Das Tal des Grauens

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2. Mr. Sherlock Holmes doziert

Es war einer jener dramatischen Augenblicke, für die mein Freund lebte. Gleichwohl wäre es übertrieben zu behaupten, die erstaunliche Mitteilung habe ihn aus der Fassung gebracht oder auch nur aufgeregt. Nicht, daß in seinem einzigartigen Wesen eine Spur von Grausamkeit gelegen hätte; aber die langjährige Überreizung hatte ihn zweifellos abgehärtet. Seine Gefühlsregungen waren abgestumpft; seine intellektuelle Wahrnehmungskraft blieb jedoch außerordentlich rege. Folglich gab es bei ihm keine Anzeichen des Grausens, welches ich bei dieser knappen Erklärung verspürt hatte, sondern seine Miene zeigte eher die ruhige und interessierte Gelassenheit eines Chemikers, der das Ausfallen der Kristalle in einer übersättigten Lösung beobachtet.

»Bemerkenswert!« sagte er; »bemerkenswert!«

»Sie scheinen gar nicht überrascht zu sein.«

»Interessiert, Mr. Mac, aber kaum überrascht. Warum sollte ich auch? Von einer mir als wichtig bekannten Quelle erhalte ich eine anonyme Nachricht mit der Warnung, daß einer bestimmten Person Gefahr droht. Im Verlauf einer Stunde erfahre ich, daß diese Gefahr tatsächlich Gestalt angenommen hat und daß die Person tot ist. Ich bin interessiert; aber, wie Sie bemerken, nicht überrascht.«

In ein paar kurzen Sätzen erläuterte er dem Inspektor, was es mit dem Brief und der Geheimschrift auf sich hatte. MacDonald saß da, das Kinn auf den Händen, und seine dichten, sandfarbenen Augenbrauen zogen sich zu einem gelben Büschel zusammen.

»Ich wollte noch heute früh nach Birlstone runter«, sagte er. »Eigentlich bin ich hergekommen, Sie zu fragen, ob Sie mich begleiten möchten – Sie und Ihr Freund hier. Aber nach dem, was Sie sagen, könnten wir hier in London vielleicht mehr erreichen.«

»Das glaube ich eigentlich nicht«, sagte Holmes.

»Zum Henker, Mr. Holmes!« rief der Inspektor. »In ein oder zwei Tagen sind die Zeitungen voll mit Berichten über das Rätsel von Birlstone; bloß, was ist daran rätselhaft, wenn es in London einen Mann gibt, der das Verbrechen vorher schon groß ankündigt? Wir brauchen uns doch nur diesen Mann zu greifen, und alles übrige ergibt sich von selbst.«

»Ohne Zweifel, Mr. Mac. Aber wie haben Sie sich die Ergreifung des sogenannten Porlock vorgestellt?«

MacDonald drehte den Brief um, den Holmes ihm überreicht hatte.

»Aufgegeben in Camberwell – das hilft uns nicht viel weiter. Der Name ist nur angenommen, sagen Sie. Wahrhaftig nicht viel für den Anfang. Haben Sie nicht gesagt, Sie hätten ihm mal Geld geschickt?«

»Zweimal.«

»Und wie?«

»Banknoten, postlagernd Camberwell.«

»Haben Sie sich nie bemüht zu erfahren, wer sie abgeholt hat?«

»Nein.«

Der Inspektor sah überrascht aus und ein wenig empört.

»Warum nicht?«

»Weil ich mein Wort zu halten pflege. Nach seinem ersten Brief hatte ich versprochen, ich würde nicht versuchen, ihm nachzuspüren.«

»Sie glauben, es steht jemand hinter ihm?«

»Ich weiß es.«

»Dieser Professor, den Sie mir gegenüber mal erwähnt haben?«

»Genau.«

Inspektor MacDonald lächelte, und ein Augenlid zwinkerte, als er mir einen raschen Blick zuwarf.

»Ich will Ihnen nicht verhehlen, Mr. Holmes, daß wir vom C.I.D.6 glauben, daß Sie sich mit diesem Professor eine klitzekleine Grille in den Kopf gesetzt haben. Ich habe in der Sache persönlich einige Nachforschungen angestellt. Er scheint zu einer ausgesprochen ehrbaren, gelehrten und talentvollen Sorte Mensch zu zählen.«

