Читать книгу: «Erstrebtes und Erlebtes», страница 3

Шрифт:

Eintritt ins Erwerbsleben

An einem schönen Märztage, kurz vor dem Examen, sonnte ich mich mit andern Mädchen auf einem Stoss Holz und wir sprachen davon, was wir nach dem Examen anfangen wollten. Damals besuchten noch wenige Mädchen die Sekundarschule, die meisten nur zwei Vormittage der Woche die Ergänzungsschule, sie arbeiteten daneben als Lehr- oder Laufmädchen in Geschäften oder Fabriken. Eines erzählte, dass es in der nahen Färberei Seelig Arbeit erhalten könne, seine Mutter verlange aber, dass es noch eine Zeitlang in der Haushaltung helfe. Da erklärte ich: «Dann gehe ich hin und frage an, vielleicht wird man mich anstellen.» Sofort stand ich auf und begab mich auf das Bureau der Färberei. Der Buchhalter sass hinter einem grossen Buche und beachtete mich nicht, als ich schüchtern neben der Türe stehen blieb. Als mir die Nichtbeachtung zu lange dauerte, fing ich an, mit den Füssen zu scharren. Da schaute er auf und fragte kurz: «Was willst du?» Ich brachte die Worte kaum heraus: «Ich möchte höflich anfragen, ob ich in der Färberei Arbeit erhalten könnte?» Der Buchhalter sah mich eine Weile prüfend an, dann meinte er: «Aber dazu bist du noch viel zu klein.» Da stellte ich mich auf die Fussspitzen, streckte mich und sagte schon mutiger: «Aber schaffen kann ich doch.» In diesem Augenblick traf der Fabrikherr ein und sagte in freundlichem Tone. «So, so, du kannst also schon schaffen, Kleine? Dann könnten wir es ja zusammen versuchen, was meinst du?» «O gerne! Darf ich nächsten Donnerstag schon kommen? Am Mittwoch habe ich Examen.» Seine Frage: «Pressiert es dir denn so?» bestätigte ich voll Eifer, so dass der Fabrikherr lächelnd hinzufügte: «Dann komme nur, sobald du kannst; aber pünktlich, gelt!» Und er gab mir die Hand zum Abschied.

Ich rannte heim, riss die Türe auf und rief jubelnd: «Mutter, Mutter, denke, ich habe schon Arbeit!» Sie sass nähend am Fenster, ich setzte mich zu ihren Füssen auf einen Schemel und erzählte haargenau, wie kurz angebunden mich der Buchhalter behandelt habe und wie freundlich dagegen der Fabrikherr gewesen. Dabei ahmte ich deren Stimmen getreulich nach. Während ich in sprudelnder Lebhaftigkeit erzählte, sass mein armer, inzwischen ganz blind gewordener Vater am Tisch, ohne ein Wort zu sagen. Wie mag es dem intelligenten, feinfühligen Manne weh getan haben, dass sein zartes Kind, das zur Berufsarbeit zu klein befunden wurde, trotzdem schon in die Fabrik zur Arbeit musste, während er, der 52jährige kräftige Mann, durch das Schicksal zum Nichtstun verurteilt war!

Fabrikarbeiterin

In der Nacht nach dem Examen konnte ich kaum schlafen vor lauter Angst, am Morgen nicht rechtzeitig zu erwachen. Ich war schon früh auf dem Platze, jedenfalls eine der ersten, denn ich sah nirgends Arbeiter oder Arbeiterinnen. Als ich durch den Hof dem Fabriktor zuschritt, hörte ich hinter mir rasseln, und ein mächtiger Bernhardiner an einer langen Kette kam auf mich zu. Das Herz stand mir fast still vor Schreck. Da fuhr es mir blitzschnell durch den Sinn, dass einem die Hunde nichts anhaben können, wenn man die Daumen fest in die Handballen drücke. Die Daumen krampfhaft eingeklemmt, marschierte ich steif vor Angst zur Türe und hinein, der Bernhardiner hart hinter mir her. Später wurden er und ich noch recht gute Freunde; das gleiche Wohlwollen wie sein Herr erwies mir auch der Vierbeiner.

