Читать книгу: «Tod auf dem Klangweg», страница 2
Am Freitagmorgen war Liza im Auto unterwegs nach Wattwil. Ihre Ferienstimmung war merklich gedämpft. Sie schwankte zwischen sofort abreisen und die Fährte der ermordeten Frau aufnehmen wollen. Die Tote liess ihr keine Ruhe, also war es wohl besser, wenn sie ihrer Neugierde nachgab und versuchte, auf der Polizeistation so viel wie möglich in Erfahrung zu bringen. Da sie dem sympathischen Polizisten bisher verschwiegen hatte, dass sie in Zürich als Detektivin arbeitete, würde sie das heute wohl nachholen müssen.
Ihr Detektivbüro war zu ihrem Erstaunen die ersten paar Jahre recht gut gelaufen, doch in letzter Zeit hatte sich die Auftragslage verschlechtert, und Liza war froh, dass sie dank einer kleinen Erbschaft etwas Geld hatte, auf das sie wenn nötig zurückgreifen konnte. Vielleicht war es damals keine so gute Idee gewesen, sich auf weibliche Klientel zu spezialisieren. Doch nach ihrer Scheidung war sie nicht nur auf ihren Exmann Oskar, sondern auf Männer im Allgemeinen nicht gut zu sprechen gewesen. Erst seit ungefähr einem Jahr hatte sich das beinahe unmerklich geändert, und wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie ab und zu einen Mann vermisste. Sie stellte ihr Auto auf den Parkplatz vor der Gemeindeverwaltung Wattwil und betrat die Polizeistation.
«Da sind Sie ja, Frau Huber, bitte kommen Sie herein», wurde sie von Walter Widmer begrüsst. Sein freundlicher Blick strahlte eine Ruhe aus, die sich auf Liza übertrug. Er schien alle Zeit der Welt zu haben. «Hier ist das Protokoll. Was noch fehlt, ist Ihre Wohnadresse in Zürich und die Adresse der Schule, wo Sie zurzeit tätig sind.» Nachdem er ihr einen Stuhl angeboten hatte, setzte er sich wieder an den Computer. «Also, Ihre Adresse bitte…»
«Heimatstrasse 27, 8008 Zürich», antwortete Liza.
«Und an welcher Schule unterrichten Sie?»
«Ich arbeite schon lange nicht mehr als Primarlehrerin», gestand sie etwas verlegen. «Momentan bin ich selbständig, ich habe eine Detektivagentur im gleichen Haus, in dem ich wohne …» Sie zögerte: «Und früher habe ich zehn Jahre bei der Stadtpolizei Zürich gearbeitet. Darf ich Sie fragen, wie die ermordete Frau heisst? Ich muss zugeben, die Tote lässt mir keine Ruhe mehr, nachdem ich quasi über sie gestolpert bin», brach es aus ihr heraus. Sofort ärgerte sie sich über ihr Vorpreschen.
Widmer musterte sie verblüfft. «Aha, eine ehemalige Kollegin! Und erst noch eine äusserst vielseitige! Sie wollen demnach Ihre restlichen Ferientage nutzen, um möglichst viel über diesen Mordfall in Erfahrung zu bringen! Hmm, ich weiss nicht, ob das eine gute Idee ist. Und Sie wissen, dass ich Ihnen keinerlei Auskunft geben darf. Tut mir leid. Den Namen der Toten werden Sie schnell genug selber herausfinden.» Er stand auf, um sie zu verabschieden und registrierte ein wenig belustigt die verschiedenen Gefühle, die sich in Liza Hubers Gesicht spiegelten. Sie kämpfte sichtlich gegen ihre Neugier, für die sie sich gleichzeitig zu schämen schien.
Auf dem Rückweg beschloss Liza, auf eigene Faust einige Nachforschungen anzustellen; sie konnte einfach nicht anders. Dieser Widmer sollte doch wissen, dass es nicht Sensationslust war, die sie antrieb, sondern berufliches Interesse. Es war wie eine Art Fieber, sie musste unbedingt herausfinden, was geschehen war. Ohne diese berufliche Neugier könnte sie ihren Job gar nicht machen. Als Erstes musste sie wissen, wie die Frau hiess und wo sie wohnte. Sie fuhr nach Nesslau zurück und parkierte ihr Auto vor dem Coop. Beim Einkaufen erfuhr man immer wieder Neuigkeiten. Schon bei den Gemüseregalen traf sie auf eine junge Frau, der sie auf ihren Spaziergängen bereits mehrmals begegnet war. Zum Glück ist es auf dem Land üblich, sich zu grüssen, dachte Liza und nickte ihr freundlich zu.