»Es freut mich, daß Sie immerhin sein Talent erkannt haben.«

»Menschenskind, das muß man doch erkennen! Nachdem ich Ihre Meinung über ihn gehört hatte, bin ich von Berufs wegen mal zu ihm gegangen. Wir haben über Sonnenfinsternisse geplaudert. Keine Ahnung, wie wir gerade darauf gekommen sind; aber er hat 'ne Lampe mit Reflektor geholt und einen Globus, und in 'ner Minute hat er mir alles klargemacht. Er hat mir auch ein Buch geliehen; aber das war dann doch ein bißchen zu hoch für mich – trotz meiner guten Aberdeen-Ausbildung; das kann ich ja ruhig zugeben. Er hätte 'n guten Pfaffen abgegeben, mit seinem schmalen Gesicht und dem grauen Haar und der feierlichen Art, wie er spricht. Beim Abschied hat er mir sogar die Hand auf die Schulter gelegt – das war wie Vaters Segen, bevor man in die kalte grausame Welt zieht.«

Holmes kicherte und rieb sich die Hände.

»Großartig!« sagte er; »großartig! Sagen Sie, Freund MacDonald; diese erbauliche und rührende Unterhaltung hat, wie ich annehme, im Studierzimmer des Professors stattgefunden?«

»So ist es.«

»Ein feines Zimmer, nicht wahr?«

»Sehr fein – wirklich, Mr. Holmes, sehr hübsch.«

»Sie saßen vor seinem Schreibtisch?«

»Ganz recht.«

»Sie die Sonne im Gesicht und er im Schatten?«

»Tja, es war Abend; aber ich erinnere mich, daß die Lampe auf mich gerichtet war.«

»Ganz bestimmt war sie das. Haben Sie über dem Kopf des Professors zufällig ein Bild bemerkt?«

»Mir entgeht so leicht nichts, Mr. Holmes. Höchstwahrscheinlich habe ich das von Ihnen gelernt. Ja, ich hab das Bild gesehen – eine junge Frau mit dem Kopf auf den Händen, die einen so von der Seite anguckt.«

»Dieses Gemälde ist von Jean Baptiste Greuze.«

Der Inspektor bemühte sich, ein interessiertes Gesicht zu machen.

»Jean Baptiste Greuze7«, fuhr Holmes fort, während er seine Fingerspitzen aneinanderlegte und sich in den Stuhl zurücklehnte, »war ein französischer Maler, dessen Blütezeit zwischen den Jahren 1750 und 1800 lag. Damit beziehe ich mich natürlich auf seine Schaffensperiode. Die moderne Kunstkritik hat die hohe Wertschätzung, die seine Zeitgenossen ihm entgegenbrachten, mehr als bestätigt.«

Die Augen des Inspektors nahmen einen abwesenden Ausdruck an.

»Sollten wir nicht lieber ...« sagte er.

»Wir sind gerade dabei«, unterbrach ihn Holmes. »Alles, was ich sage, hat einen sehr unmittelbaren und wichtigen Bezug zu dem, was Sie das Rätsel von Birlstone genannt haben. In der Tat könnte man es in gewissem Sinne geradezu als sein Zentrum bezeichnen.«

MacDonald lächelte schwach und sah mich flehend an.

»Ihre Gedanken bewegen sich ein bißchen zu schnell für mich, Mr. Holmes. Sie lassen ein oder zwei Glieder aus, und ich kriege die Lücke nicht zusammen. Was in aller Welt soll der Zusammenhang sein zwischen diesem toten Herrn Maler und der Sache in Birlstone?«

»Jeder Wissenszweig ist für den Detektiv von Nutzen«, bemerkte Holmes. »Besonders die triviale Tatsache, daß im Jahre 1865 ein Bild von Greuze mit dem Titel La Jeune Fille à l'Agneau bei der Portalis-Auktion nicht weniger als viertausend Pfund8 erzielt hat, dürfte doch in Ihrem Kopf eine Reihe von Überlegungen in Gang setzen.«

Das tat sie ganz offensichtlich. Der Inspektor machte ein unverhohlen interessiertes Gesicht.

»Ich darf Sie daran erinnern«, fuhr Holmes fort, »daß das Gehalt des Professors sich aus mehreren zuverlässigen Nachschlagewerken ermitteln läßt. Es beträgt siebenhundert Pfund im Jahr.«

»Wie kommt er dann in den Besitz ...«

»Ganz recht. Wie kommt er dazu?«

»Tja, das ist bemerkenswert«, sagte der Inspektor gedankenvoll, »Sprechen Sie weiter, Mr. Holmes. Die Sache gefallt mir. Das klingt gut.«

Holmes lächelte. Aufrichtige Bewunderung ließ ihn immer auftauen – ein Kennzeichen des wahren Künstlers.

»Und was ist mit Birlstone?« fragte er.