Ein Mann führte mich in die Wollhaspelei, wo ich das Haspeln zu erlernen hatte. Die grossen, gefärbten Wollstrangen wurden auf langen Haspelmaschinen, die leicht zu drehen waren, in kleine Strängchen geteilt und unterbunden, eine Arbeit, die mir behagte.

Es war dort üblich, dass immer das jüngste der Haspelkinder für die Färber und Drucker «Z’nüni» und «Z’abig» holen musste. Als ich sie nach ihren Wünschen fragte, meinten sie: «Aber Kleine, du kannst ja nicht alle Flaschen tragen!» «Doch, doch», erwiderte ich, «ich laufe nur mehrmals!» Der eine bestellte Bier, Brot und Wurst, der andere Käse und Most usw. Als ich mit der ersten Ladung ankam, sagte der Empfänger: «Hier Kleine, hast du auch etwas!» und steckte mir ein Möcklein Brot und Wust in den Mund. Der zweite reichte mir die Bierflasche hin: «Da, nimm einen tüchtigen Schluck!» Und so ging es fort. Keinem der Arbeiter musste ich je etwas holen, ohne dass er mir von seinem Z’nüni oder Z’abig abgegeben hätte. Diese Fütterung ist mir gut bekommen. War ich mit Beginn der Ergänzungsschule im April noch fast die kleinste Schülerin, so rückte ich gegen Ende des Jahres schon ziemlich über das Mittelmass hinaus und wurde auch kräftiger.

Wie glücklich war ich, als ich mit dem ersten Zahltag nach Hause kam. Stolz legte ich der Mutter mein erstes selbstverdientes Geld in die Hand, bare Franken 7.20 für zwei Wochen. Neben der Arbeit in der Fabrik hatte ich zweimal wöchentlich die Ergänzungsschule zu besuchen. Als ich das erste Mal eintrat, fragte mich Herr Lehrer Schönenberger erstaunt: «Gehst du denn nicht in die Sekundarschule?» «Nein, ich muss verdienen, mein Vater ist blind», lautete meine Antwort. Nach der Schulstunde forderte er mich auf, meinen Vater zu fragen, ob ich die Sekundarschule besuchen dürfe, wenn ich die Lehrmittel unentgeltlich bekäme. Er könne mir allenfalls auch noch für ein Stipendium sorgen. Davon wollte mein Vater nichts wissen: «Ich habe in meinem Leben noch nie ein Almosen erhalten und begehre auch für die Zukunft keines.» Und dabei blieb es. Herr Schönenberger sprach sein Bedauern über Vaters Antwort aus und meinte: «Schade, schade!» Ob das wirklich so schade war? Ich glaubte nicht recht daran, denn in der sechsten Klasse enthielten alle sieben Monatszeugnisse zwar gute Noten in Fleiss und Fortschritt, beim «Betragen» aber stand jedesmal eine gar unliebsame Bemerkung. Der Wortlaut wechselte zwar, der Sinn jedoch war stets derselbe: Ich sei einfach nicht an Ruhe und Stillsitzen zu gewöhnen.

Vaters Ablehnung konnte ich, so jung ich war, recht wohl verstehen, hatte ich doch schon manchmal gehört, wie abschätzig über Unterstützungsbedürftige gesprochen wurde. Unser Heimatort Melliken gab keinen Rappen Unterstützung nach auswärts; da gab es nur Gemeindeversorgung, von der es daheim immer hiess: «Gott behüte uns davor!» Nicht dass unsere Heimatgemeinde schlimmer gewesen wäre als die meisten andern Landgemeinden und sogar Städte der Schweiz. Es war bei Vater nicht allein der Widerwille gegen jegliches Almosen, es war auch sein Stolz, der ihn veranlasste, das Stipendium zurückzuweisen.

Ein inneres Glücksgefühl entschädigte mich für den Verlust des Sekundarschulbesuches: konnte ich doch mit meinen schwachen Kräften der Familie schon eine merkliche Stütze sein.

In der Fabrik ging es mir gut, und der Fabrikherr hatte bei jeder Begegnung ein freundliches Wort für mich. Als seine Familie in die Ferien verreiste, übertrug man mir das Begiessen der Oleanderpflanzen vor dem Hause; dafür bekam ich bei der Heimkehr zwei Franken, mehr als einen halben Wochenlohn. Ich konnte mich kaum fassen vor Freude bei dem Gedanken, was für Augen die Mutter wohl machen werde bei dem unverhofft erhaltenen Gelde.

Am Martinstag, einem in Zürich allgemein gefeierten Markt- und Zinstag, war die Fabrik geschlossen. Die Mutter gab mir zwanzig Rappen, die ich verputzen durfte. Zwanzig Rappen! – für mich damals ein Vermögen. Stolz im Gefühl meines Reichtums reiste ich auf den Jahrmarkt, besah mir gründlich alles, was mir wünschenswert erschien, und davon gab es eine Menge. Den ganzen Nachmittag bummelte ich auf der einen Seite der Messestände den Kirschengraben hinauf, bei den gegenüberliegenden Ständen wieder hinunter und fragte überall nach den Preisen. Nichts war mir gut genug für meinen Zwanziger. Als es bald am Zunachten war, musste ich mich doch zum Kaufe entschliessen. Ein Paar weisse Manschetten mit eingesetzter Stickerei, wie sie damals Mode waren, wurde mein Eigentum. Hungrig wie ein Wolf, aber freudig meine Manschetten schwingend, kam ich heim. Der Empfang war weniger freudig. Als meine ältern Schwestern die Manschetten sahen, meinten sie: «Du bist ein Modeaffe!» Und auch die Mutter sagte vorwurfsvoll: «Aber Kind, was kaufst du für dummes Zeug. Dass du auch immer den Kopf so hoch tragen musst!» Ich wusste nicht, was sagen, glaubte ich doch, mit den schönen Manschetten, wie sie von den Kindern auch getragen wurden, einen grossartigen Kauf gemacht zu haben; dass ich deshalb ein Modeaffe und hochmütig sei, das konnte ich nicht verstehen.

Am folgenden Samstag wurde einem Teil der Arbeiter und Arbeiterinnen gekündigt, da es über den Winter wenig Wolle zum Färben und Haspeln gab. Natürlich kamen die jüngern zuerst daran, unter ihnen befand auch ich mich.

Eine Nachbarin, die in der grossen Seidenspinnerei am Mühlesteg Aufseherin war, verschaffte mir dort eine Stelle und schärfte mir ein, bei der Anmeldung mein Alter mit vierzehn Jahren anzugeben. Andern Tages stand ich vor Meister Isler; er war ein alter Mann mit weissem Bart und strengen Gesichtszügen. Er schaute mich bei meiner Altersangabe zweifelnd an, denn ich war noch nicht dreizehn und für mein Alter klein. Auch mochte mir beim Aussprechen der Unwahrheit das Blut heiss und verräterisch in den Kopf gestiegen sein. Endlich sagte er zu meiner grossen Erleichterung: «Du kannst am Montag eintreten, musst zeitig da sein; punkt sechs Uhr werden die Maschinen angelassen.»

Wie schwer war für meinen Vater der Gedanke, mich in der Zwirnerei zu wissen, die neben der Papierfabrik lag, in der er über ein Vierteljahrhundert gearbeitet hatte. Er hatte immer betont: «Solange ich lebe, kommt keines meiner Kinder in einen solchen Fabrikbetrieb!» Und jetzt mussten wir froh sein, dass ich dort Arbeit erhielt.

Wie schön fand ich an dem dunklen, stillen Morgen die vielen hellbeleuchteten Fensterreihen der grossen Seidenfabriken des oberen und unteren Mühlesteges. Ich war frühzeitig dort, stand längere Zeit am Geländer der Limmat und schaute in das prächtige Lichtermeer. Inzwischen gingen Frauen und Kinder scharenweise an mir vorbei in die Fabrik und ich schloss mich ihnen an. Die Arbeiterinnen, jung und alt, trugen Kleider aus dunkelblauem Baumwollstoff, in den kleine weisse Tupfen oder Sternchen eingedruckt waren. Sie hatten wollene, handgestrickte Zipfeltücher umgebunden, eine Wollschleife um die Ohren und trugen einen mächtigen Deckelkorb am Arm. Sie kamen zum grossen Teil weither, waren schon reichlich eine Stunde gegangen, schlugen bei ihrer Ankunft die Arme übereinander wie die Fuhrleute, wenn sie sich wärmen wollen und hauchten in ihre steifen, blaugefrorenen Hände.

Viele der Kinder waren nicht älter, auch nicht grösser und kräftiger als ich und hatten vor der Arbeit doch schon einen weiten Weg zurückgelegt. Ihre und meine Arbeit bestand darin, Büschel von Seidenfäden, die aus den Kokons der Seidenraupen gewonnen waren, an langen Tischen auf schmale Tücher quer auszubreiten und der Länge nach wieder dreimal zusammenzulegen. Dann wurden die Tücher gerollt, in die Maschine gespannt, und auf Spulen kam die feingesponnene Seide heraus. Die Arbeit wurde beim Stück bezahlt; sie machte mir Freude, denn es war Leben und Bewegung darin.

Fürwitzig wie ich war, hätte ich längst gerne gewusst, was die geheimnisvollen Deckelkörbe enthielten. Einst blieb ich über Mittag in der Fabrik und bekam den Inhalt zu sehen. Am Boden lag ein grosses Stück Brot, daneben eine Strickarbeit. «Ist das alles?», fragte ich erstaunt. Meine Enttäuschung machte den Arbeiterinnen Spass; jede streckte mir einen Zwanziger entgegen: «Damit leben wir Tag für Tag – herrlich und in Freuden wie Gott in Frankreich.» Selten wurde der ganze Zwanziger verbraucht; meist nur die Hälfte, die zu zwei Tassen Kaffee reichte, den jeden Mittag eine Kaffeefrau brachte. Für die andere Hälfte wurde Garn oder Wolle gekauft und während der Mittagspause verarbeitet, die einzige Zeit, die zu solchen Arbeiten verblieb. Es kam auch vor, dass der Kaffee den Frauen verleidet war. Dann gingen sie an die obere Zäune, wo eine gemeinnützige Gesellschaft einen grossen Teller ausgezeichneter Suppe mit Fleischstücken und Gemüse zu zehn Rappen ausschöpfte. Bald aber zog es sie wieder zu ihrem Strickstrumpf – und Kaffee zurück.

Mit Dödli (Dorothea), einem neben mir arbeitenden Mädchen, hatte ich mich gut befreundet und besuchte es öfters in Affoltern bei Zürich. Zu Dödli und ihren Schwestern, die auch in der Fabrik schafften, fanden sich noch andere Arbeitskameradinnen ein und es gab immer einen vergnügten Tag. Von der Fastnacht wurde erzählt, vom gemütlichsten Fest des Dorfes, an dem auch die Kinder teilnehmen durften. Abend für Abend begleitete ich mein Kamerädli ein Stück Wegs, um recht viel von dem bevorstehenden Fest zu hören. Die Kinder sollten eine Szene aus Wilhelm Tell aufführen, und die Mutter hatte erlaubt, dass ich mitmachen und bei meiner Freundin schlafen dürfe. In ihrer elterlichen, grossen Stube versammelten sich die Kinder und übten das Stück ein. Nach unserer Meinung sollten Gessler und seine Begleiter ganz vornehm gekleidet sein, und ich wurde gebeten, die Gruppe mit Gold- und Silberpapier zu schmücken. Die Hosen bekamen auf den Seiten silberne Streifen, die Brust wurde mit Ordenssternen bedeckt, auf den Kopf ein mit Gold verziertes Barett gesetzt und unter die Nase ein mächtiger Schnurrbart geklebt. Die Tyrannen sahen glänzend aus. Tell und den Landleuten wurden Säcke als Hirtenhemden übergezogen, an den Hüften von einer festen Schnur zusammengehalten. Mit unsern Schauspielern, auf die wir sehr stolz waren, traten wir in den beiden Gasthäusern auf. Die Säle waren voll besetzt, und die Erwachsenen zeigten grosse Freude an der Jungmannschaft. Wein und Kuchen bildeten unsere Belohnung.

Es war Mitternacht vorbei, als wir zu Bette gingen. Um halb vier Uhr war schon wieder Leben auf den Dorfstrassen und Dödlis Mutter rief: «Es ist Zeit zum Aufstehen, Kinder, macht schnell, schnell! Es hat tüchtig geschneit, deshalb gibt es frühern Abmarsch als sonst.» In allen Strassen war ein Rufen und Pfeifen, damit sich niemand verspäte, und gegen halb fünf Uhr bildete sich ein langer Zug in der Mitte des Dorfes. Voran marschierten die Arbeiter der Maschinenfabrik Neumühle, dann kamen die Frauen und Mädchen und den Schluss bildeten die Kinder. Es gab ein langes Hin- und Herrufen, bis festgestellt war, dass alle beisammen seien. Die Kontrolle konnte nur durch Fragen und Antworten erreicht werden, denn es war zu dunkel, um einander zu sehen. Dazu schneite es immer noch fein und dicht. Es war ein Glück, dass die Männer und Frauen einen Weg durch den hohen Schnee bahnten, denn an diesem Morgen hätten wir Kinder uns kaum durchgewatet. Die Frauen blieben von Zeit zu Zeit zurück, riefen einzelne Kinder auf, fragten nach andern, um sicher zu sein, dass keines der Kleinen auf dem Weg zurückgeblieben sei. Todmüde vor Anstrengung, die Unterkleider vom Schweiss, die Oberkleider vom Schnee durchnässt, langten wir gegen sechs Uhr in der Fabrik an. Solchen Anstrengungen waren die fernwohnenden Fabrikkinder oft ausgesetzt vor und nach der elfstündigen Arbeitszeit. Arme Kinder! Wie gut hatte ich es ihnen gegenüber! Ich wohnte nur wenige Minuten von der Fabrik entfernt und konnte mittags heim zum Essen.

Meiner Mutter tat es leid, mich morgens bei dem kalten Wetter so frühzeitig hinauszuschicken, deshalb wartete sie mit dem Wecken bis zur letzten Minute. Sie rief mir erst um halb sechs Uhr. Bis ich gewaschen, Unterkleider und Schuhe angezogen hatte, war der Kaffee gewärmt und das Brot darin weich. Die Mutter kämmte und flocht mir die Haare, unterdessen konnte ich gemütlich meine Kaffeebrocken essen und kam doch noch rechtzeitig in die Fabrik.

Eines Tages holte mich meine jüngste Schwester ab und rief schon von weitem: «Denke dir, Vreneli, ich habe einen Schlitten! Ich habe ihn eingetauscht gegen ein altes Buch!» Ich freute mich über den Schlitten, legte meine Hand in die Schlinge und half ziehen. Einen Schlitten hatten wir noch nie besessen, und doch hätte ich gerne geschlittelt. Wie oft war ich als kleines Mädchen ganze Nachmittage oben am Rennweg gestanden und hatte gewartet, bis mich ein Kind auf seinem Schlitten mitnahm. Wie herrlich, so hinunterzusausen! Was kümmerte es mich, dass mir beim Warten fast die Füsse abfroren? Jetzt hatten wir einen eigenen Schlitten.

Den wollte ich am Sonntag probieren; meine Schwester konnte ja an den schulfreien Nachmittagen schlitteln. Wichtig zog ich den Schlitten die alte Beckenhofstrasse hinauf. Es war eine alte Schlittenform, ein sogenannter Kessler; aber es fehlte ihm die Eisenstange mit den Ringen, die so lustig klirren beim Fahren. Auch hatte er keine Eisenschienen; darum kam der Schlitten nie recht in Lauf, nicht einmal den Berg hinunter. Bald wurden die anderen Kinder darauf aufmerksam und spotteten: «Jetzt chunnt’s Knechtli wieder mit siner Speuzdrucke!» (Spuckkästchen). Das kränkte mich, denn ich hatte grosse Freude gehabt, auf einem eigenen Schlitten zu fahren, wenn er auch nicht so davonsauste wie die andern. Da riefen die Buben meiner Klasse: «Komm, setze dich zu uns auf einen Schlitten; wir binden eine ganze Anzahl zusammen und hauen es den Berg hinab!» Ich gab den Schlitten meiner Schwester und setzte mich zu den Buben. Mit Jubeln und Jauchzen ging die Fahrt vor sich und wir langten unten an, bevor wir recht aufgesessen waren. War das schön! Und der Aufstieg nicht weniger lustig! Ich blieb, bis die einbrechende Dunkelheit zur Heimkehr mahnte.

Einer der Fabrikherren übergab trotz der grossen Zahl Arbeiterinnen jeder ihr Zahltagsäcklein persönlich. Nach einiger Zeit sagte Herr Escher in Gegenwart der andern Kinder zu mir: «Du erhältst einen Franken Abzug, denn deine Arbeit war mangelhaft.» Als Herr Escher fort war, umstanden mich alle Kinder und fragten, ob Meister Isler mich wegen schlechter Arbeit ausgeschimpft habe. «Nein, niemals! Er hat übrigens noch nie ein Wort wegen der Arbeit zu mir gesagt», erwiderte ich. Da riefen verschiedene Mädchen: «Aber mich hat er schon oft gescholten und doch habe ich noch nie Abzug erhalten.» Am folgenden Zahltag wiederholte sich der Abzug und dann noch ein drittes Mal. Erst später erfuhr ich durch die Nachbarin, die mir die Arbeit vermittelt hatte, den Grund der Abzüge. Sie kam im Auftrag von Meister Isler und sagte zur Mutter: «Er ist wohl ein strenger Mann, hat aber ein goldenes Herz. Er bedauert die Lohnabzüge Vrenelis. Es treffe das Kind keine Schuld, im Gegenteil, es sei nur zu fleissig gewesen. Als es im Stücklohn mehr verdiente als die erwachsenen Arbeiterinnen an der Maschine, habe Herr Escher befürchtet, sie würden, sobald sie vom Verdienst des Kindes wissen, höhern Lohn verlangen, und mehr könne er nicht zahlen.»

Deshalb sagte Meister Isler zu mir: «Wir können dich in dieser Abteilung nicht weiter beschäftigen. Komm, ich will dir deinen neuen Arbeitsplatz zeigen.» Ich kam in ein anderes Gebäude an eine Maschine, an der zwei Frauen beschäftigt waren, denen ich zudienen musste. Nach einigen Tagen sagten sie zu mir: «Weisst Kind, seit du da bist, sind wir stets in grösster Angst, du könntest verunglücken. Ein solches Windspiel gehört nicht an eine Maschine, das werden wir Herrn Isler sagen.»

Als ich abends die Fabrik verliess, waren eine Anzahl Arbeiterinnen um eine junge Frau versammelt, die zu ihnen sprach und Flugblätter verteilte.

Ich drängte mich vor, denn ich wollte auch hören, was die Frau sagte. Es war die Rede von bessern Arbeitsbedingungen, die besonders den Arbeiterinnen not täten; diese müssten in einem Fabrikgesetz festgelegt werden, an das sich die Fabrikanten zu halten hätten. Die Frau gab auch mir zwei Flugblätter und sagte: «Da lies! Was darin steht, geht auch dich an!» Eine entfernt stehende Arbeiterin rief laut: «Frau Greulich!» und die Flugblattverteilerin wandte sich dieser zu.

Ich ging heim, ahnungslos, dass das meine erste Begegnung mit der Sozialdemokratie gewesen, in deren Dienst ich später einen so grossen Teil meines Lebens gestellt habe.

Beim Nachtessen erzählte ich von meiner Versetzung an die Maschine und von der Angst meiner beiden Mitarbeiterinnen. Da sagte die Mutter aufgeregt: «Geh morgen früh sofort zum Meister und frage ihn, ob er nicht andere Arbeit für dich habe. Ich will kein verstümmeltes Kind, ich habe mehr als genug an einem Unglück zu tragen!» Mein zukünftiger Schwager gab der Mutter recht. Er meinte: «Ein Kind gehört nicht an eine Maschine, es ist zu wenig vorsichtig, sieht die Gefahr noch nicht, und im Handumdrehen ist das Unglück da. Was wird dann mit solch einem armen, verkrüppelten Geschöpf? Der Fabrikant ist rechtlich zu keiner Entschädigung verpflichtet und bald genug wird er die invalide Arbeiterin auf die Strasse stellen.»

«Nein, nein, das macht Herr Escher nicht», wehrte ich mich. «Vor einiger Zeit geriet einem Mädchen die Hand in eine Maschine und hat ihm die Finger weggerissen. Nein, nicht alle! Der Daumen und ich glaube noch ein Finger sind geblieben. Da hat ihm Herr Escher versprochen, dass es immer in der Fabrik bleiben dürfe; das ist doch schön!» «Bist du eine dumme, kleine Schwägerin! Da hat das Mädchen viel davon! Wenn es andere Arbeit verrichten möchte oder die Fabrik einginge, was dann? Es wird mit der verstümmelten Hand kaum Arbeit finden oder nur schlecht bezahlte, und einen Mann bekommt es am Ende auch nicht. Was hat ihm eigentlich dein guter Herr für den erlittenen Schaden bezahlt?» «Nichts!» musste ich kleinlaut bekennen. Ich sah nun die Sache schon in einem etwas andern Lichte an.

«Es ist ein Glück», sagte mein Schwager weiter, «dass bald das Fabrikgesetz kommt und Arbeiter und Arbeiterinnen von Gesetzes wegen versichert sind. Eben weil das Gesetz vor der Türe steht, musstest du dein Alter um ein Jahr höher angeben.» «Gerade davon hat heute abend Frau Greulich gesprochen.» Da leuchteten die Augen meines Schwagers Strässle, und er sagte freudig: «So, so, Genossin Greulich hat zu euch geredet; eine prächtige Frau! Sie hat daheim eine grosse Familie und findet dennoch Zeit, ihren Mann bei der Aufklärung und Organisation der Arbeiterinnen zu unterstützen. Eine Anzahl solcher Frauen und es stünde in mancher Hinsicht besser bei uns!»

Einige Jahre später kam das für mich Unfassbare: die grosse Seidenzwirnerei stellte den Betrieb ein, und die Fabrikgebäude wurden an andere Gewerbe vermietet. Lange dachte ich darüber nach, ob wohl die vielen Arbeiterinnen wieder lohnende Beschäftigung gefunden hätten. Wie mochte es wohl dem Mädchen mit der verstümmelten Hand gehen? Es war gewiss nicht das einzige in dem grossen Betriebe, das körperlichen Schaden davongetragen hatte.

Ich dachte an die Reden Frau Greulichs und meines Schwagers und empfand es als ein Unrecht, dass die schwerreichen Fabrikbesitzer nicht verpflichtet waren, die in ihrem Betrieb verunglückten Arbeiterinnen zu entschädigen.

Am andern Morgen bat ich Meister Isler um andere Arbeit; an der Maschine dürfe ich nicht länger bleiben. Erst sah er mich eine Weile an, als ob er sich auf etwas besinne, dann erwiderte er in seiner trockenen, kurzen Art: «Habe nichts für dich; komm in mein Bureau, damit ich dir den Lohn geben kann!» Beim Überreichen sagte er freundlich: «Leb wohl, Kind, ich wünsche dir Glück!»

Noch bevor Mutter und Schwestern beim Kaffee sassen, war ich wieder daheim, legte den Lohn der vergangenen Woche hin mit den Worten: «Jetzt bin ich wieder arbeitslos», legte den Kopf auf den Tisch und weinte bitterlich. «Das ist kein grosses Unglück», meinte meine Schwester Albertine, «komm morgen mit mir ins Geschäft und lerne Krawatten machen.»

399 ₽
208,67 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
354 стр. 7 иллюстраций
ISBN:
9783037600245
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
Аудио
Средний рейтинг 4,2 на основе 371 оценок
Текст, доступен аудиоформат
Средний рейтинг 4,3 на основе 488 оценок
По подписке
Аудио
Средний рейтинг 4,6 на основе 687 оценок
Текст, доступен аудиоформат
Средний рейтинг 4,3 на основе 986 оценок
Аудио
Средний рейтинг 4,7 на основе 1828 оценок
Текст, доступен аудиоформат
Средний рейтинг 5 на основе 439 оценок
Текст, доступен аудиоформат
Средний рейтинг 4,7 на основе 1029 оценок
Аудио
Средний рейтинг 5 на основе 430 оценок
Черновик
Средний рейтинг 5 на основе 145 оценок
Текст
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок