse der ungarischen Gesellschaft aus nächster Nähe zu studieren. Da ich mich 24 Stunden am Tag auf engstem Raum mit ihnen aufhielt, bekam ich alles mit, was gesagt wurde. Die vornehmsten Bewohner des Schutzraums waren ein Graf und eine Gräfin, die mitsamt ihrem Personal gekommen waren. Der Graf meinte, es wäre besser gewesen, mit der «Endlösung der Judenfrage» bis nach dem Krieg zu warten. Ich erinnere mich auch an eine Frau, die lauthals erklärte: «Die Juden machen Schreckliches durch, aber ich kann kein Mitleid für sie aufbringen.» Es muss allerdings auch erwähnt werden, dass eine Familie während der Belagerung eine jüdische Familie in ihrer Wohnung beherbergte.

Eines Tages tauchte der Zivilschutzleiter unseres Bezirks im Schutzraum auf. Er hielt eine Rede, die im Wesentlichen darauf hinauslief, dass jeder anwesende Jude freiwillig ins Ghetto zu gehen habe. Wir wussten nicht, dass es in einem Nachbargebäude eine Razzia gegeben hatte. Alle Juden, die dabei festgenommen wurden, waren am Ufer der Donau erschossen worden. Wir ignorierten die Warnung. Nach einiger Zeit jedoch überlegte es sich meine Mutter anders, und sie versuchte, wenigstens mich zu retten. Sie beschloss, mich zu einer Verwandten zu bringen, die mit ihrem christlichen Ehemann in einem anderen Stadtteil wohnte. In einen anderen Stadtteil von Budapest zu gehen, war zu jener Zeit kein einfaches Unterfangen, weil ganz in der Nähe der Kampf tobte. Wir mussten uns von einem Haus zum nächsten vorkämpfen und uns in den Eingängen unterstellen. Plätze zu überqueren, war geradezu halsbrecherisch. Nach einem wahnsinnigen Wettlauf durch ein offenes Gelände kamen wir ausser Atem beim Eingang des nächsten Gebäudes an und blieben dort, bis wir wieder zu Atem gekommen waren. Inmitten dieses ganzen Tumults bemerkte ich ein Zeitungsbündel, das auf einer Bank lag, darum herum verstreut mehrere Münzen. Offensichtlich hielt es der Verkäufer dieser Zeitungen für zu riskant, bei seiner Ware zu bleiben. Er verliess sich auf die Ehrlichkeit der Leute, das Geld für die Zeitung zu hinterlassen. Mein Erstaunen war grenzenlos. Einige Mitglieder dieser ungarischen Generation, die mit unverhohlener Freude und Genugtuung auf das Elend ihrer jüdischen Mitbürger blickten – ihre Wohnungen, Geschäfte und alles, was sie besassen, an sich rissen –, stellten hohe moralische Werte unter Beweis, wenn es um den Preis einer Zeitung ging. Die Zeitungen [die ich dort sah] riefen zu einem unerbittlichen Kampf bis zum Endsieg auf – wenige Tage vor dem Zusammenbruch der Verteidigung von Pest, einem Teil der Hauptstadt.

Unsere Mission endete in einem Fiasko. Unsere Verwandten waren nicht bereit, mich aufzunehmen, und wir machten uns wieder auf den langen Rückweg. Plötzlich hörten wir jemanden rufen: «Ich kenne euch!» Es war der Hausmeister von dem Gebäude neben dem jüdischen Haus, in dem wir zuvor gelebt hatten. Es war keine Pfeilkreuzlerpatrouille oder Polizei in Sicht, und die wenigen Leute, die noch auf der Strasse waren, hatten nur einen Gedanken im Kopf: heil nach Hause zu kommen. So hatte diese Begebenheit keine weiteren Folgen für uns. Als wir in der Nähe unseres Hauses waren, explodierte ungefähr 50 Meter vor mir eine Granate. Ich bekam keinen Splitter ab, aber verlor für mehrere Stunden mein Gehör.

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9783038552154
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