»Wir haben noch Zeit«, sagte der Inspektor; er warf einen schnellen Blick auf seine Uhr. »Mein Wagen steht vor der Tür, und zur Victoria Station brauchen wir keine zwanzig Minuten. Aber nochmal zu dem Bild – mir war, Mr. Holmes, als ob Sie mir mal erzählt hätten, daß Sie Professor Moriarty noch nie begegnet sind.«

»Nein, noch nie.«

»Woher wissen Sie dann über seine Wohnung Bescheid?«

»Oh, das steht auf einem anderen Blatt. In seiner Wohnung bin ich bereits dreimal gewesen; zweimal habe ich unter verschiedenen Vorwänden auf ihn gewartet und bin vor seiner Rückkunft wieder fortgegangen. Einmal – tja, davon dürfte ich einem Kriminalbeamten eigentlich gar nicht erzählen. Beim letzten Mal habe ich mir nämlich die Freiheit genommen, rasch seine Unterlagen zu überfliegen, was zu höchst unerwarteten Resultaten geführt hat.«

»Sie haben etwas Kompromittierendes gefunden?«

»Absolut nichts. Das war ja das Verblüffende. Wie auch immer, Sie haben jetzt den springenden Punkt bezüglich des Gemäldes erkannt. Es weist ihn als sehr vermögenden Mann aus. Aber wie kommt er zu diesem Vermögen? Er ist unverheiratet. Sein jüngerer Bruder ist Bahnhofsvorsteher9 im Westen von England. Sein Lehrstuhl bringt ihm siebenhundert im Jahr. Aber er besitzt einen Greuze.«

»Und weiter?«

»Die Schlußfolgerung ist doch wohl einfach.«

»Sie meinen, er hat hohe Einkünfte und muß sie sich auf illegale Weise verschaffen?«

»Ganz genau. Selbstverständlich habe ich noch weitere Gründe zu diesem Verdacht – Dutzende dünnster Fäden, die kaum wahrnehmbar zum Zentrum des Netzes hinführen, wo die giftige, regungslose Kreatur auf der Lauer liegt. Ich erwähne den Greuze auch nur, weil er die Sache in den Bereich Ihrer eigenen Beobachtungen rückt.«

»Tja, Mr. Holmes, ich gebe zu, was Sie da sagen, ist interessant. Mehr als interessant – es ist geradezu wunderbar. Aber lassen Sie uns ein wenig deutlicher werden, wenn möglich. Handelt es sich um Fälscherei, Falschmünzerei oder Einbrüche? Woher kommt das Geld?«

 

»Haben Sie schon mal was über Jonathan Wild gelesen?«

»Naja, also der Name kommt mir vertraut vor. Jemand aus 'nem Roman, oder? Ich mach mir nicht viel aus Detektiven in Romanen – diese Burschen kriegen immer alles raus und lassen einen nie dahinterkommen, wie sie's anstellen. Bei denen ist alles bloß Eingebung und keine solide Arbeit.«

»Jonathan Wild war kein Detektiv, und er kommt auch nicht in einem Roman vor. Er war ein meisterlicher Verbrecher und hat im vorigen Jahrhundert gelebt – so um 1750 herum.«

»Dann nützt er mir nichts. Ich bin ein Mann der Praxis.«

»Mr. Mac, das Beste, was Sie für Ihre Praxis im Leben je tun könnten, wäre, sich zwölf Monate lang einzuschließen und täglich zwölf Stunden Kriminalhistorie zu studieren. Alles wiederholt sich in Zyklen, selbst Professor Moriarty. Jonathan Wild10 war die verborgene Kraft hinter der Londoner Verbrecherwelt, an die er seine Intelligenz nebst seiner Organisation für einen fünfzehnprozentigen Anteil verkauft hatte. Das alte Rad dreht sich weiter, und dieselbe Speiche kommt zum Vorschein. Alles ist schon einmal dagewesen und kehrt immer wieder. Ich will Ihnen ein paar Einzelheiten über Moriarty erzählen, die Sie interessieren dürften.«

»Und ob die mich interessieren!«

»Zufällig weiß ich nämlich, wer das erste Glied in seiner Kette ist – dieser Kette mit dem fehlgeleiteten Napoleon am einen Ende, am anderen hundert gebrochenen Schlägern, Taschendieben, Erpressern und Falschspielern, und dazwischen jeder nur erdenklichen Sorte von Verbrechen. Sein Stabchef ist Colonel Sebastian Moran11, ein Mann, der es ebenso wie Moriarty selbst versteht, sich abseits zu halten, auf der Hut zu sein und sich dem Zugriff des Gesetzes zu entziehen. Was glauben Sie, wieviel er dem bezahlt?«

