Der gläserne Vogel

Текст
Автор:
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

Gina meinte: „Wahrscheinlich war ein anderer Junge in dem Wald und hat nach uns geworfen, und Joker hat zufällig ein Eichhörnchen gesehen. Und dass dieser Hieronymus nicht ganz dicht war, ist doch jedem klar gewesen, oder? Gänseblümchen als Killerblumen! So ein Quatsch!“

„Ich fand es beruhigend, dass die Ortschaft irgendwo in unserer Nähe sein muss. Der Name kam mir irgendwie bekannt vor“, sagte Phil.

Sie verabredeten sich für den nächsten Nachmittag bei Gina, und Joker meinte, es sei gut, eine Nacht darüber zu schlafen.

Und so gingen Ginas Wünsche tatsächlich in Erfüllung. Sie duschte, ging früh ins Bett und fiel in einen tiefen Schlaf.

Nur ihr letzter Wunsch, nie mehr den zeitlosen Wald zu besuchen, ging nicht in Erfüllung.



„So, dann gib mal die Karte her“, sagte Phil.

Er lag mit dem Rücken auf Ginas Couch und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

„Du führst dich auf, als ob du hier der Chef wärst“, giftete Gina zurück.

„Meine Güte, bist du empfindlich!“, brummte Phil und rappelte sich auf. „Sind alle Italienerinnen so?“

„Das hat damit gar nichts zu tun. Es kommt auf den Ton an. Ich bin schließlich nicht deine Sklavin.“ Sie öffnete die Tür und ging hinaus.

„Mamma mia!“, murmelte Phil.

„Komisch“, ließ sich Joker hören, der vor dem Tisch saß, schon längst die Karte studierte und auf das kurze Wortgefecht gar nicht geachtet hatte. „Es gibt hier in der Gegend eine Ortschaft, die Grabstetten heißt, aber ich meine, auf dem Ortsschild gestern stand Garbstetten.“

Phil, der aufgestanden war und sich auch über die Karte beugte, nickte. „Ja, ich bin ziemlich sicher, dass ich auch Garbstetten gelesen habe. Na, vielleicht ein Druckfehler, aber wie auch immer, das sind ungefähr fünfzehn Kilometer, die könnten wir mit unseren Rädern locker hin und zurück fahren. Und dann sehen wir ja, ob das die Ortschaft ist oder nicht.“

Die Tür ging auf, und Gina erschien mit einem Tablett, auf dem drei Gläser mit Cola und eine Schale mit Nüssen standen.

Sie stellte das Tablett ab und reichte Joker demonstrativ als erstes ein Glas.

„Danke.“

Phil, der das Manöver verfolgt hatte, griff zum nächsten Glas und überreichte es Gina mit einer kleinen Verbeugung: „Signorina?“

Unwillkürlich musste Gina lächeln und nahm die Cola in Empfang. Und wenn Gina lächelte, wurde es gleich viel heller im Raum.

„Grazie.“

Joker tippte sich wortlos an die Stirn.

„Also, dann fahren wir gleich mal hin“, schlug er vor.

„Wo fahren wir hin?“, fragte Gina.

„Wir haben diese Ortschaft von gestern gefunden, aber sie heißt nicht Garbstetten, sondern Grabstetten.“

„Klar, Grabstetten kenne ich. Das liegt doch hier in der Nähe. Ich hab mich gestern schon gewundert über den Schreibfehler. Und das auf einem Ortsschild!“

„Na ja“, meinte Joker, „vielleicht ist es ja gar nicht der Ort, wo wir gestern waren, vielleicht gibt es ja Garbstetten und Grabstetten.“

„Hm“, sagte Phil, „das können wir doch im Inhaltsverzeichnis nachprüfen.“ Er wandte sich an Gina: „Hast du zufällig einen Atlas im Haus? Und wenn ja, hättest du die Güte, ihn mir zu geben?“

„Siehst du, du kannst höflich sein, wenn du willst! Natürlich habe ich einen Atlas hier: den Schulatlas.“

Sie ging zu dem einzigen Regal in ihrem Zimmer und zog ein dickes gebundenes Buch heraus.

