Читать книгу: «Aus lauter Zorn», страница 4

Шрифт:

Ein harter Schlag mitten ins Gesicht unterbricht abrupt ihren Stammestanz.

Alles bleibt stehen. Alex hat den Sound verloren. Das Bild auch. Sie bleibt einen Moment in der Luft hängen, aufrecht gehalten von der Masse der anderen sich bewegenden Körper, dann fällt sie auf den Boden des Mörsers, und das Stampfen geht weiter. Rückkehr des Lärms und der Wut. Sie kauert sich zusammen, benommen. Schluckt warmes Blut und versteht, dass alles zu Ende gehen kann. Hier und jetzt. Endlich.

Dann entspannt sich ihr ganzer Körper und überlässt sich dem Stampfen. Sie wird zu einer schlaffen Masse, die keinen Widerstand mehr leistet. Ein formloses Gelee, in das die Schläge eindringen. Sie macht sich in die Hose. Gibt nach und lässt alles über sich ergehen. Getrampelt, zertreten, am Boden, erledigt. Brei, Matsch, eine große ekelhafte Pfütze. Man braucht das Ganze nur noch aufzuwischen, in einen Eimer auszuwringen und in die Gosse oder ins Klo zu schütten. Sie wird verschwinden. Spurlos. Die werden sie nie wiederfinden.

Als sie sich die Vollendung dieses finalen Szenarios ausmalt, lächelt sie über die Art und Weise, in der sie sie ficken wird, Junior und die Meute, die er auf sie angesetzt hat. Doch plötzlich greift ihr jemand unter die Achseln und zieht sie aus dem Getümmel heraus. Sie schreit, will, dass man sie zufriedenlässt, und vor allem, dass man sie krepieren lässt. Man soll sie nicht retten. Nicht jetzt, wo alles seinen Abschluss findet. Doch ihre Schreie bringen nicht mehr als ihre schwachen Versuche, sich gegen die Hilfe zu wehren.

Bald liegt sie ausgestreckt auf dem Boden, die rechte Wange badet in einer kleinen, sich langsam ausbreitenden Pfütze aus Rotz und Sabber. Zopfbart beugt sich über sie. Er lächelt nicht mehr so wie am Eingang. Sieht eher besorgt aus. Will ihren Samariter spielen. Scheißfreundlich! Sie hat ihn um nichts gebeten. Der Blödmann hat sie um ihr Halali gebracht. Ihren Abgang vermiest.

Der Rausschmeißer wischt Alex’ Gesicht mit einem feuchten und kalten Lappen ab, der danach blutig ist. Sie sagt sich, dass man ihr wahrscheinlich die Fresse eingeschlagen hat, aber sie spürt nichts davon. Jedenfalls im Moment. Sie kann nur das linke Auge öffnen. Er hebt sie hoch wie eine Feder und trägt sie zur Seite. In seinen großen Armen fühlt sie sich ganz klein und schwach. Sich so zerbrechlich und verletzlich zu fühlen, ist ihr ein Horror.

Sie wehrt sich, versucht sich zu befreien, aber er hält sie fest und bringt sie in ein Zimmer, das von grellem, aggressivem Neon erleuchtet und in dem das Getöse des weitergehenden Konzerts nur noch gedämpft zu hören ist. Zumindest nimmt Alex das so wahr, denn ihre Trommelfelle haben auch was abgekriegt.

Ihr Bernhardiner setzt sie in einem alten Clubsessel ab und holt einen Erste-Hilfe-Kasten. Die beiden sprechen nicht. Sie, weil sie sich ein wenig matschig fühlt, und auch weil sie nichts Besonderes zu sagen hat, und vor allem nicht Danke. Er, weil er die Schnauze voll hat von durchgeknallten Gästen, die sich aufs Maul hauen, und weil er sich auf das konzentriert, was er tut. Ein antiseptischer Verband. Ihr tut noch immer nichts weh. Dann schnelle Blicke zwischen ihrem blutigen Gesicht und der Schachtel mit den Pflastern: ein kleines für den Nasenrücken, ein mittleres für den rechten Mundwinkel und ein großes für die linke Augenbraue.

Dann fragt er, wo sie wohnt, und sie zieht aus der Tasche ihrer Sweatjacke einen Schlüsselbund vom Hostel De Draecke. Er nimmt sie wieder auf die Arme, um sie zu seinem Wagen zu tragen, und fährt sie nach Patershol. Kaum eine Viertelstunde Fahrdauer, der Verkehr ist flüssig. Alex schließt die Augen. Sie reden kein Wort.