»Lassen Sie hören.«

»Sechstausend im Jahr. Ein gutes Hirn hat seinen Preis, wie Sie sehen – amerikanisches Geschäftsprinzip. Dieses Detail habe ich ganz zufällig erfahren. Das ist mehr, als der Premierminister verdient12. Jetzt haben Sie einen Begriff von Moriartys Einkünften und vom Ausmaß seiner Geschäfte. Und noch etwas. Kürzlich habe ich es mir angelegen sein lassen, einigen von Moriartys Schecks nachzugehen – ganz gewöhnlichen, harmlosen Schecks, mit denen er seine Haushaltsrechnungen begleicht. Sie waren auf sechs verschiedene Banken ausgestellt. Gibt Ihnen das einen Eindruck?«

»Das ist natürlich sonderbar. Aber was folgern Sie daraus?«

»Er will nicht, daß sich sein Reichtum herumspricht. Kein einzelner Mensch darf erfahren, wieviel er besitzt. Ich hege keinen Zweifel daran, daß er zwanzig Bankkonten unterhält – wobei der Großteil seines Vermögens wohl im Ausland lagert, wahrscheinlich bei der Deutschen Bank oder dem Crédit Lyonnais. Sollten Sie irgendwann einmal ein paar Jahre überschüssige Zeit haben, empfehle ich Ihnen ein Studium des Professor Moriarty.«

Im Verlauf des Gesprächs hatte Inspektor MacDonald sich mehr und mehr beeindruckt gezeigt. Sein Interesse hatte ihn gänzlich in Anspruch genommen. Nun aber beförderte ihn sein praktischer schottischer Verstand mit einem Schlag zurück zu den laufenden Ereignissen.

»Das hat jedenfalls Zeit«, sagte er. »Sie haben uns mit Ihren interessanten Anekdoten auf Abwege gebracht, Mr. Holmes. Was für mich wirklich zählt, ist Ihre Bemerkung, daß zwischen dem Professor und diesem Verbrechen irgendeine Verbindung besteht. Das schließen Sie aus der Warnung, die Sie von diesem Porlock erhalten haben. Ist für uns da sonst noch was praktisch Brauchbares drin?«

»Zunächst können wir uns eine Vorstellung hinsichtlich der Motive des Verbrechens machen. Soviel ich Ihren anfänglichen Bemerkungen entnehme, handelt es sich um einen unerklärlichen oder zumindest ungeklärten Mord. Einmal angenommen, der Ausgangspunkt des Verbrechens läge dort, wo wir ihn vermuten, dann kämen zwei verschiedene Motive in Betracht. Zunächst darf ich vorausschicken, daß Moriarty seine Leute mit eiserner Rute regiert. Seine Disziplin ist fürchterlich. Und seine Gesetze kennen nur eine Strafe: den Tod. Wir dürften also annehmen, der Ermordete – dieser Douglas, von dessen herannahendem Schicksal einer der Untergebenen des Erzverbrechers Wind bekam – habe den Chefin irgendeiner Weise verraten. Es folgte seine Bestrafung, von der alle erfahren werden – und sei es nur, um ihnen Todesangst einzujagen.«

»Schön, das wäre die eine Möglichkeit, Mr. Holmes.«

»Die andere ist, daß Moriarty die Sache im Zuge eines ganz gewöhnlichen Geschäftsganges durchgeführt hat. Ist denn etwas geraubt worden?«

»Nicht daß ich wüßte.«

»Wenn ja, so spräche das natürlich gegen die erste Hypothese und zugunsten der zweiten. Moriarty könnte demnach gegen Zusicherung eines Beuteanteils mit der Durchführung betraut worden sein, vielleicht hat man ihm aber auch vor der Vollstreckung einen hohen Vorschuß gezahlt. Beides ist möglich. Aber welches davon es auch immer sein mag, oder falls eine dritte Kombination vorliegt – die Lösung müssen wir in Birlstone suchen. Ich kenne unseren Mann zu gut, um damit zu rechnen, daß er hier irgendeine Spur hinterlassen hat, die uns zu ihm führen könnte.«

»Dann auf nach Birlstone!« rief MacDonald; er schnellte aus dem Stuhl. »Meine Güte! Es ist schon später, als ich gedacht habe. Meine Herren, ich kann Ihnen fünf Minuten geben, um sich fertig zu machen, mehr nicht.«

»Die genügen uns reichlich«, sagte Holmes, während er aufsprang und hastig aus dem Hausrock in seinen Mantel schlüpfte. »Unterwegs, Mr. Mac, sind Sie bitte so freundlich, mir alles zu erzählen.«