Phil nahm es in die Hand, legte es auf den Tisch und suchte im Inhaltsverzeichnis. „Hm. Hier gibt es kein Garbstetten.“

Joker zuckte mit den Schultern. „Dann ist es vielleicht zu klein. Los, wir werfen uns noch ein paar Nüsse in den Rachen und radeln los.“

Und das taten sie dann. Draußen herrschte ein herrliches Frühlingswetter. Ideal zum Radfahren. Phils und Jokers Räder standen schon draußen, und Gina holte ihres aus dem Keller. Dann fuhren sie los. Phil vorneweg und Gina und Joker nebeneinander.

„Warum hat eigentlich Phil vorhin so süßlich gesprochen?“, fragte Joker.

„Ach, manchmal vergreift er sich im Ton, wird rüpelhaft, und ich habe ihm klargemacht, dass ich nicht seine Sklavin bin.“

„Und wie ich dich kenne, hast du es sehr überzeugend gemacht.“

„Sicher. Aber … du warst doch im selben Raum.“

Joker blickte beim Fahren etwas betreten zur Seite. „Hab ich nicht mitbekommen, ehrlich.“

Gina schüttelte den Kopf: „Typisch Jungs.“

Sie fuhren von der Bundesstraße herunter und nahmen eine Abkürzung über einen stabilen Feldweg, der als Radweg ausgeschildert war.

Nach zwanzig Minuten, kurz vor der nächsten Ortschaft, stieß der Radweg wieder auf die Bundesstraße.

Da im Augenblick kein Auto unterwegs war, fuhren sie zu dritt nebeneinander.

„Kommt euch die Straße bekannt vor?“, fragte Phil.

Joker schüttelte den Kopf. „Nee, mir nicht.“

„Mir auch nicht“, sagte Gina.

Ein paar Minuten später erreichten sie das Ortsschild, auf dem Grabstetten stand. Schweigend fuhren sie durch den kleinen Ort. Ein Hund bellte, und ein Traktor kam aus einer Seitenstraße.

Groß war Grabstetten nicht.

„Wir fahren durch und schauen uns die Ortschaft von der anderen Seite an“, schlug Phil vor. „Vielleicht sind wir gestern von dort gekommen.“

„Den Gedanken hatte ich eben auch“, sagte Joker.

Als sie das Ortsschild auf der anderen Seite passiert hatten und nun zurückblickten, pfiff Joker durch die Zähne.

„Diesmal kommt mir die Strecke bekannt vor.“

„Mir auch“, sagte Gina und deutete auf einen Punkt in der Nähe des Ortsschilds. „Hier ungefähr sind wir gestern aus dem alten Mercedes ausgestiegen.“

„Komisch.“ Phil schüttelte den Kopf. „Ich hätte wirklich schwören können, dass gestern auf diesem Schild Garbstetten gestanden hat. Und es war doch viel heißer. Da sieht man mal, wie man sich täuschen kann.“

„Ja, aber mir geht es genauso und …“

Sie zuckten zusammen, weil hinter ihnen ein Auto hupte.

Hastig schoben sie die Räder an die Seite.

„Gut, dann fahren wir jetzt also weiter bis zu diesem großen Stein von gestern“, sagte Phil.

„Also, ich weiß auch nicht“, sagte Gina zu Phil. „Alles, was du sagst, hört sich wie ein Befehl an.“

Phil verdrehte seine Augen nach oben und stieg auf sein Rad.

Joker lächelte. „Heute bist du aber besonders kratzig zu dem armen Phil. Ich glaube, dass er das gar nicht so meint.“

„Natürlich meint er es nicht so, aber so kommt es bei mir an. Außerdem bin ich heute irgendwie … nervös. Diese seltsame Geschichte von gestern sitzt mir noch in den Knochen.“

Langsam radelten sie weiter. Der Stein war unübersehbar. Es bestand kein Zweifel: Sie waren gestern hier gewesen. Bei dem Stein führte auch ein schmaler Weg in den Wald.

„In meiner Erinnerung war der Stein kleiner“, sagte Joker und kratzte sich am Kopf.

„Was hast du gesagt?“, fragte Phil.