Er bringt sie bis zu ihrem Zimmer, indem er sie am Ellbogen festhält wie eine kleine alte Oma, der man über die Straße hilft. Dann gibt er ihr den Schlüssel, zieht die Tür zu und geht.

»Slaap lekker!«

»Ja, du hast recht! Gute Nacht, Arschloch!«

Alex, mit dem ausgestreckten Mittelfinger hinter der Tür, sagt sich, dass Zopfbart einen verdammt guten Sinn für Humor hat: Sie wird bestimmt eine außergewöhnliche Nacht verbringen.

Ihr ist kalt, und der Schmerz macht sich nun im ganzen Körper in kleinen heimtückischen Wellen bemerkbar, die immer stärker werden. Wie ein Häufchen Elend hockt sie an der Tür und versucht, sich aus den feuchten und blutigen Klamotten zu schälen, die nach Kippen und Pisse stinken.

Alles fällt ihr schwer. Ihre Bewegungen sind langsam und ungeschickt. Die Doppelknoten der Schnürsenkel haben sich im Regen zusammengezogen, und sie bräuchte jemanden, der ihr hilft, die hohen Doc Martens auszuziehen, die scheinbar hauteng an ihren Füßen festgeschweißt sind.

Sie schlägt sich mit den Knöpfen am Hosenschlitz herum. Fünf, die sie schließlich mit letzter Kraft überwindet. Die Jeans, durchnässt und stinkend, klebt ihr an der Haut. Sie muss sie bis zu den Knöcheln auf links drehen, um sich von ihr zu befreien. Plötzlich hat sie das ekelhafte Bild eines Aals vor Augen, dem man die Haut abzieht und der sich windet. Das ist wirklich nicht der richtige Moment dafür. Sie muss sich übergeben.

Die Arme zu heben und das T-Shirt über den Kopf zu ziehen, ist eine Tortur. Ein oder zwei Rippen sind bestimmt gebrochen. In ihren Schläfen hämmert es.

Ihr Schädel scheint anzuschwellen und aus der Form zu geraten. Sie sieht sich mit einem Wasserkopf voller Auswüchse à la Joseph Merrick. Und sie denkt, dass sie mit alldem und ihren Tätowierungen eine Hauptattraktion in der verdammten Freak Show bilden würde.

Ihre Speicheldrüsen spielen verrückt. Nackt wie ein Wurm kriecht sie über die ein Meter fünfzig, die sie von der Toilette trennen, und, festgeklammert am Klodeckel, den Kopf in der Schüssel, spuckt sie, wie es ihr scheint, literweise eine bittere Brühe aus. Jeder neue Brechreiz entreißt ihr ein dumpfes animalisches Wimmern, wie bei einem gebärenden oder sterbenden Tier. Sie verliert das Bewusstsein.

Als sie flach auf dem Bauch auf den kalten Kacheln erschöpft wieder zu sich kommt, gelingt ihr nicht die geringste Bewegung. Nach einer Weile, vielleicht zehn Minuten, einer Viertelstunde, einer Stunde, öffnet sie, zu Eis erstarrt, wieder das Auge und schafft es, sich langsam kriechend und unter starken Schmerzen zur Dusche zu schleppen, sich dort aufzusetzen und auf den Druckknopf zu drücken. Der Wasserdruck auf ihrer geschundenen Haut ist zu stark. Sie beißt die Zähne zusammen und überlässt sich dem Strahl, erst kalt, dann wärmer und schließlich heiß. Und dann nichts mehr.

Kapitel 7

unepiqurelegerepointmechantecuisanteapeinepourlesma ladroitsetsoudainlecharmeopereuneondevousenveloppe cestlalunedemieldanscetteperiodeelevatoirelesideesaffluent lesoeuvressebauchentlaparolesurabondelivresseemportel hesitationetlatimiditeuneeurythmieclairvoyanteharmonise lapenseeleschagrinssontenfuiteetlessensabolisdanslapleni tudeheureusedesaforceetdesajoielhommesesentdevenirdieu cestleflambeaudepsychequisallumeauplusprofonddeletreet faitpalpiterasalumierelechatoiementdestresorsensevelisbien totcependantlesbrumesiriseeslesflottantesgazesepaississent leurrideaulebrouillardquipretaitalexistencelecharmedescon toursindeterminesdevientunmurimpenetrableuncachotdou leprisonniernesevaderaquauprixdexécrablesdouleurs

9. November 2006, Lerwick, Shetlandinseln, Polizeirevier

Die halten sie tatsächlich alle für blöd. Kelly schimpft und tobt im verlassenen Polizeirevier. Wütend brüllt sie die letzte Strophe von Nick Caves »Red Right Hand«. Eine völlig neue Version, noch beängstigender und bedrohlicher als das Original. Sie ist schwer am Grübeln, könnte um sich beißen. Seit drei Wochen guckt sie sich acht Stunden am Tag die Augen aus dem Kopf, um fotokopierte Listen und Informationsdateien zusammenzustellen. Listen mit allen Ein- und Ausreisen seit dem letzten 1. Januar, Tausende Namen von Leuten, die seit Anfang des Jahres die Fähre oder das Flugzeug genommen haben, und auch alle Hotelregister und Bed-&-Breakfasts der Inselgruppe. Sie hat den Eindruck, dass es sich um reine Schikane handelt und dass sie sich kaputtlachen.

Ihre Kollegen auf dem Revier haben ihr das übergeben, als ob sie ihr eine Freude machen würden, doch dämlich ist sie nicht, Detective Kelly McLeish, neunundzwanzig Jahre, seit Kurzem Sergeant, gerade von der Polizeischule in Edinburgh gekommen und seit Mitte Oktober auf die Shetlandinseln versetzt. Zehn Monate lang sind die Spürhunde dieses Lochs am Arsch der Welt kein Jota mit dem Mord in der Nacht ihres Lichtfestes weitergekommen und haben ihr das Baby in den Schoß gelegt.

Sie haben ihr die Nummer mit der weiblichen Sensibilität und Intuition vorgespielt und, Heuchler, die sie sind, ihre nagelneue Ausbildung als Ermittlerin und Absolventin des Criminal Investigation Departments gepriesen. Sie haben auch stark auf ihren Blick von außen abgehoben, der nützlich sein könne, um etwas zu sehen, was ihnen entgangen sein könnte. Sie haben sie gebeten, »den Fall neu aufzurollen«.

Alles Schwachsinn! Sie hat ihnen ihr Gewäsch keine zwei Minuten abgekauft. Sie wollen sie testen und dazu bringen, ihre Zeit zu verplempern, indem sie sie in ein unterirdisches Büro einsperren, obwohl sie draußen vor Ort sein müsste. Und sie müssen sich schön scheckig lachen, diese Arschlöcher! Die haben bestimmt Wetten über sie abgeschlossen, davon ist sie überzeugt. Wie viele Wochen sie hier durchhält. Das ist so die Art all dieser Spinner. Und bestimmt gibt es nicht wenige, die ihr kaum bis Weihnachten geben, bis sie wieder nach Hause geht. Da ist sie sich sicher. Sie ist die einzige Frau in diesem Kommissariat am Ende der Welt, und sie ist nicht von hier, also muss sie sich beweisen, und das nicht nur ein bisschen.

Genau genommen ist die Untersuchung an einem toten Punkt angekommen.

Es hat keinen Zeugen gegeben, als Richard McGowan, einundvierzig Jahre alt, am Abend des Up-Helly-Aa-Festivals mit siebzehn Messerstichen in den Unterleib niedergestochen wurde. Der Ort war menschenleer und die Straßenbeleuchtung erloschen. Alle Bewohner hatten sich auf der Esplanade King George V zur Verbrennung des Drakkar versammelt. Und keiner hat gesehen, was in der kleinen Straße von Lerwick passiert ist, in der ein Touristenpaar am 31. Januar um 23.30 Uhr bei einem Spaziergang vor der Rückkehr ins Hotel die Leiche entdeckte.