›Alles‹ erwies sich als enttäuschend wenig, und doch war es genug, uns davon zu überzeugen, daß der vorliegende Fall sehr wohl die gespannteste Aufmerksamkeit eines Experten verdiente. Holmes' Miene erhellte sich, und er rieb sich die dünnen Hände, während er den spärlichen, aber bemerkenswerten Einzelheiten lauschte. Hinter uns lag eine lange Reihe unersprießlicher Wochen, und hier bot sich endlich wieder einmal ein angemessenes Objekt für jene bemerkenswerten Fähigkeiten, die, wie jede Spezialbegabung, ihrem Besitzer zur Last werden, solange sie brachliegen. Bei längerer Untätigkeit stumpfte dieser rasiermesserscharfe Verstand ab und rostete vor sich hin. Dagegen glitzerten Sherlock Holmes' Augen, die bleichen Wangen nahmen einen wärmeren Farbton an, und sein ganzes gespanntes Gesicht erstrahlte von einem inneren Feuer, wenn ihn der Lockruf der Arbeit erreichte. Während der Fahrt im Wagen lauschte er vornübergebeugt und aufmerksam MacDonalds kurzer Skizzierung des Problems, das uns in Sussex erwartete. Der Inspektor seinerseits war, wie er uns erklärte, angewiesen auf einen hingekritzelten Bericht, der ihm in den frühen Morgenstunden mit dem Milchzug zugesandt worden war. Mit White Mason, dem für die Grafschaft zuständigen Kriminalbeamten, verband ihn eine persönliche Freundschaft, und daher war MacDonald sehr viel schneller in Kenntnis gesetzt worden, als dies bei Scotland Yard der Brauch ist, wenn man dessen Hilfe in der Provinz benötigt. In allgemeinen verfolgt der aus der Metropole herbeigerufene Experte eine schon reichlich kalte Spur.

»Lieber Inspektor MacDonald«, begann der Brief, den er uns vorlas, »der offizielle Antrag auf Ihren Einsatz befindet sich im separaten Umschlag. Das hier ist für Sie persönlich. Geben Sie mir telegraphisch Nachricht, welchen Zug nach Birlstone Sie heute vormittag nehmen können; ich hole Sie dann ab – oder lasse Sie abholen, falls ich zu beschäftigt sein sollte. Der Fall ist ein Knaller. Verlieren Sie keinen Augenblick, und machen Sie sich auf den Weg. Wenn Sie können, bringen Sie bitte Mr. Holmes mit, er wird hier nämlich was finden, das ganz nach seinem Geschmack ist. Man könnte meinen, das Ganze sei eine effektvoll gestellte Szene fürs Theater, wenn es da nicht mittendrin einen Toten gäbe. Ich sag's Ihnen, wirklich ein Knaller!«

»Ihr Freund scheint kein Dummkopf zu sein«, bemerkte Holmes.

»Nein, Sir; White Mason ist sehr auf Draht, wenn ich nicht ganz danebenliege.«

»Schön, haben Sie noch etwas?«

»Nur, daß er uns alle Einzelheiten am Treffpunkt mitteilen wird.«

»Wie haben Sie dann von Mr. Douglas erfahren und der Tatsache, daß er auf schreckliche Weise ermordet worden ist?«

»Das steht im beigefügten offiziellen Bericht. Natürlich ohne den Zusatz ›auf schreckliche Weise‹. Das ist kein amtlich gültiger Ausdruck. Der Bericht gibt den Namen John Douglas an. Er meldet, daß sein Schädel Verletzungen aufweist, die vom Schuß einer Schrotflinte stammen. Ferner gibt er den Zeitpunkt an, zu dem Alarm geschlagen wurde: kurz vor Mitternacht. Und er fügt noch hinzu, daß es sich zweifellos um einen Mordfall handelt, daß aber bisher noch keine Festnahme erfolgt ist und daß dieser Fall einige sehr verwirrende und außergewöhnliche Merkmale aufweist. Das ist absolut alles, was wir momentan haben, Mr. Holmes.«

»Dann wollen wir es, mit Ihrer Erlaubnis, dabei belassen, Mr. Mac. Die Versuchung, aufgrund unzulänglicher Daten vorschnelle Theorien aufzustellen, ist der Fluch unseres Berufes. Vorläufig sehe ich nur zweierlei mit Gewißheit: ein großes Gehirn in London und einen toten Mann in Sussex. Die Verbindung dazwischen, die werden wir aufspüren.«

3. Die Tragödie von Birlstone

Und nun bitte ich um die Erlaubnis, meine unbedeutende Person einen Augenblick lang auszuklammern und die Ereignisse, die sich vor unserer Ankunft am Schauplatz abgespielt haben, im Licht unserer späteren Erkenntnisse zu schildern. Denn nur so kann ich dem Leser zu einer richtigen Vorstellung von den beteiligten Personen sowie der bizarren Kulisse, vor der ihr Schicksal seinen Lauf nahm, verhelfen.

Das Dorf Birlstone besteht aus einer kleinen Gruppe sehr alter Fachwerkhäuser an der Nordgrenze der Grafschaft Sussex. Jahrhundertelang war es unverändert geblieben, aber während der letzten paar Jahre haben sein pittoreskes Erscheinungsbild und seine Lage eine Anzahl wohlhabender Leute angelockt, die sich hier niederließen und deren Villen aus den umliegenden Wäldern hervorlugen. Geographisch darf man diese Wälder noch zum äußersten Zipfel des großen Weald-Forstes13 zählen, der sich gegen die Kreidehügel der North Downs14 hin immer mehr lichtet. Mehrere kleine Läden wurden eröffnet, um den Bedürfnissen der angewachsenen Bevölkerung entgegenzukommen, so daß Birlstone offenbar einige Aussicht hat, sich schnell von einem alten Dorf zu einer modernen Stadt zu entwickeln. Es bildet das Zentrum eines ansehnlichen Gebiets in diesem Landstrich, da die nächstgelegene Ortschaft von Bedeutung, Tunbridge Wells, zehn bis zwölf Meilen weiter im Osten und bereits jenseits der Grenze von Kent liegt.

Ungefähr eine halbe Meile vom Ort entfernt steht in einem alten Park, der für seine riesigen Buchen berühmt ist, das bejahrte Birlstone Manor House. Ein Teil dieses ehrwürdigen Gebäudes stammt noch aus der Zeit des ersten Kreuzzuges15, als Hugo de Capus16 im Zentrum des Landgutes, das ihm König Wilhelm der Rote übertragen hatte, eine kleine Feste errichtete. Diese wurde im Jahre 1543 durch Feuer zerstört, und als dann später, zur Zeit König James' des Ersten17, auf den Ruinen des feudalen Schlosses ein Landhaus aus Ziegelsteinen errichtet wurde, verwendete man einige der rauchgeschwärzten Eckpfeiler mit. Das Manor House mit seinen vielen Giebeln und den Butzenscheiben18 sah fast noch genau so aus, wie es sein Erbauer im frühen siebzehnten Jahrhundert zurückgelassen hatte. Den äußeren der beiden Gräben, die das weiland wehrhafte Gebäude geschützt, hatte man austrocknen lassen; er erfüllte nun die bescheidene Funktion eines Gemüsegartens. Den inneren gab es noch; er zog sich in einer Breite von vierzig Fuß – inzwischen allerdings nur noch wenige Fuß tief – rund um das ganze Haus. Ein kleiner Bach speiste ihn und floß jenseits des Grabens weiter, so daß der Wasserstreifen zwar trüb, aber keineswegs faulig oder ungesund war. Die Fenster des Erdgeschosses lagen einen Fuß über der Wasseroberfläche. Der einzige Zugang zum Haus führte über eine Zugbrücke, deren Winde und Ketten lange Zeit vor sich hin gerostet hatten und zerbrochen waren. Die neuen Besitzer des Manor House hatten jedoch diese Mängel mit charakteristischer Energie behoben, und die Zugbrücke ließ sich nicht nur wieder hochziehen, sondern wurde tatsächlich jeden Abend hochgezogen und jeden Morgen gesenkt. Diese Erneuerung eines Brauches aus alten, feudalen Tagen verwandelte das Manor House nachtsüber in eine Insel – ein Umstand, der von großer Bedeutung war für jenes Rätsel, welches binnen kurzem die Aufmerksamkeit von ganz England auf sich ziehen sollte.

 

Das Haus hatte einige Jahre leergestanden und zu einer pittoresken Ruine zu zerfallen gedroht, bevor die Familie Douglas es in Besitz nahm. Diese bestand lediglich aus zwei Personen: John Douglas und seiner Frau. John Douglas war ein bemerkenswerter Mann, sowohl dem Charakter wie seiner Erscheinung nach; er mochte ungefähr fünfzig Jahre zählen und hatte ein verwittertes Gesicht mit stark ausgeprägten Kieferknochen, einem angegrauten Schnurrbart und eigenartig stechenden grauen Augen; seine drahtige, kraftvolle Figur hatte nichts von der Festigkeit und Aktivität ihrer Jugend eingebüßt. Er war fröhlich und freundlich gegen jedermann, aber in seinem Auftreten lag etwas Saloppes, das den Eindruck vermittelte, er habe das Leben in gesellschaftlichen Schichten kennengelernt, die wohl einiges unter dem Niveau der Gutsherren der Grafschaft Sussex lagen. Wurde er von seinen kultivierteren Nachbarn mit einer gewissen Neugier und Reserve betrachtet, erwarb er sich dafür bei den Dörflern alsbald große Beliebtheit, da er alle Unternehmungen im Ort großzügig unterstützte und auch zu Hauskonzerten und sonstigen Festivitäten erschien, wo er mit seinem bemerkenswert volltönenden Tenor jederzeit gern ein Lied zum besten gab. Er schien eine Menge Geld zu haben, das er dem Vernehmen nach auf den kalifornischen Goldfeldern gemacht hatte, und aus seinen Erzählungen und denen seiner Frau wurde klar, daß er einen Teil seines Lebens in Amerika verbracht hatte. Der gute Eindruck, den seine Freigebigkeit und sein demokratisches Auftreten hervorriefen, wurde noch dadurch verstärkt, daß er im Rufstand, Gefahren gegenüber vollkommen gleichgültig zu sein. Obwohl er ein miserabler Reiter war, fand er sich nämlich zu jedem Jagdtreffen ein und nahm in seiner Entschlossenheit, es den Besten gleichzutun, die erstaunlichsten Stürze in Kauf Auch als einmal das Pfarrhaus brannte, zeichnete er sich durch seine Furchtlosigkeit aus; denn er drang wiederholt in das Gebäude ein, um Hab und Gut zu bergen, nachdem die örtliche Feuerwehr es als unmöglich aufgegeben hatte. So kam es, daß sich John Douglas vom Manor House innerhalb von fünf Jahren einen beachtlichen Ruf in Birlstone erworben hatte.

Auch seine Frau war beliebt bei denen, die ihre Bekanntschaft gemacht hatten; englischer Sitte entsprechend kamen jedoch zu Fremden, die sich ohne gesellschaftliche Einführung in der Grafschaft niederließen, nur wenige Besucher – und auch die nur in großen Abständen. Dies machte ihr aber nicht viel aus, da sie von Natur aus zurückgezogen und durch ihren Gatten und häusliche Pflichten allem Anschein nach vollkommen in Anspruch genommen war. Man wußte, daß sie Engländerin war und den damals noch verwitweten Mr. Douglas in London kennengelernt hatte. Sie war eine schöne Frau, hochgewachsen, dunkelhaarig, schlank und gut zwanzig Jahre jünger als ihr Mann; ein Altersunterschied, der die Harmonie ihres Zusammenlebens anscheinend in keiner Weise beeinträchtigte. Die sie am besten kannten, bemerkten jedoch manchmal, daß das Vertrauen zwischen den beiden nicht vollkommen zu sein schien, denn in Hinsicht auf die Vergangenheit ihres Gatten war die Frau entweder sehr zurückhaltend oder aber, was wahrscheinlicher war, sehr mangelhaft unterrichtet. Auch hatten ein paar Aufmerksame beobachtet und kritisch vermerkt, daß es bei Mrs. Douglas zuzeiten Zeichen einer gewissen nervlichen Anspannung gab und daß sie heftiges Unbehagen erkennen ließ, wenn ihr Gatte einmal besonders lange wegblieb. In einer ruhigen ländlichen Gegend, wo jeder Klatsch willkommen ist, konnte man diese Schwäche der Lady vom Manor House nicht achtlos übergehen, und in der Erinnerung der Leute nahm sie um so mehr Raum ein, als dann jene Ereignisse eintraten, die ihr eine ganz besondere Bedeutung verleihen sollten.

Es gab unter diesem Dach noch eine weitere Person, die sich allerdings nicht ständig dort aufhielt; aber ihre Anwesenheit zur Zeit jener merkwürdigen Begebnisse, die ich nun erzählen will, rückte ihren Namen in den Vordergrund der Öffentlichkeit, Es handelte sich um Cecil James Barker aus Hales Lodge, Hampstead. Cecil Barkers hochgewachsene und schlaksige Gestalt war auf der Hauptstraße der Gemeinde Birlstone ein vertrauter Anblick, denn er war ein häufiger und willkommener Gast im Manor House. Man nahm von ihm um so mehr Notiz, als er der einzige Freund aus der unbekannten Vergangenheit von Mr. Douglas war, der je in dessen neuer englischen Umgebung auftauchte. Barker selbst war unzweifelhaft Engländer, aber aus seinen Bemerkungen ging klar hervor, daß er Douglas in Amerika kennengelernt und dort mit ihm auf vertrautem Fuß gestanden hatte. Er schien ein Mann von beträchtlichem Vermögen zu sein und galt als Junggeselle. Er war etwas jünger als Douglas, höchstens fünfundvierzig – ein hochgewachsener, breitbrüstiger Bursche mit aufrechtem Gang und einem glattrasierten Preisboxergesicht; ein gebieterisches Paar schwarzer Augen unter den dichten, kräftigen schwarzen Brauen hätte ihm auch ohne die Hilfe seiner überaus tüchtigen Hände den Weg durch eine feindliche Menge bahnen können. Er war kein Reiter und ging auch nicht auf die Jagd, sondern brachte seine Tage damit zu, mit der Pfeife im Mund durch das alte Dorf zu schlendern und mit seinem Gastgeber oder – bei dessen Abwesenheit – mit seiner Gastgeberin Ausfahrten in die schöne Umgebung zu machen. »Ein angenehmer, freigebiger Gentleman«, sagte Ames, der Butler. »Aber, bei Gott, ich möchte lieber nicht in der Haut des Mannes stecken, der ihm in die Quere kommt.« Barkers Umgang mit Douglas war herzlich und vertraut, und mit dessen Gattin war er nicht weniger befreundet; ja, diese Freundschaft schien beim Gatten mehr als einmal eine gewisse Gereiztheit hervorzurufen, so daß selbst die Dienerschaft seine Verärgerung bemerkte. Das also war die dritte Person, die zum Zeitpunkt der Katastrophe zur Familie gehörte. Was die sonstigen Bewohner des alten Gebäudes angeht, so mag es genügen, aus dem großen Hauspersonal den steifen, achtbaren und tüchtigen Ames zu erwähnen sowie Mrs. Allen, eine dralle und fröhliche Person, die der Lady im Haushalt manche Last abnahm. Die übrigen sechs Bediensteten des Hauses sind für die Ereignisse der Nacht vom 6. Januar nicht von Bedeutung.

Um elf Uhr fünfundvierzig erreichte die erste Alarmmeldung den kleinen örtlichen Polizeiposten, der Sergeant Wilson von der Sussex Constabulary unterstellt war. Mr. Cecil Barker war höchst aufgeregt zur Tür gestürzt und hatte wie wild die Glocke geläutet. Im Manor House habe es eine schreckliche Tragödie gegeben und Mr. John Douglas sei ermordet worden. So lautete der Kern seiner atemlos vorgetragenen Botschaft. Dann war er zum Haus zurückgehastet. Wenige Minuten später folgte ihm der Polizei-Sergeant, der kurz nach zwölf Uhr am Tatort eintraf, nachdem er unverzüglich Schritte unternommen hatte, die Behörden der Grafschaft zu benachrichtigen, daß etwas Ernstes vorgefallen sei.

Beim Manor House angekommen, hatte der Sergeant die Zugbrücke herabgelassen vorgefunden, die Fenster hell erleuchtet und das ganze Haus im Zustand wilden Durcheinanders und Aufruhrs. In der Empfangshalle drängten sich die schreckensbleichen Dienstboten zusammen, und an der Eingangstür stand händeringend der erschrockene Butler. Nur Cecil Barker schien sich und seine Gefühlsregungen zu beherrschen. Er hatte die dem Eingang nächstgelegene Tür geöffnet und dem Sergeant ein Zeichen gegeben, ihm zu folgen. In diesem Augenblick traf Dr. Wood ein, ein energischer und tüchtiger Arzt aus dem Dorf Die drei Männer betraten gemeinsam das Todeszimmer; der von Grauen geschüttelte Butler folgte ihnen auf den Fersen und schloß hinter sich die Tür, um die schreckliche Szene den Blicken der Dienstmädchen zu entziehen.

Der Tote lag auf dem Rücken, die Glieder gespreizt, in der Mitte des Zimmers. Er hatte nur einen rosafarbenen Schlafrock an, der sein Nachtgewand bedeckte. Seine bloßen Füße staken in Filzpantoffeln. Der Arzt kniete neben ihm und hielt eine kleine Lampe, die auf dem Tisch gestanden hatte, über ihn gesenkt. Ein Blick auf das Opfer zeigte dem Heilkundigen, daß seine Anwesenheit entbehrlich war. Die Wunden des Mannes waren schrecklich. Quer über seiner Brust lag eine seltsame Waffe, eine Schrotflinte, deren Läufe etwa dreißig Zentimeter vor den Abzügen abgesägt waren. Offensichtlich war diese Flinte aus nächster Nähe abgefeuert worden, und er hatte die volle Ladung ins Gesicht bekommen, wodurch fast sein ganzer Schädel zerschmettert worden war. Die Abzüge hatte man mit Draht zusammengebunden, um durch die gleichzeitige Entladung eine noch verheerendere Wirkung zu erzielen.

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