„In meiner Erinnerung war der Stein kleiner.“

Phil blieb davor stehen. „Jetzt, wo du es sagst, fällt es mir auch auf. Aber das kann eigentlich nicht sein.“

„Schieben wir einfach die Räder weiter“, schlug Joker vor. „Unsere Sinne sind vielleicht etwas durcheinander, oder was meinst du, Gina? War der Stein gestern kleiner oder größer?“

„Ich finde, er sah ungefähr so aus wie gestern.“

„Na gut.“

Schweigend schoben sie die Räder durch den Wald, der jetzt im Frühling die braunen Blätter vom Herbst mit einem Teppich aus saftigem Grün und weißen Blüten überdeckte.

Sie kamen schließlich zu dem abgebrochenen Baum, tratenauf die Lichtung und erwarteten die glasartige Kugel zu sehen. Aber sie war nicht da. Sie suchten jeden Quadratmeter ab. Nichts.

„Nichts, nichts, nichts“, sagte Phil. „Inzwischen kommt es mir so vor, als ob wir alles nur geträumt haben.“

Joker stand da, nagte an der Unterlippe und schwieg.

„Also Jungs“, begann Gina. „Ich geb es zu: Alles leicht merkwürdig. Wie wäre es, wenn wir zurückradeln, unsere Schonung aufsuchen und nachschauen, ob die Kugel dort ist?“

„Ja, aber wenn sie nicht hier ist, wieso soll sie dann dort sein?“, fragte Phil.

„Keine Ahnung“, meinte Gina. „Ist nur so ein Vorschlag.“

„Gina hat recht“, sagte Joker. „Ich will jetzt auch wissen, ob das Ding von gestern noch an Ort und Stelle ist, wenn wir von zu Hause da hinfahren.“

Da auch Phil einverstanden war, schoben sie die Räder durch den Wald, kamen bei der Bundesstraße an und radelten mehr oder weniger schweigsam zurück. Aber sie hielten nicht zu Hause an, sondern fuhren weiter, bis sie vor der Schonung standen. Kurz entschlossen versteckten sie die Räder so, dass sie vom Weg aus nicht gesehen wurden, stiegen über den Zaun, gingen, so schnell das Dickicht es erlaubte, weiter und fanden die Kugel an Ort und Stelle.

„Sie ist da!“, sagten sie alle drei verwundert und starrten das seltsame Ding an.

„Verdammt, ich will es jetzt wissen!“, knurrte Phil und stürzte sich in die Kugel, die anderen beiden folgten ihm.

Sie kamen wie tags zuvor auf der Lichtung an. Diesmal schien die Sonne nicht, sondern der Himmel hatte sich mit Wolken bezogen.

Ohne sich groß zu verständigen, rannten sie durch den Wald, kamen auf die Bundesstraße, hetzten so lange weiter, bis sie das Ortsschild erreichten und blieben dann davor stehen.

 

Auf dem Ortsschild stand groß und breit: Garbstetten.

„Das gibt’s doch nicht!“, rief Phil und stampfte mit dem Fuß auf. „Sind wir denn alle blöd? Will uns hier jemand verarschen?“

„Gehn wir wieder zurück“, sagte Gina leise und drehte um. Die beiden Jungen schlossen sich ihr an.

Sie wurden zwar von Autos überholt, aber diesmal hielt keiner an. Als sie den Wald erreichten, fing es an zu regnen. Schnell liefen sie zu der Lichtung, ließen sich in die Kugel gleiten und trotteten zu ihren Rädern.

Merkwürdigerweise schien die Sonne wieder.

Sie blieben bei ihren Rädern stehen, und Phil sagte: „Also, ich fasse zusammen: Einmal heißt das Kaff Garbstetten, dann wieder Grabstetten. Einmal ist die Kugel auf der Lichtung, dann wieder nicht …“

„Einmal regnet es, dann wieder nicht …“, fuhr Joker fort.

„Einmal ist es Frühling, dann ist es Sommer“, sagte Gina.

„Hm“, meinte Phil und richtete sich auf. „Vielleicht ist das die Lösung. Die Kugel transportiert uns in die nahe Zukunft. Das würde bedeuten, dass der Ort Grabstetten vielleicht in den nächsten Jahren seinen Namen ändern wird in Garbstetten. Das würde vieles erklären, auch das unterschiedliche Wetter …“

„Eine Namensänderung ohne viel Sinn“, murmelte Joker und fuhr fort: „Wenn ein Ort zum Beispiel Klosett heißt, dann würde ich es verstehen, wenn man dafür den Namen … Klopphausen nehmen würde.“

Gina lachte: „Klopphausen, die Stadt der Bekloppten.“

„War doch nur ein Beispiel. Meinetwegen, der Ort heißt Arschingen, und man ändert ihn zu Arlingen. Das würde doch Sinn machen, aber Grabstetten in Garbstetten, wo liegt da der Vorteil?“

„Vielleicht wenn es … geschichtliche Gründe gibt“, überlegte Phil.

„Wie meinst du das?“

„Vielleicht haben die Forscher herausgefunden, dass der Name nicht von Graben kommt, sondern von dem Wort Garben.“

„Garben? Das Wort kenn ich nicht“, sagte Gina.

„Garben, das sind so … so Bündel. Früher hatte man den Weizen in Garben gebunden.“

„Ach so.“

Phil gähnte. „Wie auch immer. Ich muss jetzt nach Hause, morgen schreiben wir eine Englischarbeit.“

„Okay“, sagte Joker. „Morgen um vier bei mir?“

„Halb sechs wäre besser“, sagte Gina. „Ich hab vorher noch Klavierunterricht.“

„Gut. Halb sechs ist mir auch lieber. Phil?“

„Halb sechs ist gebongt.“

Sie radelten aus dem Wald und trennten sich bei der nächsten Kreuzung.

Phil fuhr auffallend langsam. Als Gina und Joker abgebogen waren, drehte er um und trat heftig in die Pedale. Bald war er wieder bei der Schonung angekommen.

Er wartete, bis zwei Spaziergänger vorbeigegangen waren, blickte unauffällig nach allen Seiten und hob sein Rad über den Zaun der Schonung, dann schob er es, so gut es ging, durch die eng stehenden kleinen Tannen, bis er bei der Kugel angekommen war.

Kurz entschlossen packte er sein Rad und ließ es in die Kugel gleiten, bis es darin verschwunden war. Dann stürzte er sich selbst durch das Kugel-Tor.

Auf der anderen Seite fand er, wie er es vermutet hatte, sein Fahrrad, das neben ihm auf dem Boden lag. Er hob es auf, untersuchte es kurz, nickte dann, stieg auf und fuhr durch den Wald bis zu dem großen Stein an der Bundesstraße.

Zwei, drei Autos kamen vorbei. Phil wartete sie ab und radelte den schon bekannten Weg, Richtung Dorf.

Er las auf dem Ortsschild Garbstetten und fuhr in das Dorf hinein.

Nach ein paar Metern stieg er aus und schob das Rad vor sich her, während er sich nach allen Seiten umsah. Schließlich lächelte er, als er eine kleine Bäckerei entdeckte, die geöffnet war.

Zwei Frauen standen vor der Theke und unterhielten sich mit der Verkäuferin. Sie traten zurück, um Phil vorzulassen.

„Guten Tag“, sagte Phil, „ich hätte gerne zwei Brötchen.“

„Welche Sorte?“

„Ein Rosinenbrötchen und ein Roggenbrötchen.“

Die Frau packte das Ganze in eine Tüte und Phil bezahlte.

Er drehte sich um, ging zur Tür und blieb dann stehen, als ob ihm etwas eingefallen wäre.

„Ach, entschuldigen Sie“, sagte er.

„Ja? Hast du was vergessen?“

„Nein, nein. Wissen Sie, ich mache gerade eine Fahrradtour und hab mich vorhin gefragt, ob der Name von dem Ort schon immer Garbstetten hieß.“

Die beiden Kundinnen blickten sich erstaunt an, und die Verkäuferin sagte: „Natürlich. So heißt der Ort schon Jahrhunderte lang. Ich glaube, früher war hier mal ein Platz, wo Garben aus der Gegend gesammelt wurden. Aber genau weiß ich das nicht. Wie sollte der Ort denn sonst geheißen haben?“

„Ach, dann habe ich wahrscheinlich auf der Karte nicht genau hingeschaut und habe Grabstetten gelesen.“

„Nein, nein“, mischte sich jetzt eine der Kundinnen ein. „Grabstetten gibt es hier nicht. Hört sich ein bisschen nach Friedhof an.“

„Na ja“, sagte Phil, „war nur eine Frage, also Tschüss.“


Während Phil den Laden verließ, hörte er noch, wie eine der Frauen sagte: „Grabstetten. Komischer Name. Übrigens, Vera, ich habe ein neues Mittel gegen Gänseblümchen entdeckt, das …“

Phil runzelte die Stirn und ging zu seinem Fahrrad. Er nahm das Rosinenbrötchen heraus und aß es im Stehen.