Der einzige an der Leiche gefundene Hinweis ist ein langes schwarzes Haar, dessen DNA-Analyse nur ergeben hat, dass es von einer Frau stammt. Doch bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt konnte nichts Greifbares von diesem Haar abgeleitet werden, das der Mann im Laufe des Abends überall bekommen haben konnte, vor allem wenn er sich unter die Menge gemischt hatte, die das Fest miterleben wollte …

Das Opfer, ein Shetlander, der auf der Insel Bressay wohnte, hatte am Abend seines Todes viel Alkohol im Blut. Kelly kann sich gut vorstellen, dass das Trinken hier ein verbreitetes Freizeitvergnügen ist, weil man sich auf dieser Inselgruppe zu Tode langweilen muss, vor allem im Winter … Der Mann hat keine Vorgeschichte, keine bekannten Freunde, und Raub war kein Motiv, denn man hat seine Brieftasche samt Papieren und allem Geld gefunden, eine hübsche Summe.

Das sieht aus wie ein zufälliger Überfall, der von einem Gespenst begangen wurde. Und wenn die Schotten neben dem Haggis noch eine Spezialität haben, dann sind es Gespenster!

Doch Kelly hat die zehnjährige Ausbildung nicht gemacht, um zu einem verdammten Ghostbuster zu werden oder um sich von einer Horde von Hinterwäldlern aus dem Norden, die halb Bullen und halb Wikinger sind, herumschubsen zu lassen.

Also wird sie sich ihre dämlichen Listen, die sich seit Tagen weigern, mit ihr zu sprechen, zum x-ten Mal vornehmen. Und bei all den Touristen, die kommen und gehen, vor allem in den Wochen vor und nach dem Fest, ist das kein Vergnügen. Als Nick Cave beginnt, mit seiner ernsten und dunklen Stimme »Let Love In« anzustimmen, begleitet sie ihn. Und wie bei ihm gibt es wirklich Tage, an denen sie das Gefühl hat, dass man sie dazu verdammt, lebenslänglich Konfetti vom Boden eines Betonlochs aufzukehren …

Kapitel 8

jemeursdeseufaupresdelafontainechaultcommefeuettrem bledentadentenmonpaissuisenterreloingtainelezungbra sierfrisonnetoutardentnucommeungvervestuenpresidentje risenpleursetattenssansespoirconfortreprensentristedeses poirjemesjouisetnayplaisiraucunpuissantjesuissansforceet sanspovoirbienrecueiullydeboutedechascunriennemestseur quelachoseincertaineobscurforscequiesttoutevidentdoub tenefaisforsenchosecertainesienstiensasoudainaccidentje gaignetoutetdemeureperdentaupointdujourdisdieuvous dointbonsoirgisantenversjaygrantpaourdecheoirjaybiende quoyetsinenaypasung

11. November 2006, Metz, Le Donjon

»Ist das nicht irre? Man könnte meinen, die Haare einer Toten …«

Fred hält ihm die Keksdose unter die Nase, in der er Alex’ Zopf aufbewahrt, und Anton ist kurz davor zusammenzubrechen. Schwarze Schmetterlinge flattern vor seinen Augen. Freds Satz hallt in seinem Kopf wider, und beim Anblick von Saschas zu einer Spirale aufgerolltem Haar auf dem Boden der runden Dose wird ihm ganz schlecht.

Es ist wahr, dass sie tot sein könnte und er nichts davon wüsste. Keiner würde auf die Idee kommen, Kontakt mit ihm aufzunehmen, um ihm zu sagen, dass Alex etwas zugestoßen ist. Seiner Sascha, die seit letztem Sonntag von seinem Radar verschwunden ist. Seit sechs Tagen.

Das macht ihn verrückt. Die Sorge frisst ihn auf. Er kann nicht klar denken, sich nicht auf seine Arbeit konzentrieren. Er dreht durch, im Kopf und in seiner Bude. Schaut alle fünf Minuten in seine Mailbox, und jedes Mal, wenn sie leer ist, wird der Knoten enger, der ihm den Magen abschnürt. Er möchte doch nur ein Zeichen haben. Ein kleines Wort. Wie etwa »Bis bald«, »Mach dir keine Sorgen« oder »Ich komme zurück«. Damit wäre er zufrieden. Sie soll ihm nur sagen, dass es ihr gut geht. Dass sie an ihn denkt in den wenigen Sekunden, die sie braucht, um das zu tippen. Doch ihr hartnäckiges Schweigen und ihre Abwesenheit machen ihn ganz kirre.

Er wünscht, er könnte heulen, bis ihm die Adern platzen, um den Druck zu lindern, er könnte mit Faustschlägen Mauern umhauen, oder er hätte sich für Bodybuilding entschieden und könnte Tonnen von Gusseisen hochwuchten, bis er verblödet. Irgendwas, um das Ohnmachtsgefühl zu vertreiben, das ihn erstickt. Es gibt keine Möglichkeit zu erfahren, wo sie ist. Damit kann er sich nicht abfinden.

Man könnte meinen, die Haare einer Toten.

Fred hat, ohne es zu ahnen, eine echte Katastrophe ausgelöst. Anton, der sowieso schon auf dem höchsten Ast der Angst sitzt, stürzt sich in morbide Gedankengänge hoch zehn.

Bilder der toten Alex und von gewaltsamen Todesfällen gehen ihm durch den Kopf wie eine schreckliche Diashow, wie eine Reihe von Pulp- oder Trash-Aufnahmen, die auf ihn einprasseln, ihn zu Eis erstarren lassen und erdrücken. Sascha erwürgt in einer Gasse, ausgestreckt zwischen zwei Müllcontainern. Sascha in einer Badewanne voller Blut, mit aufgeschnittenen Handgelenken. Sascha von einem Auto über den Haufen gefahren, ihr zertrümmerter Körper in einem nassen Graben. Sascha in einem leeren Krankenhauszimmer, die Nullinie und der Dauerpiepton des Monitors. Sascha zerschmettert in den zusammengepressten Blechen eines gegen einen Baum geknallten Wracks. Sascha zerfetzt auf den Gleisen, nachdem ein Zug vorbeigekommen ist.

Diese letzte Vision treibt ihn zum Kotzen auf die Toilette. Er hat Schluckauf, ist mit den Nerven am Ende. Er klappt den Deckel runter, setzt sich und versucht, sich zu erholen und sich wieder unter Kontrolle zu kriegen.

Wieder denkt er an Samstagabend.

Saschas späte Ankunft, wie kaputt sie aussah, ihre geschwollenen und geschundenen Fingergelenke, als ob sie sich geprügelt hätte. Er hat aber nichts dazu gesagt, weil er nicht als Inquisitor erscheinen wollte. Als er am Sonntag aufwachte, war sie bereits gegangen. Und zwar nicht, um Baguette und warme Croissants fürs Frühstück zu holen. Er hat mit ihr noch nie dieses vertrauliche morgendliche Tête-à-Tête geteilt. Im Allgemeinen zieht sie sich an, wenn sie Liebe gemacht haben, und geht nach Hause. Oder, wenn sie doch einmal bei ihm schläft, verschwindet sie am frühen Morgen, ohne ihn zu wecken, ohne ein Wort zu hinterlassen.

Und später am Tag, als er im Donjon ein Gläschen getrunken hat, sagte Fred ihm, dass sie kurz vorbeigekommen sei, bevor sie in einen Zug sprang. Überstürzter Abgang. Und weg war sie.

Seit Sonntag denkt er immer wieder über das nach, was Fred ihm erzählt hat. Um in all dem einen Sinn zu sehen, um irgendeinen Hinweis aus diesen Informationen zu bekommen, irgendetwas, das es ihm ermöglicht, irgendwo zu suchen, ganz gleich wo. Und noch immer nichts.

Er hört noch einmal, was Fred ihm gesagt hat, als ob es eine Aufzeichnung wäre. Er sieht seine besorgten Augen wieder, seine Aufregung, die Worte, die sich überstürzten und ineinanderflossen, erinnert sich an seine tonlose, angespannte und verknotete Stimme.

»Alex ist heute Morgen vorbeigekommen. In Eile. Sie hatte ihr Haar zu einem langen Zopf geflochten. Und ich hab ihr gesagt, dass ihr das gut steht, dass es mir gefällt. Sie hat geantwortet, ich solle den Anblick noch schnell genießen, da sie einen kurzen Haarschnitt brauche, auf der Stelle, bevor sie in zwanzig Minuten in den Zug steigt. Du kannst dir vorstellen, dass ich geschockt war. Mir war nicht danach, ihr die Haare abzuschneiden. Aber sie hat nicht nachgegeben, also hab ich die Küchenschere für den Zopf genommen. Und über dem Gummiband abgeschnitten. Hab ihn übrigens aufgehoben, konnte ihn nicht wegwerfen. Ich hab ihn in eine Keksdose gelegt, auf Seidenpapier, falls Alex ihn wiederhaben will, wenn sie zurückkommt. Und dann hat sie mich gebeten, den Rest mit dem Rasierapparat abzuschneiden, mit einem 5-mm-Abstandhalter. Das hat mich wieder geschockt. Ich hab vorgeschlagen, die Länge auf einen Zentimeter einzustellen, aber es war nichts zu machen. Und dann kam die nächste Überraschung. Weißt du, was sie hinten auf dem Schädel tätowiert hat, unten in der kleinen Aushöhlung? Vier seltsame kleine Zeichen. Guck mal, ich hab versucht, sie zu zeichnen.«

Anton sieht immer wieder Freds Gesichtsausdruck, seinen besorgten Blick. Er war erregt, weniger gelassen als gewöhnlich. Und so geht es schon die ganze Woche. Das hat zu seiner Angst beigetragen.

Er dreht und wendet den Bierdeckel, auf den die vier kabbalistischen Zeichen gekritzelt sind, zwischen den Fingern. Er hat Stunden damit verbracht, die Zeichen im Netz zu suchen, aber bis jetzt nichts gefunden.

Als Fred ihm von Alex’ Tätowierung erzählte, hat er den Ahnungslosen gespielt. Doch er weiß natürlich, dass Alex tätowiert ist. Und nicht nur ein bisschen. Nicht die Art von Tattoo, die man sich an einem Strand machen lässt, einen Delfin, eine Sonne oder einen Schmetterling, um eine Erinnerung an die Ferien mitzunehmen. Jenes, das Fred freigelegt hat, als er ihren Kopf rasierte, hat er noch nicht gesehen, aber was die anderen betrifft … Er wird nicht müde, sie zu überfliegen, sie zu entziffern und zu verstehen, sobald sie ihm Gelegenheit dazu gibt. Er denkt sogar, dass er sein Leben damit verbringen könnte, so fasziniert ist er von diesen Texten. Und bei diesem Gedanken muss er wieder an ihre allererste Nacht denken. Diese Erinnerung lenkt ihn vorübergehend ab und lindert seine Besorgnis ein wenig.

Schon seit einigen Wochen hatte er Alex aus der Ferne beobachtet. Wie viele Typen in der Bar fragte er sich, ob sie mit jemandem zusammen war, und er hatte sich sogar bei Fred danach erkundigt, der ihm aber nur sagen konnte, dass er sie nie in Begleitung im Donjon gesehen hatte. Im Gegenteil, sie schien alle Typen auf Distanz zu halten. Sodass einige, die eine Abfuhr bekommen hatten oder beim Billard regelmäßig eine Niederlage einsteckten mussten, das Gerücht aufgebracht hatten, sie würde eher auf Frauen stehen.

Sie hatten sich schon öfter an der Theke unterhalten, sie und er, und einige Gemeinsamkeiten entdeckt. Eine ganze Menge sogar. Vor allem literarische und musikalische Bezugspunkte und auch viele Reisen wegen ihrer jeweiligen Jobs, er als Fotograf, sie als Freelancer, ständig auf der Suche nach Artikeln und Reportagen über verschiedene kulturelle Themen, die sie meistens verkaufen konnte. Es gab zwischen ihnen eine Art von unmittelbarer Vertrautheit, und etwas an Alex’ Körpersprache hatte ihn darauf gebracht, dass er Chancen bei ihr hätte.

Und eines Abends, nach einigen Whiskys, hatte er sich ein Herz gefasst. Was konnte schon passieren. Es klang ein wenig aufgesetzt, aber er schlug ihr vor, bei ihm ein letztes Glas zu trinken. Und dann, er konnte es kaum glauben, hatte sie Ja gesagt. Wie selbstverständlich.

Sie fanden sich schnell in seiner Wohnung wieder. Alex sah die CD-Stapel durch und wählte ein Album von Akosh Szelevényi aus. Pannonia. Sie unterhielten sich bei einem Glas weiter über Musik und alles andere, getragen von den exzentrischen, disharmonischen und einlullenden Spiralen des Saxofons. Bis sie aufstand und ihn küsste. Ein fester, drängender und verschlingender Kuss, dessen Intensität und Plötzlichkeit ihn überrascht hatten.

Dann hatte sie sich in aller Ruhe rittlings auf ihn gesetzt und sich ausgezogen, indem sie zunächst den Reißverschluss ihrer Sweatjacke öffnete, unter der sie nichts trug. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, mit einem etwas seltsamen Ausdruck im Blick, gespannt auf seine Reaktionen. Und dieses Mal war sie wohl nicht enttäuscht.

Er brauchte eine Weile, um zu begreifen, was er sah. Das gedämpfte Licht und vor allem die Regelmäßigkeit der Zeichnung ließen ihn denken, dass sie ein dünnes und enges T-Shirt trug, dessen durchsichtiger Stoff die Rundung ihrer Brüste, den leicht gewölbten Bauch und die Aushöhlung des Bauchnabels sehen ließen. Dann hatte er seine leicht zitternden Hände auf ihre Brust gelegt und war, etwas idiotisch, überrascht, als er die warme und weiche Haut und ihre Brustspitzen, die sich unter seinen Handflächen verhärteten, und all diese kleinen schwarzen Buchstaben berührte, die nicht auf Stoff gedruckt, sondern auf ihren ganzen Oberkörper, ihre Schultern und die Oberarme tätowiert waren.

Sie war in ein fröhliches, kindliches Lachen ausgebrochen, in das eines schelmischen Kindes, erfreut über den Streich, den es gerade gespielt hat, und das hatte ihn aus dem Zustand der Verwirrung oder vielmehr der Erstarrung, in den sie ihn versetzt hatte, herausgerissen. Dann hatte sie ihn erneut stürmisch geküsst, und sie hatten sich in dieser Nacht mit einer brutalen, tierischen Inbrunst, die von ihr ausging, geliebt.

Und diese junge Frau, die ihn schon von Weitem fasziniert und dann interessiert hatte, seit sie miteinander sprechen konnten, ist aus der Nähe noch faszinierender geworden …

Eine vollständig beschriebene Frau, eine Buch-Frau, direkt einem Comic von Bilal entsprungen, bedeckt mit einem dichten Text, in Schönschrift mit winzigen Buchstaben wie in einem mittelalterlichen Manuskript, ohne Punkt, Komma oder Akzent, ein Text, bei dem man weder Anfang noch Ende erkennen kann, der sich in einer ununterbrochenen Linie über den ganzen Oberkörper, den Hintern und die Schenkel schlängelt. Ein Text, der keinen Zugang bietet, auf den er sich seit jetzt vier Monaten konzentriert und für den er einen Schlüssel zu finden hofft, der es ihm ermöglicht, einige von Saschas Geheimnissen zu lüften.

Mehrere Male hat er, als sie schlief, ohne ihr Wissen Fotos von ihrem Körper gemacht. Ein paar Nahaufnahmen, die er vergrößert hat, die er zu entziffern versucht. Und das ist alles, was ihm jetzt von ihr bleibt.

Dieses Mosaik von Fragmenten ihrer Haut, die er in den letzten Nächten immer wieder angeschaut hat, bis ihm die Augen brannten, um eine Antwort auf seine Angst zu bekommen. Er hat diese auf trügerisch glänzendem Papier gedruckten Stücke von Saschas Haut gestreichelt. Trügerisch wie ihre Abwesenheit, trügerisch wie ihr Schweigen, trügerisch wie die Idee, dass sie vielleicht irgendwo gestorben ist und er sie nie wiedersehen kann.

»He, Anton, alles in Ordnung?«

Fred hämmert an die Tür, weil er fürchtet, dass Anton nicht mehr aus dem Klo rauskommt.

»Die Mädchen stehen draußen Schlange, es wäre nicht schlecht, wenn du ihnen Platz machst, sonst muss ich den Wischlappen rausholen!«

1 886,45 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
302 стр. 5 иллюстраций
ISBN:
9783948392079
Переводчик:
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
Аудио
Средний рейтинг 4,2 на основе 352 оценок
Черновик
Средний рейтинг 5 на основе 104 оценок
Аудио
Средний рейтинг 4,6 на основе 680 оценок
Аудио
Средний рейтинг 4,7 на основе 141 оценок
Аудио
Средний рейтинг 4,7 на основе 1805 оценок
Текст, доступен аудиоформат
Средний рейтинг 4,3 на основе 482 оценок
По подписке
Текст
Средний рейтинг 3,9 на основе 9 оценок
18+
Текст
Средний рейтинг 4,9 на основе 313 оценок
По подписке
Текст, доступен аудиоформат
Средний рейтинг 4,3 на основе 977 оценок
Текст
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок