Читать книгу: «Gleichheit oder Freiheit?», страница 6

Шрифт:

5.Der Leviathan

Viele Denker des 19. Jahrhunderts fürchteten eine ganz konkrete Gefahr für die Person und die Persönlichkeit, und zwar nicht nur durch die Dialektik der politischen Entwicklungen, sondern auch durch einen ganz bestimmten Faktor: die Bedrohung durch den stets wachsenden Staat. Der lügenhaften Gleichsetzung von Staat und Volk175, von Staat und Nation verdankte Nietzsche die Eingebung zu diesen unvergänglichen Zeilen:

»Also sprach Zarathustra:

Staat, was ist das? Wohlan, jetzt tut mir die Ohren auf: denn jetzt sage ich euch mein Wort vom Tode der Völker.

Staat heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch, und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: Ich, der Staat, bin das Volk!

Wo es noch Volk gibt, da versteht es den Staat nicht und haßt ihn als bösen Blick an Sitten und Rechten.«176

Im Gegensatz zu Nietzsches Staat nannte Mjereshkowskij die Kirche das »brennendste aller Wunder« und deutete auf eine schicksalhafte Krise hin, die sich notgedrungen aus dieser Antithese ergeben mußte177. Andere Autoren haben diese Ansicht wiederholt geteilt178. Es ist selbstverständich, daß diese Kampfstellung in einem evangelischen Lande, in dem der lutheranische Begriff eines auf die allumfassende Schlechtigkeit des Menschen gegründeten Staates vorherrscht, andere Formen annimmt als im Bannkreis der ›Alten Kirche‹179.

Um aber jeglichen Widerstand zu brechen und die Arbeit der totalitären Staatsmaschine zu erleichtern, wurde es bald notwendig, die Zentralisierung energischer zu betreiben. Diese »Vorbereitungen« gehören allerdings noch dem vortyrannischen Stadium an. Immerhin ist die Zentralisierung am besten geeignet, die Einheitlichkeit und die Gleichmacherei zu fördern und die »prompte« Ausführung von Regierungsverordnungen durchzuführen. Dabei aber darf man nicht vergessen, daß der Zentralismus der ganzen christlichen Tradition mit ihrer libertären und personalistischen Einstellung zutiefst entgegengesetzt ist. Constantin Frantz, der bismarckfeindliche Ideologe des deutschen Föderalismus, erklärte schon im vorigen Jahrhundert, der Föderalismus sei »gar nichts anderes als die der Welt zugewandte Seite der christlichen Entwicklung«180.

Dieser Mann, dem der bloße Gedanke einer deutschen Hauptstadt untragbar war181, sah sich allerdings in seinen Hoffnungen auf einen deutschen Staatenbund enttäuscht; hätte doch dieser den universalen, christlichen und abendländischen Charakter des deutschen Raumes viel besser wahren können als das Zweite oder gar das Dritte Reich182.

Der Zentralisierungswahn muß jedoch auch vom wirtschaftlichen Standpunkt aus betrachtet werden. Henry Adams machte da folgende rhapsodisch-zynische Feststellung:

»All Civilisation is Centralisation

All Centralisation is Civilisation

Therefore all civilisation is the survival of the most economical (cheapest).

Under economical centralisation Asia is cheaper than Europe.

The world tends to economical centralisation.

Therefore Asia tends to survive, and Europe to perish.«183

Diese Auslegung ist jedoch nur dann sinnvoll, wenn wir Oswald Spenglers Deutung von Zivilisation im Gegensatz zur Kultur uns zu eigen machen. Was die rein verwaltungsmäßige Zentralisierung betrifft, so müssen wir uns vor Augen halten, daß sie in Westeuropa zwar schon unter Ludwig XIV. die ersten Ansätze zeigte184, jedoch erst unter den Jakobinern ihren großen Aufschwung erlebte185. Der Anarchist Bakunin erkannte dies deutlich und geißelte unerbittlich den fanatischen Zentralismus der Französischen Revolution, die mit ihren »liberalen« Vorwänden und Forderungen ihr wahres Gesicht zu verbergen suchte:

»Nous sommes donc convaincu que si, à deux reprises différentes, la France a perdu sa liberté et a vu sa république démocratique se transformer en dictature et en démocratie militaire, la faute n’en est pas au caractère de son peuple, mais à sa centralisation politique

Er betrauerte die Tatsache, daß die Französische Revolution, die doch zum ersten Male in der Geschichte die Freiheit des Staatsbürgers als auch die Freiheit des Einzelmenschen verkündet hatte, dann den monarchischen Staatsabsolutismus wiederbelebte:

»Reconstruite [d. h. la centralisation et l’omnipotence de l’État] de nouveau par la Constituante, combattue, il est vrai, mais avec peu de succès par la Convention Nationale, Robespierre et Saint-Just en furent les vrais restaurateurs: rien ne manqua à la nouvelle machine gouvernementale, pas même l’Être suprème avec le culte de l’État. Elle n’attendait plus qu’un habile machiniste pour montrer au monde étonné toutes les puissances d’oppression dont elle avait été munie par ses imprudents constructeurs… et Napoléon Ier se trouva.«186

Ein habile machiniste konnte die zentralistische Weimarer Republik oder den von Cavour, Mazzini und Garibaldi geeinten italienischen Staat übernehmen. Auch der höfischzentralistische Absolutismus der Holstein-Gottorps (Romanows) bot einem »geschickten Maschinisten« eine wunderbare Gelegenheit. Bakunin jedoch vergaß, daß der monarchische Absolutismus die Zentralisierung zur Erreichung größerer, praktischer Wirksamkeit angestrebt hatte, während der republikanische Zentralismus nach bewährtem demokratischem Muster obendrein noch von dem Uniformitäts- und Gleichheitswahn getragen wird. Georges Sorel wußte dies recht gut187; und Paul Bourget erkannte in der Neuen Welt, daß drüben ein organischer Zusammenhang zwischen der Freiheit und der die Rechte der Staaten und der Gemeinden betonenden föderalistischen Verfassung besteht; er hegte keinen Zweifel, daß die Vereinigten Staaten in dieser Beziehung Frankreich politisch-menschlich überlegen waren188.

Bezüglich seiner Befürchtungen für den Aufstieg bloßer Macht ohne Ethos oder Weisheit hatte Irving Babbitt189 einen Vorgänger in Jacob Burckhardt. Dieser jedoch, anders wie de Tocqueville, sah das Kommen der neuen Sklaverei auf Grund eines dialektischen Prozesses und nicht durch eine geradlinige Entwicklung. Das Ergebnis aber, erkannte Burckhardt, würde dasselbe sein:

»Das große Unheil ist im vorigen Jahrhundert angezettelt worden, hauptsächlich durch Rousseau mit seiner Lehre von der Güte der menschlichen Natur. Plebs und Gebildete destillieren hieraus die Doktrin eines goldenen Zeitalters, welches ganz unfehlbar kommen müßte, wenn man das edle Menschentum nur gewähren ließe. Die Folge war, wie jedes Kind weiß, die völlige Auflösung des Begriffes Autorität in den Köpfen der Sterblichen, worauf man freilich periodisch der bloßen Gewalt anheimfiel.«190

Diese »bloße Macht« muß nun von einem enormen Heer von Beamten ausgeübt werden (den »Ohren« in Donoso Cortés’ Prophezeiung). Zentralisierung und das Bestreben, das bürgerliche und private Leben bis ins einzelne zu überwachen, machen diese Herden von Bürokraten, wie wir sie heute nicht nur in der UdSSR sehen, zu einer unausweichlichen Notwendigkeit191. Es ist selbstverständlich, daß diese ordnenden Organe anfangs lästig wirkten192, jedoch im Leben der Menschen eine gewisse »Sicherheit« und Voraussagbarkeit schaffen, die für Leute von geringem Verstand und beschränkter Vitalität äußerst befriedigend sind193. Die bürokratische Laufbahn selbst erscheint dann höchst wünschenswert, und schließlich fühlen sich die besten Elemente des Landes von den öffentlichen Stellen magnetisch angezogen, mit dem Ergebnis, daß, wie J. S. Mill befürchtete, nur mittelmäßiges Menschenmaterial für die freien Berufe und die Privatunternehmen übrig bleibt194. Auf diese Art nimmt das »Gewicht« und das Ansehen des Staates ganz automatisch zu. Auch Herbert Spencer erkannte diese Gefahr nur zu deutlich195.

Selbst einem Positivisten wie Auguste Comte blieb es kein Geheimnis, daß die totalitäre, bürokratische Regierung ihren Ursprung in einer spirituellen Krise hat. Er schrieb:

»Dernière conséquence générale de la dissolution du pouvoir spirituel, l’établissement de cette sorte d’autocratie moderne qui n’a point d’analogie exacte dans l’histoire et qu’on peut désigner, à défaut d’expression plus juste, sous le nom du ministérialisme ou de despotisme administratif. Son caractère organique propre est la centralisation du pouvoir poussée de plus en plus au delà de toutes les bornes raisonnables. Son moyen général d’action est la corruption systematisée.«196

Dieser ganze, innerlich zusammenhängende Prozeß der Demokratisierung, Zentralisierung und Bürokratisierung wird durch einen wütenden Haß für Persönlichkeitswerte und Traditionen gekennzeichnet. Sein unorganischer Individualismus beschwört das Gespenst des Kollektivismus herauf. Wunderbar beschrieb Royer-Collard diese Krise in einer Rede vor der Kammer:

»Nous avons vu la vieille société périr, et avec elle cette foule d’institutions domestiques et des magistratures indépendantes qu’elle portait dans son sein, faisceaux puissants des droits privés, vraies républiques dans la monarchie. Ces institutions, ces magistratures ne partageaient pas, il est vrai, la souveraineté; mais elles lui opposaient partout des limites que l’honneur défendait avec opiniâtreté! Pas une a survécu, et nulle autre ne s’est élevé à leur place. La révolution n’a laissé debout que les individus. La dictature qui l’a terminée a consommé, sous ce rapport, son ouvrage…

…De la société en poussière est sortie la centralisation. La centralisation n’est pas arrivée, comme tant d’autres doctrines non moins pernicieuses, le front levé, avec l’autorité d’un principe; elle a pénétré modestement, comme une conséquence, une nécessité. En effet, là où il n’y a que des individus, toutes les affaires qui ne sont pas de leurs sont des affaires publiques, les affaires de l’État.

…C’est ainsi que nous sommes devenus un peuple d’administrés.«197

In einer rein revolutionären Periode ist die bürokratische Maschine allerdings noch schwach, und der Terror der aufständischen Gruppen ersetzt die »Polizei«. Die épurations der Jakobiner wurden später in den Parteireinigungsaktionen (tschistka) der russischen Kommunisten nachgeahmt. Doch bringt die Periode der Konsolidierung eine vollentwickelte Polizeimacht hervor198, ein ganzes Spionagenetz, das, wie schon Aristoteles sagte, dazu beiträgt, das Mißtrauen zwischen den Menschen aufrechtzuerhalten199. Die Hoffnung auf eine erfolgreiche Gegenrevolution ist somit in der fortschrittlichen, technisierten und daher leicht »verwundbaren« Gesellschaft drastisch veringert200.

Die methodische Unterdrückung aller Widerrede und Kritik durch die modernen Diktatoren entspringt ihrer Unsicherheit gegenüber der öffentlichen Meinung, was, wie ein zeitgenössischer Beobachter richtig feststellt, von einer zutiefst demokratischen Einstellung zeugt201. Die gesamte öffentliche Meinung wird »fabriziert« und strenge kontrolliert. Jacob Burckhardt machte sich von diesen terroristischen Aspekten der zukünftigen Pöbelführer eine sehr deutliche Vorstelllung, als er seinem Freund Friedrich von Preen schrieb:

»Mein Gedankenbild von den terribles simplificateurs, welche über unser altes Europa kommen werden, ist kein angenehmes; und hie und da in der Phantasie sehe ich solche Kerle schon leibhaftig vor mir und will sie Ihnen schildern, wenn wir im September bei einem Schoppen sitzen. Bisweilen erwäge ich schon im voraus, wie es zum Beispiel unserer Gelehrsamkeit und Quisquilienforschung ergehen möchte, wenn diese Dinge erst im Anfang sein werden und die Kultur einstweilen nur um eine Handbreit sinkt. Dann male ich mir auch etwa eine der Lichtseiten der großen Neuerung aus; wie über das ganze Strebertum der blasse Schrecken des Todes kommt, weil dann wieder einmal die wirklich bare Macht oben sein wird und das Maulhalten allgemeine consigne sein wird. Was ist nun aber für den jetzigen Augenblick das Dankbarste? Offenbar: die Leute so intensiv als möglich zu amüsieren.«202

Alle diese Schrecken wären gegenstandslos oder wenigstens gemindert, wenn der spiritus agens des kollektivistischen Begriffes eines »gemeinsamen Nenners« nicht bestünde, gleichgültig ob es sich hier um eine Klasse, eine Rasse, eine ethnische Nationalität oder eine Staatsbürgerschaft handelt. Die überspitzte Begeisterung für Sprache und Volkstum ist in den unteren Volksschichten besser vertreten als in den oberen203, und deshalb findet man das Überwuchern des ethnischen Nationalismus besonders in jenen Bewegungen des Proletariats und des unteren Mittelstandes, die sich auf den Common Man und seine Ideale berufen. Heute wenigstens ist die Propagandamär vom preußischen Junker als dem Vorkämpfer des Nationalismus in deutschen Landen nicht mehr so stark im Kurs wie früher204, und es wird mehr und mehr eingesehen, daß dessen Bestrebungen eher dynastisch-partikularistisch als alldeutsch waren. Die junkerische »Kreuzzeitung« hatte wiederholt gegen Bismarck Sturm geblasen. Der doppelte Sinn des Wortes Volk in der deutschen Sprache (d. h. ethnische Nation sowohl als auch untere Klassen) hat eine tiefere Bedeutung und entspricht vollkommen dem slawischen Narod. Der eroberungssüchtige Nationalismus der französischen Jakobiner ist zu gut bekannt, um weiterer Erklärungen zu bedürfen205.

Franz Grillparzer schrieb voll Vorahnungen schon im Jahre 1849:

»Der Weg der neuen Bildung geht

Von Humanität

Durch Nationalität

Zur Bestialität.«

Dieser größte österreichische Dramatiker berührte dieses Thema noch einmal im Jahre 1859, als er folgenden lakonischen Bericht über die Zustände in Frankreich gab:

»Legitimität

Autorität

Nationalität

Absurdität

Servilität

Bestialität.«

Auch der evangelische Alexandre Vinet sah diese Abgleitungsmöglichkeiten, als er im Jahre 1840 über den Sturm der Radikalen gegen die Klöster im Aargau schrieb:

»Ils aboliraient bien d’autre chose, si cela dépendait d’eux: mais on ne peut pas faire tout à la fois. Ils commencent par les couvents et par le catholicisme; ils ne nous ont pas dit par où ils comptent finir.«206

Nicht viel später beschuldigte Konstantin Leontjew Napoleon III. einer ganzen Reihe von Verbrechen gegen die kulturellen und politischen Grundlagen Europas, Vergehen, die von seinem linksgerichteten Nationalismus inspiriert waren207. Leontjew befürchtete auch ein allgemeines Vertrocknen der kulturellen Quellen durch die »uniformistischen« Kräfte des Zeitalters, besonders aber durch den Nationalismus, Kräfte, die alle Ursprünglichkeit und Eigentümlichkeit auszurotten drohten208. Über die panslawische Stammespolitik, die Plemënnaja politika, bemerkte er beißend:

»Es ist klar, daß die Politik der Stämme, die zumeist als ›national‹ bezeichnet wird, nichts anderes ist als das blinde Instrument der Weltrevolution, die wir Russen, zu unserem Unglück, seit 1861 unterstützt haben.«209

Es ist nur zu natürlich, daß Leontjew den Panslawismus völlig verwarf210 – als ob er die verhängnisvollen Entwicklungen von Sarajewo bis zum Roten Oktober vorausgeahnt hätte. Er sah aber noch weiter, denn er wußte, daß Nationalismus und Internationalismus sich nur graduell und nicht wesenhaft voneinander unterscheiden211, indem sie ja nur verschieden große Gebiete für die von ihnen angestrebte Uniformität in Anspruch nahmen; er betonte lebhaft, daß beide Phänomene im Grunde demokratisch, revolutionär, antipersonalistisch, antitraditionell und antichristlich seien212.

Am entgegengesetzten Ende Europas kam Sir Henry Maine zu ähnlichen Schlüssen und stellte fest, daß »the democracies are paralyzed by the plea for nationality«213. In seiner Furcht vor den endgültigen Auswirkungen des Nationalismus auf die Demokratie muß er wohl das Kommen eines Woodrow Wilson und das mitteleuropäische Chaos von 1919 vorausgeahnt haben. Auch die biologisch-rassischen Möglichkeiten des Nationalismus blieben ihm nicht verborgen214. William Lecky teilte diese Befürchtungen215. In unserem Jahrhundert sind die engen Beziehungen zwischen Demokratie, Sozialismus und Nationalismus zu Gemeinplätzen geworden216.

Obwohl Ernest Renan einmal geschrieben hatte, daß die »semitische Rasse« im Vergleich zur indogermanischen Rasse minderwertig sei217, so hatte er dennoch keine Geduld mit den Ansprüchen deutscher Nationalisten, die schon frühzeitig von Rassentheorien beeinflußt waren. Die Einstellung des Verfassers von La vie de Jésus findet deutlichen Ausdruck in seinem zweiten Brief an David Strauß, in dem er bezüglich der deutschen Ansprüche auf Elsaß-Lothringen folgendes schrieb:

»Notre politique c’est la politique du droit des nations; la vôtre, c’est la politique des races; nous croyons que la nôtre vaut mieux. La division trop accussée de l’humanité en races, outre qu’elle repose sur un erreur scientifique, tréspeu de pays possédant une race vraiment pure, ne peut mener qu’à des guerres d’extermination, à des guerres ›zoologiques‹, permettez moi de le dire, analogue à celles que les divers espèces de rongeurs ou de carnassiers se livrent pour la vie. Ce serait la fin de ce mélange fécond, composé d’éléments nombreux et tout nécessaires, qui s’appelle humanité. Vous avez levé dans le monde le drapeau de la politique ethnographique et archéologique en place de la politique libérale; cette politique vous sera fatale. La philologie comparée, que vous avez créée et que vous avez transportée à tort sur le terrain de la politique vous jouera de mauvais tours. Les Slaves s’y passionnent…«218

Er betonte die neue Vitalität des Panslawismus und prophezeite, daß die kleineren slawischen Völker sich Moskau anschließen würden. Gestärkt durch die menschlichen Energiequellen Mittelasiens würde Rußland schließlich Europa überrennen219. Die territorialen Ansprüche der östlichen Nachbarn der Deutschen würden sich dann auf ähnliche Beweisführungen stützen wie die Preußens in bezug auf Elsaß-Lothringen:

»Défiez-vous donc de l’ethnographie, ou plutôt ne l’appliquez pas trop à la politique. Sous prétexte d’une étymologie germanique, vous prenez pour la Prusse tel village de Lorraine. Les noms de Vienne (Vindobona), de Worms (Borbetomagus), de Mayence (Moguntiacum) sont gaulois, mais nous ne vous réclamerons jamais ces villes; mais, si un jour les Slaves viennent revendiquer la Prusse proprement dite, la Poméranie, la Silésie, Berlin, pour la raison que tous ces noms sont slaves, s’ils font sur l’Elbe et sur 1’Oder ce que vous avez fait sur la Moselle, s’ils pointent sur la carte les villages obotrites ou vélatabes, qu’aurez vous à dire? Nation n’est pas synonyme de la race.«220

Obwohl er selbst kein geringer Prophet war, so belächelte Jacques Bainville dennoch diese Prophezeiungen Renans, die sich nach 1945 erfüllten…221 desselben Renan, der die Fähigkeit der französischen, demokratischen Republik, einem neuen deutschen Angriff erfolgreich Widerstand zu leisten, in den schwärzesten Farben sah222.

Es lag in der Natur der Dinge, daß der Volksnationalismus das Wachstum eines biologisch eingestellten Rassenwahns begünstigte, einer für Europa völlig neuen Idee, die aber von der oft mißverstandenen Theorie Darwins stark beeinflußt war. Graf Gobineau predigte als erster diese Lehre in einer mehr zusammenhängenden Form, doch erfaßte de Tocqueville sofort die damit verbundenen Gefahren. Gobineaus These erfüllte diesen katholischen Liberalen mit Sorge und düsteren Vorahnungen; in einem Brief an Gobineau schrieb er, daß dessen rassische Prädestinationslehre spirituell mit der Theologie des heiligen Augustinus223, Jansens und Calvins zusammenhänge. Und dann fügte er hinzu:

»Cette prédestination-là me paraît, je vous l’avouerai, cousine du pure matérialisme, et soyez convaincu que si la foule, qui suit toujours les grands chemins battus en fait de raisonnement, admettait votre doctrine, cela la conduirait tout droit de la race à l’individu, et des facultés sociales à toutes sortes des facultés… les deux théories aboutissent à un très grand resserrement, sinon à une abolition complète de la liberté humaine. Or, je vous confesse, qu’aprés vous avoir lu, aussi bien qu’avant, je reste placé à l’extrémité opposée de ces doctrines. Je les crois trés vraisemblablement fausses et trés certainement pernicieuses.«224

Ein Jahrhundert früher gab Montesquieu, ein sehr zweifelhafter Liberaler, seinem Erstaunen darüber Ausdruck, daß Gott eine Seele, und zwar eine gute Seele, in den schwarzen Körper eines Negers pflanzen könnte. Wenn die Afrikaner wirklich Menschen sein sollen, so müssen wir daran zweifeln, daß wir selbst »Christen« sind225. Als der Darwinismus Europa im 19. Jahrhundert wie ein Lauffeuer überrannte, nahmen alle antireligiösen Gruppen diese biologische Hypothese mit einer Reihe rascher Schlußfolgerungen voll Eifer auf226. Zu diesen gehörten auch die Sozialisten. Émile Zola, der die inneren Gefahren dieser Bestrebungen wohl erkannt hatte, schrieb über einen seiner Romanhelden in Germinal:

»Étienne, maintenant, en était chez Darwin. Il en avait lu des fragments, résumés et vulgarisés, dans une volume de cinq sous; et, de cette lecture mal comprise, il se faisait une idée révolutionnaire du combat pour l’existence, les maigres mangeant les gras, le peuple fort dévorant la blême bourgeoisie. Mais Souvarine s’emporta, se répandit sur la bêtise des socialistes qui acceptent Darwin, cet apôtre de l’inégalité scientifique, dont la fameuse sélection n’était bonne que pour les philosophes aristocrates.«227

Man übersah jedoch damals die Möglichkeit einer »Demokratisierung« oder Kollektivisierung des Begriffes rassischer Überlegenheit; man konnte es sich wahrscheinlich kaum vorstellen, daß durch eine geschickte Propaganda Millionen, ja ganze Nationen und erdrückende Mehrheiten zu einem pseudo-aristokratischen Status erhoben werden würden. Trotz Gobineaus unmittelbarer Vaterschaft an dieser Theorie, die sich ursprünglich in erster Linie an den Geburtsadel gerichtet hatte, bekam mit der Zeit das Übel, das aus dem rassischen Überlegenheitsbegriff erwuchs, eine unheilvolle universale Bedeutung. Es rief einen starken Widerhall auf beiden Seiten des Atlantischen Ozeans hervor – im Zweiten Reich nicht weniger als in den Vereinigten Staaten228, in denen rassische »Minderwertigkeiten« durch Bibelzitate schon früher »erklärt« wurden. Es ist auch bezeichnend, daß die Rassentheoretiker fast ausnahmslos die nordische Rasse an die Spitze der biologischen Entwicklung des Menschengeschlechtes stellten.

Andererseits aber gab es auch konservative Denker, die das rassische Element nicht beiseite schoben. Benjamin Disraëli interessierte sich für dieses Problem, wie man aus verschiedenen Bemerkungen des Barons Sergius in seinem Roman »Endymion« ersehen kann. Es scheint tatsächlich, daß dieser englische Premierminister jüdischer Abstammung rassische Eigenschaften – im eugenischen vielleicht mehr als im anthropologischen Sinn – als grundlegenden Faktor der Weltgeschichte betrachtete, der sich besonders nach einem Zusammenbruch aller höheren Kulturen (auch nach einem Atomkrieg?) bemerkbar machen würde. Er schrieb:

»If it be true… that an aristocracy distinguished merely by wealth must perish from satiety, so I hold it equall true that a people, who recognizes no higher aim than physical enjoyment, must be come selfish and enervated. Under such circumstances the supremacy of race, which is the key of history, will assert itself. Some human progeny, distinguished by their bodily vigour or their masculine intelligence… will assert their superiority and conquer a world which deserves to be enslaved. It will then be found that our boasted progress has only been an advancement in a circle, and that our new philosophy has brought us back to that old serfdom which it has taken ages to extirpate.«229

Der Rassenwahn sowohl als auch der Volksnationalismus sind, wie wir vorhin feststellten, eher Krankheitserscheinungen der demokratischen Massen230 als der oberen Klassen oder sogar des Grenzen so leicht überschreitenden Adels. In der früheren amerikanischen Gesellschaft mit ihrem ausgesprochen aristokratischen Charakter war der Judenhaß fast unbekannt231. Als die Nationalsozialisten in Ungarn zur Macht kamen, fanden sie für ihre Judenverfolgungen weder beim Adel noch bei den Bauern eine wirkliche Unterstützung, während der Mittelstand weniger standhaft war232. In den Vereinigten Staaten und besonders im Süden dieses Landes fürchten sich die Neger am wenigsten vor den oberen Klassen233. Es scheint auch der Völkerhaß tatsächlich bürgerlichen Ursprungs zu sein234, und dasselbe kann wohl auch von der Demokratie, dem Sozialismus, dem sectarian liberalism und allen anderen »fortschrittlichen« Ideen des 19. Jahrhunderts behauptet werden.

Jedoch muß man zugeben, daß in historischer Perspektive trotz der blutrünstigen Ausschweifungen des Rassenwahnes im Zweiten Weltkrieg das Unheil, das der Volksnationalismus anstiftete, als größer und schwerer erscheint. Als echter Sohn der Französischen Revolution befahl schon Napoleon der Presse, einen ganzen Feldzug für den Kollektivhaß gegen England zu unternehmen; die Umgangsformen, die Literatur, die Sitten und die Verfassung des Inselreiches sollten angegriffen werden235. Und es war wiederum Napoleon, der den widerlichen Begriff des »feindlichen Ausländers« einführte; von diesem Volksdiktator wurden erstmalig Internierungen angeordnet, wobei nicht weniger als 12000 britische Untertanen in Gewahrsam genommen wurden236. Derartige Maßnahmen waren vor der Französischen Revolution unbekannt. Nicht lange vorher ist noch Lawrence Sterne vom Hofe in Versailles gefeiert worden, während englische und französische Soldaten sich auf den Schlachtfeldern Nordamerikas bekämpften.

Der Nationalismus war stets eng mit dem modernen Militarismus verbunden, der selbst wieder starke totalitäre, demokratische und kollektivistische Einschläge hat. Der Grundsatz der Französischen Revolution, daß alle Menschen gleiche Rechte und daher auch gleiche Pflichten haben, führte zur allgemeinen Wehrpflicht und bereitete so die totale Kriegsführung vor – Marschall Fochs guerres aux allures déchaînées. Schon früher hatte James Bryce gewarnt, daß die nationalen und wirtschaftlichen Gegensätze der Demokratien den Frieden womöglich noch mehr bedrohen als die dynastischen Interessen der Fürsten237. Der von so vielen Demokraten des 19. und 20. Jahrhunderts, besonders von amerikanischen Wilson-Enthusiasten zur Schau getragene Optimismus mußte notgedrungen bitter enttäuscht werden238. Selbst Georges Sorel war sich völlig im klaren darüber, daß aristokratische Oligarchien die geringste Begeisterung für langdauernde, totale Kriege hätten239, und Anatole France, den niemand einen Reaktionären schelten darf, verurteilte mit den härtesten Worten die Art der demokratischen Kriegsführung, die stets bedingungslose Unterwerfung und den Kampf bis zum bitteren Ende sich zum Ziel setzt240. Jacob Burckhardt fügte zynisch hinzu, daß das Bestreben der Männer, in den Augen der Weiber mutig zu erscheinen, ebenfalls zur ungeheuren Barbarei der kollektiven und totalen Kriegführung beitrüge241. Und Hermann Melville sah schon vor seinem geistigen Auge die Demokratie das »weite Schloß der Welt« in Trümmer legen:

»Behold her whom the panders crown,

Harlot on horseback riding down

The very Ephesians who acclaim

This great Diana of ill fame!

Arch-strumpet of an impious age,

Upstart from ranker villainage,

’Tis well she must restriction taste,

Nor lay the world’s broad manor waste.«242

Doch war es Taine vorbehalten, der wie José Ortega y Gasset im Soldaten einen »bewaffneten Bourgeois« und nicht einen Krieger erblickte243, das farbigste Bild der Zukunftsschrecken zu entwerfen. Die kriegerischen Möglichkeiten des 20. Jahrhunderts verursachten ihm alpdruckhaftes Grauen. Er stellte ganz richtig fest, daß die Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht in einem contrat social zu suchen sei, der dem Volke dieselbe Souveränität gibt, die früher nur seinem königlichen Herrn zugestanden ist244, und daher im kollektiven Sinn en masse »Oberster Kriegsherr« wird. Er schrieb über den Bürger in der Demokratie:

»Dorénavant, s’il naît électeur, il naît conscrit, il a contracté une obligation d’espèce nouvelle et de porté indéfinie: l’État, qui auparavant n’avait de créance que sur ses biens, en a maintenant sur ses membres. Or jamais un créancier ne laisse chômer ses créances, et l’État trouve toujours de raisons ou des prétextes pour faire valoir les siennes…

…de guerre en guerre, l’institution s’est aggravée; comme une contagion, elle s’est propagée d’État en État: à présent elle a gagné tout l’Europe continentale, et elle y règne avec son compagnon naturel qui toujours la précède ou la suit, avec son frère jumeau, avec le suffrage universel… tous les deux conducteurs ou régulateurs aveugles et formidables de l’histoire future, l’un mettant dans les mains de chaque adulte un bulletin de vote, l’autre mettant sur le dos de chaque adulte un sac de soldat; avec quelles promesses de massacres et des défiances internationales, avec quelle déperdition du travail humain, par quelle perversion des découvertes productives, par quelle perfectionnement des applications destructives, par quel recul vers les formes inférieures et malsaines des vieilles sociétés militantes, par quel pas rétrograde vers les instincts égoistes et brutaux, vers les sentiments, les mœurs et la morale de la cité antique et de la tribu barbare, nous le savons et de reste.«245

Es ist aber auch offensichtlich, daß der demokratische Militarismus in seiner Dialektik den Keim des demokratischen Selbstmordes trägt. Es ist allein schon bezeichnend, daß man seit geraumer Zeit überall ein wachsendes Widerstreben der Berufsmilitaristen sowie der verschiedenen Ministerialbeamten (besonders in der Verwaltung auswärtiger Angelegenheiten), ihre Unabhängigkeit und Geheimhaltungsmethoden aufzugeben, feststellen kann. Sie sind nicht gewillt, parlamentarischen Mehrheiten oder deren Vertretungen Einblicke in ihr wichtiges und heikles Arbeitsfeld zu gewähren und sich ihren Anordnungen zu unterwerfen. J. Holland Rose hat auf diesen wunden Punkt der Demokratie sehr geschickt angespielt246. Die andere Gefahr ist der Bonapartismus, der bekanntlich mit der Formaldemokratie sehr wohl vereinbar ist247. Schon vor anderthalb Jahrhunderten rief John Adams aus: »Napoleon and all his generals were but creatures of democracy.«248 Burke zeigte noch größere Scharfsicht in seiner Prophezeiung wenige Jahre vor dem Aufstieg Napoleons, als er an die Franzosen schrieb:

2 935,06 ₽
Возрастное ограничение:
0+
Объем:
611 стр. 2 иллюстрации
ISBN:
9783990810446
Издатель:
Правообладатель:
Bookwire
Формат скачивания:
Аудио
Средний рейтинг 4,2 на основе 361 оценок
Черновик
Средний рейтинг 5 на основе 132 оценок
Аудио
Средний рейтинг 4,6 на основе 682 оценок
Текст, доступен аудиоформат
Средний рейтинг 4,3 на основе 485 оценок
По подписке
Текст, доступен аудиоформат
Средний рейтинг 5 на основе 434 оценок
Аудио
Средний рейтинг 4,7 на основе 1819 оценок
Текст, доступен аудиоформат
Средний рейтинг 4,3 на основе 985 оценок
Аудио
Средний рейтинг 5 на основе 426 оценок
18+
Текст
Средний рейтинг 4,8 на основе 775 оценок
Текст
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок
Текст
Средний рейтинг 0 на основе 0 оценок