Dann stieg er auf das Rad und fuhr nachdenklich zurück.

Als er durch die Kugel wieder auf der Schonung angekommen war und unbemerkt sein Rad über den Zaun gehoben hatte, nahm er nicht den Weg nach Hause, sondern steuerte auf die Stadtbücherei zu.


Am nächsten Tag regnete es, und Gina und Phil kamen fast gleichzeitig zu Fuß bei Joker an.

Ohne Kommentar zogen sie ihre nassen Schuhe aus, als Joker ihnen öffnete (eine Erziehungsmaßnahme Ginas) und gingen auf Socken mit ihm eine Treppe nach oben in sein Zimmer.

Joker hatte sich redlich bemüht, ein wenig Ordnung zu schaffen, aber Gina entdeckte ein zerkrümeltes Brötchen zwischen den Polstern eines ausgedienten Sessels, und der Papierkorb unter dem Schreibtisch quoll über, sodass zwei leere Joghurtbecher auf den Boden gefallen waren. Die Bücher, Zettel und Hefte, die sonst auf dem Schreibtisch lagen, hatte Joker einfach auf den Teppich gestapelt.

„Na, Alter, wie geht’s?“, sagte Joker und haute Phil auf den Rücken.

„Geht so.“

„Geht so? Besonders munter siehst du tatsächlich nicht aus.“

„Schlecht geschlafen.“

Joker raschelte mit der Zeitung. „Also, Leute, ich weiß auch nicht. In letzter Zeit gibt es die merkwürdigsten Meldungen. Neulich war ja diese Geschichte über das Schaf, das seinen Schäfer erschossen hat, und heute … Hört euch das an. Eine irre Überschrift!“

Phil und Gina ließen sich auf das ausrangierte Sofa nieder.

„Angriff der Gummibärchen!

In einer Süßwarenfabrik gab es am Samstag einen Unfall. Ausgelöst wurde er durch eine Fehlsteuerung der Fließbänder, die Gummibärchen zu der Verpackungseinheit transportierten.

Die wohlschmeckenden bunten Tiere waren in das Getriebe geraten, hatten die Fließbänder blockiert und dabei einen riesigen Stau verursacht. Bei der Reparatur der Maschinen wurden zwei Ingenieure aus bisher noch unbekannten Gründen schwer verletzt.“

Phil verzog den Mund zu einem müden Lächeln und sagte: „Ziemlich witzig. Ich hab übrigens eine Neuigkeit. Gestern war ich …“

Er wurde unterbrochen, weil die Tür aufging und Jokers Mutter im Türrahmen stand.

„Hallo, Gina und Phil!“

„Hallo, Frau Konradin!“

Man merkte, dass Joker der Sohn von Frau Konradin war, denn er hatte dieselben blonden Locken wie sie und einen Ausdruck im Gesicht, den Gina mit „dieser versteckte Charme in den Augenwinkeln“ bezeichnete.

„Na, wie sieht’s aus?“, fragte sie. „Habt ihr Lust auf ein paar Knabbersachen?“

„Klar haben wir Lust“, antwortete Joker.

„Und bei diesem ekligen Wetter“, fuhr Jokers Mutter fort, „würde vermutlich ein Becher heißer Kakao nicht schaden.“

„Das wäre echt toll!“ Gina verströmte ihr Nettes-Mädchen-Lächeln.

Als Frau Konradin die Tür zugemacht hatte, platzte Gina los: „Was für eine Neuigkeit hast du denn, Phil? Irgendwas mit unserer Kugel-Tür?“

„Was sonst? Ich bin gestern nicht gleich nach Hause gefahren, sondern nochmal durch das Tor geschlüpft.“

„Also doch!“, rief Joker.

„Wieso: also doch?“

„Ich hab gestern noch zu Gina gesagt: Komisch, dass Phil ausgerechnet Englisch lernen will, das macht er doch sonst bei seinem Lieblingsfach nicht.“

„Na ja, ich bin also umgedreht und habe mein Fahrrad durch die Tür geschoben und dann mich selber.“

„He, gute Idee!“, meinte Joker. „Und nicht kaputt?“

„Hat einwandfrei geklappt!“

Phil richtete sich auf und sagte: „Ich wollte unbedingt herausbekommen, ob das Tor sich in die Vergangenheit öffnet und Garbstetten früher anders hieß. Das hätte viel erklärt …“

Phil erzählte den anderen beiden ausführlich von seiner Tour.

„Hm“, sagte Joker nachdenklich. „Das wird immer seltsamer. Also einerseits gibt es Garbstetten und dann wieder Grabstetten, und du sagst, die Frauen hätten sich auch über Gänseblümchen unterhalten und über ein Mittel dagegen …“

„Und das würde bedeuten“, fuhr Gina fort, „dass Hieronymus vielleicht doch nicht ganz so durchgeknallt ist, wie wir gedacht haben …“

„Genau“, nickte Phil. „Das hat mir zu denken gegeben, und dann bin ich mit einem vagen Verdacht zur Stadtbücherei gefahren und habe …“

Wieder ging die Tür auf, und Frau Konradin kam mit einem Tablett zur Tür herein.

„Oh!“, sagte sie. „Hier scheinen ja sehr wichtige Gespräche stattzufinden, wenn man eure Gesichter so sieht.“

„Du weißt ja, Mama“, sagte Joker, „Kinder in unserem Alter haben immer irgendwelche tiefen Geheimnisse.“

„Ach ja? Welche Art Geheimnisse sind denn das?“

Sie stellte das Tablett auf den Schreibtisch und fegte dabei ein Kabel vom Tisch.

„Vorsicht, das Kabel von dem PC!“, rief Joker.

„Du hast auf meine Frage gar nicht geantwortet“, sagte sie und lehnte sich gegen den Türrahmen.

„Ach, Frau Konradin“, sagte Gina. „Sie wissen doch, dass Waldemar oft übertreibt. Wir reden über das Übliche: über unsere nächste Tour mit den Rädern, blöde Lehrer und so.“

„Na, da bin ich ja beruhigt.“

Sie drehte sich um und verließ den Raum, nicht ohne einen leicht nachdenklichen Blick zurückzulassen.

Als sie die Tür zugemacht hatte, war es dahinter seltsam ruhig, sodass Joker stumm auf die Tür deutete und mit der Hand eine Bewegung machte, die wohl sagen sollte: Unverdächtige Gespräche führen.

„Ich hab neulich deinen Deutschlehrer im Bus gesehen“, fing Gina an und redete ungewöhnlich laut. „Und weißt du, was er gemacht hat?“

„Nee“, sagte Joker. „Hat er vielleicht deutsch gesprochen?“

„Er hat in einem Herrenmagazin geblättert, in dem lauter nackte Frauen abgebildet waren!“

„Ist nicht wahr!“

„Doch bestimmt, und …“

Hinter der Tür hörte man, wie es leise knarrte. Die unsichtbare Lauscherin zog sich offensichtlich zurück.

Jeder der drei nahm einen Becher mit heißem Kakao, und einen Augenblick waren nur leise Schlürfgeräusche zu hören, während draußen der Regen auf das schräge Fenster prasselte und eine gemütliche Stimmung schuf.

„Also“, fing Gina an und senkte unwillkürlich ihre Stimme. „Du bist also mit einem Verdacht in die Stadtbücherei gefahren …“

„Ja, und dann habe ich in der naturwissenschaftlichen Abteilung herumgesucht, besonders bei der Physik. Dort habe ich dann ein Buch gefunden, bei dem es um physikalisch wahrscheinliche Denkmöglichkeiten ging, und dann bin ich auf etwas gestoßen, das mich echt umgehauen hat. Ich hab es zwar geahnt, aber wenn man es dann schwarz auf weiß liest, ist es trotzdem immer noch …“

Phil stockte.

„Heraus damit!“, sagte Joker, legte den Finger auf den Mund und schlich zur Tür, die er leise aufmachte.

„Nur zur Sicherheit“, sagte er. „Die Luft ist rein.“

„In der Physik gibt es die Denkmöglichkeit von parallelen Welten“, sagte Phil.

 

„Von was?“ Joker hielt den Kakaobecher in der Hand.