Diese unterbrach ihr Gespräch mit einer älteren Dame und rief aufgeregt: «Haben Sie es schon gehört? Auf dem Klangweg ist eine Frau ermordet worden! Marie Riefener.»
«Ja, ich weiss, ich habe sie gestern Morgen gefunden.» Im Nu war Liza von mehreren Leuten umringt, denen sie brühwarm erzählen musste, was sie erlebt hatte. «Weiss jemand von Ihnen, wo diese Marie Riefener gewohnt hat?»
«Bei uns oben, in Ennetbühl. Sie hat da ein Ferienhaus. Sie und ihre Freundin sind beinahe jeden Donnerstag hierhergekommen und meistens bis am Sonntagabend geblieben. Ich habe sie gesehen, wenn sie an unserem Haus vorbeigefahren sind.» Die Antwort kam von einer rundlichen kleinen Frau mit einem fröhlichen Gesicht. «Das Haus steht neben dem Bauernhof von Ueli Strässle, unserem Biobauern.»
Obwohl sie gutmütig lachte, glaubte Liza ihr anzusehen, dass sie nicht allzu viel von ihm hielt. Sie liess sich den Weg zu Strässles Bauernhof beschreiben und schaute dann demonstrativ auf ihre Uhr. «Oh je, ich muss weiter!» Mit einem freundlichen Nicken verabschiedete sie sich und erledigte rasch ihre Einkäufe.
Da habe ich aber wirklich Glück gehabt, dachte Liza, als sie nach Ennetbühl fuhr. So glatt läuft es bei meinen Ermittlungen nicht oft. Da, das musste Riefeners Ferienhaus sein, und etwa 150 Meter weiter hinten war der Bauernhof. Gleich daneben stand ein älteres Wohnhaus mit wahrscheinlich drei Wohnungen. Liza steuerte entschlossen auf den Bauernhof zu, parkierte ihr Auto auf dem Kiesplatz und stieg aus. Noch bevor sie sich eine gute Begründung für ihren Besuch ausdenken konnte, trat ein Mann aus der Haustür.
Liza staunte nicht schlecht: Der Mann, der auf sie zukam und sie freundlich begrüsste, war äusserst attraktiv und sympathisch. Das wird wohl kaum der Bauer sein, ging es ihr durch den Kopf, und sie schalt sich sogleich für ihre Vorurteile. «Guten Morgen, ich bin Liza Huber. Ich … Sie wissen sicher, dass Ihre Nachbarin Marie Riefener gestorben ist. Ich habe sie gefunden, gestern, auf dem Klangweg.»
«Ja … Ueli Strässle», er schüttelte ihre Hand. «Ich bin informiert und auch bereits von der Polizei befragt worden. Kommen Sie herein, darf ich Ihnen einen Kaffee anbieten?» Ohne ihre Antwort abzuwarten ging er mit langen Schritten ins Haus zurück. «Ich habe oft mit Marie Kaffee getrunken, erst am letzten Dienstagnachmittag noch. Sie war grad von Zürich gekommen, ausnahmsweise ohne ihre Freundin Karin. Dass jemand sie umgebracht hat, ist unfassbar für mich. Ich mochte sie sehr und freute mich immer, wenn die beiden da waren. Marie war an Kunst und Musik interessiert, weltoffen und hatte meist gute Laune, eine wirkliche Bereicherung in meinem Alltag.»
«Führen Sie den Bauernhof hier?» Liza war immer noch erstaunt.
«Ja, seit vier Jahren. Ich halte Milchschafe und produziere biologische Schafmilchprodukte. Das ist aber nicht mein Erstberuf; früher arbeitete ich als Grafiker in Zürich, in der Werbung.» Strässle lächelte und fuhr fort: «Es scheint mir ewig her, wie in einem früheren Leben.» Er schwieg gedankenverloren. «Marie wird mir fehlen. Mit ihr und Karin konnte ich über alles sprechen.» Fassungslosigkeit und Erschütterung machten sich auf seinen Zügen breit und mit einem Mal wirkte er um Jahre gealtert.
«Es tut mir leid. Aber ich kann es einfach nicht fassen.» Ratlos schaute er Liza an und schien erst jetzt zu merken, dass er mit einer wildfremden Person sprach.
«Ja, ein plötzlicher Tod, und noch dazu ein Mord, ist immer ein Schock. Auch mir ging es gestern so, obwohl ich Marie Riefener gar nicht gekannt hatte.» Liza zögerte. Sie wusste nicht recht, was sie den Mann noch fragen sollte und ob sie ihn noch weiterbefragen durfte; der Tod seiner Nachbarin schien ihm sehr zu Herzen zu gehen.
«War sie … war Marie schlimm verletzt?»
«Nein, sie hatte einen Schlag auf den Hinterkopf bekommen, das sah man, es war fast kein Blut zu sehen. Ich denke, sie war sofort tot. Sie lag hinter einigen Büschen am Abhang bei der Klangwegstation Nummer 6, der Glockenbühne.»
«Das war Maries Lieblingsposten. Sie läutete immer die Glocken, wenn sie dort vorbeikam, sie behauptete, sie könne eine Berggeistmelodie spielen.» Strässle rang um Fassung.
Lizas Gewissen regte sich. Warum konnte sie den armen Mann nicht in Ruhe lassen! «Herr Strässle, wissen Sie, ob Frau Riefener Feinde hatte im Toggenburg? Könnte es sein, dass sie Neider hatte? Immerhin war sie so wohlhabend, dass sie sich ein Ferienhaus leisten konnte.»
Die Ablenkung schien ihm gut zu tun. «Wenn Sie wissen wollen, ob mir jemand in den Sinn kommt, der Marie umgebracht haben könnte… Nein, ich kenne niemanden, dem ich eine solche Tat zutrauen würde. Sie war meistens die zweite Wochenhälfte hier. Die übrige Zeit lebte sie in Zürich. Vielleicht stammt der Mörder aus ihrem Bekanntenkreis in Zürich.»
«Was für ein Verhältnis hatte sie zu den anderen Nachbarn hier in Ennetbühl?»
«Ja», Strässle überlegte einen Moment: «Ich möchte niemanden anschwärzen, aber… Beate Richle, die in dem Haus da wohnt» – er zeigte mit der Hand aus dem Fenster auf das etwas heruntergekommene ältere Mietshaus –, «die hat sich mit Marie gar nicht gut verstanden. Die beiden Frauen konnten sich gegenseitig nicht ausstehen. Aber Beate ist harmlos, ein bisschen durchgeknallt. Sie hätte auch nicht die Kraft … Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wurde Marie hinter den Büschen versteckt. Also musste sie jemand dort hingeschleppt haben. Sie ist eine grosse, schwere Frau, hat sehr gern gegessen und getrunken. Sie hat das Leben genossen. Wenigstens das.» Wehmütig blickte er aus dem Fenster. «Also, Beate hätte schlicht nicht die Kraft, Marie irgendwohin zu bewegen, da bin ich mir sicher.»
Liza war da nicht so sicher. Wenn es sein musste, konnte beinahe jeder Mensch ungeahnte Kräfte entwickeln. Sie wollte als Nächstes mit Beate Richle sprechen.
«Und dann…, gestern Abend war ich ausnahmsweise im ‹Grütli›. Die Bauern am Stammtisch haben nicht gerade freundlich von Marie gesprochen. Es gibt durchaus Leute hier oben, die sie nicht mochten.»
«Können Sie mir die Namen dieser Bauern geben? Ich möchte der Sache ein bisschen nachgehen.»
«Ich kenne nur den Albin, der hat mir den Hof hier verkauft. Der hat nicht viel gesagt, ist einer der schweigsamen Sorte. Er heisst Albin Hauser und wohnt in Nesslau, wo genau, weiss ich nicht. Die beiden anderen Männer kenne ich nicht. Da müssten Sie Elis Osmani und Roman Gasser fragen. Ich kann Ihnen ihre Adressen geben.»
«Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für mich genommen haben und auch für den Kaffee.» Liza stand auf.
«Nichts zu danken. Ich kann mich ohnehin nicht auf meine Arbeit konzentrieren. Meine Energie reicht gerade knapp, die Tiere zu füttern, alles andere muss warten.» Traurig reichte er ihr die Hand: «Sie dürfen gerne wiederkommen, wenn Sie noch mehr wissen wollen.» Ueli Strässle schien von seinem Kummer dermassen absorbiert zu sein, dass er sich gar nicht zu wundern schien, weshalb ihm Liza all diese Fragen stellte. Sie hoffte, dass es den anderen, die sie noch zu fragen beabsichtigte, ebenso erginge.
In Gedanken versunken überquerte Liza den Kiesplatz und studierte die verwitterten Namensschilder am Nachbarhaus. Es hatte drei, zwei waren angeschrieben. Sie läutete beim untersten, einer Frieda Kunz. Nach langem Warten hörte sie langsame, schlurfende Schritte. Eine alte Frau öffnete die Türe.
«Guten Tag, Frau Kunz? Ich bin Liza Huber. Darf ich Ihnen ein paar Fragen zu Ihrer Nachbarin Marie Riefener stellen? Sie wissen sicher, dass sie gestorben ist.»
«Ich hab’s gehört, ja. Ihre Kollegen waren doch bereits da. Was wollen Sie denn noch wissen?» Die alte Frau wirkte müde und etwas desorientiert.
Liza beschloss, sie im Glauben zu lassen, dass sie von der Polizei sei. Das konnte nicht schaden. «Wie gut haben Sie Frau Riefener gekannt?»
«Wir haben uns gegrüsst, mehr nicht. Ich habe sie schon länger nicht mehr gesehen. Ich komm ja kaum noch aus dem Haus.»
«Wissen Sie, ob sie mit jemandem hier befreundet war?» Liza liess nicht locker.
«Nein, tut mir leid. Ich weiss nichts. Auf Wiedersehen.» Frau Kunz schloss die Türe.
Liza entzifferte das mittlere Türschild: Margrith Schaller. Wo wohnte denn diese Beate, von der Ueli Strässle gesprochen hatte? War die nicht angeschrieben? Sie läutete bei Frau Schaller.
«Die wohnt nicht mehr hier, die ist im Pflegeheim.»
Liza fuhr herum.
Eine kleine magere Frau, einige Jahre jünger als sie, mit stechend blickenden schwarzen Augen, kam auf sie zu.
«Habe ich Sie erschreckt?» Etwas, was man als Genugtuung interpretieren könnte, breitete sich auf ihren spitzen Zügen aus, ihr Blick war unverändert starr.
Die scheint auf Drogen zu sein, war Lizas erster Gedanke, und der zweite: Das muss Beate Richle sein. Sie trug grellgelbe Hosen und eine blaue Bluse. Sie wirkte leicht schmuddelig und verwahrlost. «Guten Tag, Frau Richle. Ich bin Liza Huber. Darf ich Ihnen ein paar Fragen zu Ihrer Nachbarin Marie Riefener stellen? Sie wissen sicher, dass sie gestorben ist.» Liza machte entschlossen einen Schritt auf die Frau zu.
«Ja, ich weiss, dass Marie tot ist! Das ist mir egal. Ich konnte diese Frau nicht ausstehen. Eine Lesbe und gleichzeitig mannsgeil, das will ich mir lieber nicht vorstellen. Sie trug ihre Nase sehr hoch. Ihre Freundin, die Karin, ist ein bisschen netter und freundlicher! Aber die Riefener, nein, um die tut’s mir nicht leid.» Nachdem Beate Richle diese Sätze scheinbar emotionslos ausgespuckt hatte, schwieg sie und musterte gespannt Lizas Gesicht. Liza war für den Moment um eine Antwort verlegen. Die Frau ist tatsächlich nicht ganz dicht, dachte sie. Trotzdem fragte sie: «Warum konnten Sie Frau Riefener nicht ausstehen? Können Sie sich vorstellen, warum sie umgebracht wurde? Wissen Sie noch von anderen Leuten, die Frau Riefener nicht mochten?»
«Ja, wie schon gesagt, sie war hochnäsig, benahm sich hier im Dorf wie eine Königin ihren Untertanen gegenüber. Und dann hat sie immer mit dem gutaussehenden Bauern nebenan, dem Ueli, geschäkert. Dabei hatte sie doch eine Freundin.»
«Aber deswegen bringt man doch niemanden um», Liza hoffte immer noch auf handfestere Informationen.
«Jaa, so gut kannte ich die Frau ja auch nicht.» Beate Richle schwieg verwirrt.
«Darf ich Sie fragen, wo Sie am Donnerstagnachmittag waren?» Ich kenne den genauen Todeszeitpunkt ja gar nicht, schoss es Liza durch den Kopf. Den muss ich so rasch wie möglich in Erfahrung bringen.
«Wo sollte ich schon gewesen sein. Hier zu Hause, natürlich. Ich arbeite nicht, habe IV. Ich mache Spaziergänge, und sonst bin ich meistens zu Hause. Ich möchte wieder einen Hund, der alte ist vor ein paar Monaten gestorben.»
«Das tut mir leid. Waren Sie gestern Nachmittag allein oder hatten Sie Besuch?»
«Ich war allein, habe mit meiner Tante telefoniert und den Ueli von drüben gegrüsst, als er vom Stall gekommen ist», erzählte Frau Richle bereitwillig.
«Wissen Sie noch, wann das ungefähr war, als Sie mit Ihrem Nachbarn gesprochen haben?»
«Das wird gegen fünf Uhr gewesen sein, denke ich. Jetzt muss ich ins Haus, ich muss dringend auf die Toilette.» Sie nickte Liza kurz zu, lief rasch an ihr vorbei und verschwand im Haus.
Mit dieser Frau stimmt in der Tat etwas nicht, sinnierte Liza, während sie nochmals zum Bauernhof zurückging.
«Ja, das stimmt. Ich habe Beate gegrüsst, als ich vom Stall gekommen bin, es war kurz vor fünf, glaube ich», antwortete Strässle nach kurzem Überlegen. «Um welche Zeit ist Marie umgebracht worden?»
«Das weiss ich leider nicht», räumte Liza ein.
«Sie haben Marie gefunden, haben Sie gesagt. Weshalb interessieren Sie sich eigentlich für diese tragische Geschichte?» Zum ersten Mal blitzte so etwas wie Neugierde in seinem Gesicht auf. Er schien Liza erst jetzt bewusst wahrzunehmen und musterte sie von Kopf bis Fuss mit wachsendem Interesse, was sie leicht verlegen machte. «Was machen Sie eigentlich hier im Toggenburg?»
3
Das wochenlange Prachtwetter schien zu Ende zu gehen, als Liza am späteren Nachmittag auf der Autobahn zurück nach Zürich fuhr. Ein heftiger Sturm zog auf, und mit einem Mal begann es wie aus Kübeln zu giessen. Die Autofahrer drosselten das Tempo. Liza liess das Gespräch mit Ueli Strässle Revue passieren. Sie war länger als zwei Stunden bei ihm gewesen und hatte mit ihm in seiner gemütlichen Küche zu Mittag gegessen. Sie hätte nicht sagen können, wann sie sich zum letzten Mal so wohl gefühlt hatte. Von ihrer Scheidung vor fünf Jahren hatte sie ihm erzählt, von ihrer beruflichen Vergangenheit bei der Polizei und von ihrem Detektivbüro. Ihrer beider Leben waren insofern ähnlich, als sie beide einen jähen Bruch in ihrer Biographie hatten: Ueli hatte vor acht Jahren nach seiner Scheidung seinen Job als Grafiker und Werber in Zürich an den Nagel gehängt und sich zum Biobauern ausgebildet; parallel dazu hatte er auf einem grossen Biobetrieb in Stammheim gearbeitet. Als sich vor vier Jahren die Gelegenheit bot, in Ennetbühl den Betrieb von Albin Hauser zu übernehmen, hatte er nicht lange gezögert. Schliesslich stammte er selber aus dem Toggenburg. Er war in Ebnat-Kappel aufgewachsen. Auch hatten sie beide, obwohl sie es sich wünschten, keine Kinder bekommen. Das hatte nicht nur Nachteile, da waren sie sich einig.
Sie musste unbedingt die Todeszeit von Marie Riefener in Erfahrung bringen. Weiter wollte sie in Zürich sogleich Kontakt mit Doris Rathgeb aufnehmen, ihrer Freundin und ehemaligen Kollegin bei der Polizei. Diese war mittlerweile die Leiterin des Kommissariats Ermittlung. Die Befragungen in Marie Riefeners Nachbarschaft und in ihrem Bekanntenkreis in Zürich fielen in deren Zuständigkeitsbereich. Am liebsten würde sie mit Karin Stillhart und mit Marie Riefeners Tochter sprechen; sie wusste aber noch nicht recht, wie sie das einfädeln sollte. Vielleicht würde sie einfach in Ennetbühl an der Haustür klingeln und ihr Beileid aussprechen. Schliesslich hatte sie Marie gefunden. Oder über Ueli Strässle? Sie könnte ihn ins Vertrauen ziehen, sie hatte ihm ja bereits so viel von sich erzählt, und ihn bitten, seine Nachbarn mal zum Essen einzuladen…
Der Verkehr stockte. Sie hatte Zürich erreicht. Als sie endlich in ihrer Dreieinhalbzimmerwohnung im Seefeld ankam, leerte sie als Erstes den Briefkasten, überflog die Post, die sich in den letzten sieben Tagen angesammelt hatte und hörte den Telefonbeantworter ab. Da war eine Anfrage für einen neuen Auftrag: Sie sollte für eine der Stimme nach ältere Frau den Exlebenspartner observieren. Obwohl sie froh sein sollte, dass neue Arbeit auf sie wartete, waren ihre Gedanken beim Tötungsdelikt im Toggenburg. Sie füllte die Wäsche in die Waschmaschine, registrierte, dass die Nachbarin ihren Pflanzen zu viel Wasser gegeben hatte, erledigte mechanisch die Haushaltsarbeiten.
Sollte sie Doris jetzt gleich telefonieren? Liza sah auf die Uhr. Es war beinahe sechs Uhr, Doris würde wohl nicht mehr im Dienst sein; sie beschloss, sie privat anzurufen. Da läutete ihr Mobiltelefon. Es war Ueli Strässle. Er tönte ein bisschen aufgeregt und teilte ihr mit, dass er, kurz nachdem sie abgefahren sei, Karin Stillhart getroffen und mit ihr gesprochen habe. Sie sei jetzt wieder zu Hause in Zürich an der Idastrasse, Liza solle ihr doch einen Besuch abstatten. Maries Tochter und ihr Freund seien in Ennetbühl geblieben, sie müssten sich der Polizei zur Verfügung halten. Die beiden hätten kein Alibi für den späteren Mittwochnachmittag, sie seien wandern gewesen «irgendwo da oben».
Nach dem Telefongespräch war Liza ein bisschen durcheinander. Sollte sie jetzt zuerst ihre ehemalige Kollegin anrufen oder sich sogleich bei Karin Stillhart melden oder ihr ohne Anmeldung einen Besuch abstatten? Und was war mit Marie Riefeners Tochter und deren Freund? Mit denen wollte sie auch dringend sprechen.
Ueli schien Vertrauen zu ihr gefasst zu haben; dass er sie so bereitwillig informierte, war nicht selbstverständlich. Er schien sie zu mögen. Sie wollte jetzt aber nicht weiter über ihn nachdenken, sondern sich auf ihr weiteres Vorgehen konzentrieren. Als sie am Morgen aufgestanden war, hatte sie noch nichts von seiner Existenz gewusst und jetzt hatte er schon ihre Telefonnummer! Naja, es ging ihm um Marie Riefener. Liza hatte ihn gebeten, ihr mitzuteilen, wenn ihm noch etwas Wesentliches in den Sinn käme, und das hatte er getan. Solchen Gedanken nachhängend war sich Liza gar nicht bewusst, dass sie die Nummer von Doris Rathgeb angetippt hatte. Sie musste sich einen Moment sammeln, als sie die freundliche Stimme ihrer ehemaligen Kollegin hörte: «Ja, halloo?»
«Hoi, Doris, hier ist Liza. Du, ich habe eine dringende Frage. Ich nehme an, du weisst, dass am Mittwoch eine Frau aus Zürich auf dem Klangweg im Toggenburg ermordet worden ist. Stell dir vor, ich bin diejenige, die sie gestern Morgen gefunden hat. Ich habe eine Woche Ferien in der Webstube Bühl in Nesslau gemacht und …»
«Was! Das gibt’s doch nicht! Wir sind von der Kriminalpolizei St. Gallen informiert worden. Ein Walter Widmer hat sich bei uns gemeldet. Ich habe persönlich mit ihm telefoniert, nachdem er uns alle Infos gemailt hat. Der hat eine erotische Stimme, hast du auch mit ihm gesprochen?» Sie kicherte ein wenig.
Liza konnte sich ihren Gesichtsausdruck genau vorstellen: leicht verschämt, mit einer Mischung aus Sehnsucht und Resignation. Wenn sie schon auf Widmers Stimme so abfährt, wie würde sie erst reagieren, wenn sie seine Augen sähe, dachte Liza belustigt. Doris lebte schon viel zu lange allein. «Hast du immer noch keinen Mann! So geht das nicht weiter! Du bist jung und attraktiv, nimm dir endlich einen!»
«Du bist ja auch immer noch Single, so einfach ist das nicht», gab Doris zurück. «Jedenfalls müssen wir natürlich die Nachbarschaft und den Freundeskreis dieser Frau in Zürich abklappern, das machen die St. Galler nicht. Dabei haben wir so viel um die Ohren, und zwei aus meiner Truppe, neue, die du nicht kennst, sind krank. Ich weiss gar nicht, wie wir das bewältigen sollen.»
Liza zögerte ein wenig: «Meine Detektei läuft zurzeit nicht so toll», sagte sie gedehnt, «wenn du eine Möglichkeit finden würdest, mich temporär einzustellen …»
«Liza, das ist lieb von dir. Aber du weisst, dass das nicht geht.» Doris seufzte.
Sie unterhielten sich eine Weile über gemeinsame Freunde und Bekannte; doch Liza war nicht recht bei der Sache. Das Bild der toten Marie Riefener wollte nicht aus ihrem Kopf.
Nach diesem Gespräch und zwei Tassen Kaffee entschied sich Liza, Karin Stillhart einen Besuch abzustatten.
Es war schon halb acht, als sie vor der Wohnungstüre stand und läutete. Eine zierliche ältere Frau mit verweinten Augen öffnete die Türe. Nachdem sich Liza vorgestellt hatte, wurde sie von Karin stumm in die Wohnung gebeten. Sie nahm in der Stube Platz, während Karin in der Küche Kaffee machte. Liza hatte das Angebot, einen Kaffee zu trinken, ohne zu zögern angenommen, obwohl es der dritte an diesem Abend war. Doch zusammen etwas trinken schaffte Vertrauen, das war nun einmal so. Neugierig schaute sie sich um. Der Raum war teuer eingerichtet mit Designerstücken und wenigen Antiquitäten, wirkte aber trotzdem gemütlich und sogar ein bisschen verwohnt. Man spürte, dass die Bewohnerinnen sich hier wohl fühlten.
Karin kam zurück, stellte den Kaffee auf den kleinen Tisch zwischen ihnen, setzte sich in einen bequem aussehenden roten Ledersessel und fragte Liza: «Was wollen Sie wissen? Ueli hat mir von Ihnen erzählt.»
Liza stellte sich nochmals vor, erzählte Karin, wie sie Marie Riefeners Leiche am Donnerstagmorgen auf dem Klangweg gefunden habe und dass ihr dieser schreckliche Mord keine Ruhe lasse, was bei der anderen Frau einen Strom von Tränen auslöste.
Sie erhob sich und holte ein Taschentuch. «Ich habe Marie so geliebt, wie ich noch nie einen Menschen geliebt habe. Wir hatten es idyllisch und friedlich miteinander. Wir haben so viel zusammen gelacht und uns gefreut», sagte sie schlicht. «Ich bin überzeugt, dass Marie ihren plötzlichen Tod vorausgeahnt hat.» Sie erzählte Liza von ihrer heftigen Auseinandersetzung, ja, ihrem Streit wegen dem Erben. «Und wir konnten uns nicht einmal mehr versöhnen.» Wieder kamen ihr die Tränen.
Vorsichtig erkundigte sich Liza nach Maries Tochter und deren Freund.
Karin schilderte ihr den Besuch der beiden hier in der Wohnung ausführlich.
«Gehe ich richtig in der Annahme, dass Sie Eva Riefener bereits gekannt haben?»
«Ja, ich habe sie zweimal kurz gesehen, vor zwei und vor drei Jahren. Brian habe ich zum erstenmal gesehen.»
«Sind sie Ihnen sympathisch? Mögen Sie die beiden?»
«Eva ist mir sympathisch. Ich glaube, sie mag mich auch, obwohl sie etwas Mühe hat mit meiner Rolle als Geliebte ihrer Mutter», gab Karin rasch zur Antwort. Und nach einigem Zögern meinte sie: «Brian ist mir unsympathisch. Ich sage das nicht gerne über Menschen, die ich kaum kenne, aber dieser Mann hat etwas Gieriges und gleichzeitig Anbiederndes. Er ist …», sie suchte nach den richtigen Worten, «verschlagen und skrupellos. Das tönt etwas hart, aber das ist genau der Eindruck, den ich von ihm habe: Ein Mensch, der glaubt, im Leben zu kurz gekommen zu sein und das Recht zu haben, sich zu nehmen, was er will. Er könnte Marie im Affekt umgebracht haben, das wäre vielleicht möglich gewesen.» Sie erhob sich und begann, im Zimmer hin und her zu gehen. «Aber, um die Tat zu planen, hätte Brian wissen müssen, wo Marie sich wann aufgehalten hat. Er kennt sie nicht, hat höchstens mal ein Foto von ihr gesehen. Soviel ich weiss, ist Eva erst seit ungefähr einem halben Jahr mit ihm zusammen. Und auf mich wirkt er nicht wie ein Mensch, der über Entschlusskraft verfügt.» Fast über sich selber erschrocken und leicht errötend verstummte Karin abrupt.
Liza musterte sie interessiert: Karin Stillhart hatte sich trotz ihrer Trauer intensiv mit dem möglichen Tathergang beschäftigt und ihre Überlegungen hatten Hand und Fuss.
«Entschuldigen Sie bitte, aber ich möchte jetzt gerne allein sein. Sie können jederzeit wieder kommen, falls Sie Fragen haben. Und falls Sie etwas herausgefunden haben, würde ich es gerne erfahren.» Karin zögerte, schien zu überlegen. «Sie sind Privatdetektivin, hat mir Ueli gesagt! Wären Sie bereit … Ich könnte Sie beauftragen, Nachforschungen anzustellen. Was meinen Sie?»
Das war mehr, als Liza erwartet hatte! Sie frohlockte. Es war nach neun Uhr, der heftige Regen vorbei, die Strassen beinahe wieder trocken.
Langsam spazierte sie zur Tramstation Schmiede Wiedikon und stieg in den 14-er, der gerade heranfuhr. Sie fühlte sich gleichzeitig müde und angeregt. Sie hatte so viel nachzudenken und zu ordnen; sie wusste kaum, wo ihr der Kopf stand. Am folgenden Morgen wollte sie die Nachbarschaft befragen. Sie würde auch nochmals bei Karin Stillhart vorbeigehen. Sie hatten über Karins Beziehung zu Marie sowie über Eva Riefener und Brian gesprochen, sie war aber nicht mehr dazu gekommen, Karin nach ihrem gemeinsamen Freundeskreis und nach Bekannten zu fragen, nach Personen, die Marie nicht mochten oder mit denen sie zerstritten war. Sie war emotional stark in diesen Fall involviert, dessen war sie sich sehr wohl bewusst.
Nach einem zufälligen Blick aus dem Fenster merkte Liza, dass die Station Stauffacher vorbei war, sie hatte vergessen, auf den 2-er umzusteigen!
Walter Widmer sass im Büro, das ihm in der Polizeistation Wattwil eingerichtet worden war. Im Raum war genug Platz für zwei Tische; er würde auch Befragungen und Besprechungen hier abhalten können, dachte er zufrieden. Er hatte sich gefreut, Rolf Nussbaumer, seinen langjährigen Arbeitskollegen, wiederzusehen. Nussbaumer war lang und hager, ein gutmütiger, geduldiger Mann, mit dem ihn eine unkomplizierte Freundschaft verband. Es war für Widmer klar, dass er ihn bei seinen Ermittlungen dabeihaben wollte.
Erst vor einem Jahr hatte Widmer seine Arbeitsstelle als Postenchef in Wattwil aufgegeben und sich zur Kriminalpolizei nach St. Gallen versetzen lassen. Mit seinen neuen Arbeitskollegen war er noch nicht so richtig warm geworden, was vor allem an ihm lag, das war Widmer klar. Er galt als Eigenbrötler; seine Ermittlungsmethoden waren oft unkonventionell.
Nussbaumer und er hatten am Vortag lange und ausführlich mit Eva Riefener und Brian Daves gesprochen und trotzdem wusste er überhaupt nicht, was er von den beiden halten sollte. Er hatte nicht aus ihnen herausgebracht, wo genau sie am Mittwochnachmittag gewandert waren; sie waren offensichtlich ortsunkundig. Fest stand lediglich, dass sie von Zürich kommend direkt mit dem Postauto nach Wildhaus und dann mit der Sesselbahn ins Oberdorf gefahren waren. Sie waren möglicherweise kurz auf dem Klangweg gewesen, hatten Klanginstrumente gesehen, aber wo und welche konnten sie nicht sagen. Ihr Gepäck hatten sie in Wildhaus im Hotel Sonne deponiert. Widmer hatte den beiden vorgeschlagen, mit ihm zusammen die Wanderung zu wiederholen, obwohl er genug anderes zu tun hatte. Doch Eva hatte erwidert, dass sie den Weg kaum mehr finden würden. Sie seien querfeldein über Wiesen und durch Wälder gelaufen. Am Abend hätten sie, auf Brians Vorschlag, in der «Sonne» übernachtet; sie hätten deshalb gar nicht gemerkt, dass Marie nicht nach Hause gekommen sei. Sie seien erst am Donnerstagnachmittag in Ennetbühl eingetroffen und von einer völlig aufgelösten Karin und einer Polizeipsychologin empfangen worden.
Die Geschichte wäre nicht schlecht erfunden, dachte Widmer.
Die beiden hatten gegen halb vier Uhr ihr Gepäck in der «Sonne» abgestellt und waren am Abend gegen sieben Uhr wieder im Hotel angekommen. Das hatte Nussbaumer überprüft.
Angenommen, sie hätten sich mit Marie auf dem Klangweg verabredet, sie hingehalten bis nach der letzten Talfahrt der Bahn, und dann, als alle Leute weg waren, umgebracht: Die Zeit hätte gereicht. Es wäre möglich gewesen. Andererseits konnte er sich einfach nicht vorstellen, dass Eva ihre Mutter umgebracht hatte oder es zugelassen hätte, dass ihr Freund sie tötete. Das passte nicht zu der sensibel und sympathisch wirkenden Frau! Auf seine Menschenkenntnis und sein Gespür bildete sich Widmer einiges ein.
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