„Es besteht die Wahrscheinlichkeit, dass es Welten gibt, die unserer Welt ziemlich gleichen und mit denen wir durch eine vierdimensionale Tür verbunden sein könnten …“

„Unsere Kugel im Wald …“, flüsterte Gina.

„… könnte solch eine Tür sein“, beendete Joker den Satz.

Gina und Joker waren zu verblüfft, um noch mehr zu sagen, und so fuhr Phil fort: „Genau. Und wenn das stimmt, dann würde das vieles erklären. In dieser parallelen Welt gibt es leichte Veränderungen, da könnte es eine ähnliche Straße geben, einen ähnlichen Wald und ein Dorf mit einem ähnlichen Namen, bei dem nur zwei Buchstaben anders sind …“

„Ja“, nickte Joker, „Grabstetten heißt dann dort Garbstetten. Natürlich!“ Er stand auf und ging erregt hin und her. „Das ist die Erklärung! Phil, du bist genial!“

„War nur so ein Verdacht von mir …“, wehrte er ab.

„Aber wenn das stimmt, dann haben wir bisher ziemlich viel Glück gehabt“, sagte Gina und fuhr sich über ihren Nasenrücken.

„Wieso?“, fragte Phil.

„Wenn die Kugel nicht mehr funktioniert hätte oder verschwunden wäre, dann wären wir nie mehr zurückgekommen und hätten für immer in dieser Parallelwelt leben müssen.“

Einen Augenblick war es still, und die Kinder sahen den Regentropfen zu, die an dem Fenster im Zickzack herunterliefen.

„Gina hat recht“, sagte Joker. „Wir haben keine Ahnung, wie lange diese Kugeltür offenbleibt. Und wenn wir das nächste Mal da rübergehen, dann … also, das müssen wir uns ziemlich genau überlegen.“

Phil stellte den leeren Becher auf dem Boden ab. „Ich möchte zumindest noch einmal rübergehen“, sagte er, „und Hieronymus treffen. Gina hat ja seine Adresse. Jetzt, wo wir wissen, wie das alles zusammenhängt, will ich mehr darüber erfahren. Hieronymus ist höchstwahrscheinlich nicht verrückt, sondern hat von einer echten Gefahr erzählt. Wer weiß, vielleicht kommt diese Gefahr eines Tages auch auf unsere Welt zu …“

Er ließ den Satz offen.

„Du meinst“, setzte Phil den Gedanken fort, „dann könnte man sich darauf vorbereiten?“

„Vielleicht.“

„Nein!“, sagte Gina sehr bestimmt. „Mich bekommen keine zehn Pferde mehr in dieses Paralleldings. Wenn ich daran denke, bekomme ich jetzt schon eine Gänsehaut.“

Joker nickte. „Kann ich verstehen. Aber du könntest uns zumindest die Adresse von Hieronymus geben.“

„Heißt das, du willst mit Phil rübergehen?“

„Klar“, nickte Joker. „Das lass ich mir nicht entgehen. Und solange wir uns vor Gänseblümchen schützen …“

Wieder schüttelte Gina den Kopf. „Nein! Ich bleib hier!“


Sie fummelte in ihrer Hosentasche herum, fischte die zerdrückte Karte mit Hieronymus‘ Adresse heraus, strich sie sorgfältig glatt und reichte sie Joker.

„Okay“, sagte Phil. „Morgen um halb vier mit den Rädern?“

„Ich bin dabei.“

An diesem Nachmittag passierte nichts Ungewöhnliches mehr. Nur Jokers Mutter fragte ihren Sohn abends: „Sag mal, wie hieß nochmal dein Deutschlehrer? Sander oder Brandner?“

Joker grinste und sagte: „Herr Bandner. Was willst du denn von ihm?“

„Ach, nichts Bestimmtes. Mir war nur der Name entfallen.“

„Aha.“

Aus den Augenwinkeln sah Joker, dass seine Mutter sich bückte, um eine unsichtbare Fussel aufzuheben und dachte sich seinen Teil.

Бесплатный фрагмент закончился. Хотите читать дальше?
Купите 3 книги одновременно и выберите четвёртую в подарок!

Чтобы воспользоваться акцией, добавьте нужные книги в корзину. Сделать это можно на странице каждой книги, либо в общем списке:

  1. Нажмите на многоточие
    рядом с книгой
  2. Выберите пункт
    «Добавить в корзину»