Die Memoiren des Sherlock Holmes

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Als wir das Wohnzimmer verließen, trat eine Frau, die im Flur gewartet hatte, auf uns zu und legte dem Inspektor die Hand auf den Ärmel. Ihr Gesicht war verhärmt, abgezehrt und ängstlich besorgt, gezeichnet von jüngst erlittenen Schrecken.

»Haben Sie sie gefaßt? Haben Sie sie gefunden?« stieß sie hervor.

»Nein, Mrs. Straker; aber Mr. Holmes hier ist aus London gekommen, um uns zu helfen, und wir werden alles Menschenmögliche tun.«

»Ich habe Sie doch kürzlich in Plymouth auf einer Gartenparty getroffen, Mrs. Straker«, sagte Holmes.

»Nein, Sir, Sie irren sich.«

»Meine Güte; ich hätte wahrhaftig darauf schwören können. Sie trugen ein Kostüm aus taubengrauer Seide mit einem Besatz von Straußenfedern.«

»Ein solches Kleid habe ich nie besessen, Sir«, antwortete die Dame.

»Aha; damit hat sich das wohl erledigt«, sagte Holmes; und mit einer Entschuldigung folgte er dem Inspektor nach draußen. Ein kurzer Gang übers Moor brachte uns zu der Senke, in der man den Leichnam gefunden hatte. An ihrem Rand stand der Ginsterstrauch, an dem der Mantel gehangen hatte.

»In jener Nacht herrschte kein Wind, wie ich hörte«, sagte Holmes.

»Nein; aber sehr heftiger Regen.«

»In diesem Fall ist der Mantel nicht gegen die Ginstersträucher geweht, sondern hingehängt worden.«

»Ja, er wurde über den Strauch gebreitet.«

»Sie wecken mein Interesse. Wie ich sehe, ist der Boden ganz erheblich zertrampelt worden. Zweifellos sind seit Montagnacht viele Füße darübergelaufen.«

»Man hat hier nebenan eine Matte hingelegt, und auf der haben wir alle gestanden.«

»Ausgezeichnet.«

»In dieser Tasche habe ich einen von den Stiefeln, die Straker trug, einen von Fitzroy Simpsons Schuhen und ein altes Hufeisen von Silberstern.«

»Mein lieber Inspektor, Sie übertreffen sich selbst!«

Holmes nahm die Tasche und schob, indem er in die Senke abstieg, die Matte etwas weiter zur Mitte hin. Dann streckte er sich der Länge nach darauf aus, stützte das Kinn auf die Hände und unterzog den zertrampelten Erdboden vor ihm einer sorgfältigen Untersuchung.

»Hallo!« sagte er plötzlich, »was ist denn das?«

Es war ein halbverbranntes Wachsstreichholz, das so schmutzbedeckt war, daß es zunächst wie ein kleiner Holzspan aussah.

»Ich kann mir nicht erklären, wie ich das übersehen konnte«, sagte der Inspektor mit ärgerlichem Gesicht.

»Es war nicht zu sehen, im Schlamm versunken. Ich habe es nur gesehen, weil ich danach gesucht habe.«

»Was! Sie haben erwartet, es zu finden?«

»Ich hielt es für nicht unwahrscheinlich.« Er nahm die Stiefel aus der Tasche und verglich die Abdrücke beider mit den Spuren auf dem Boden. Dann stieg er zum Rand der Senke hinauf und kroch zwischen den Farnsträuchern und Büschen umher.

»Ich fürchte, es gibt keine weiteren Spuren«, sagte der Inspektor. »Ich habe den Boden hundert Yards nach jeder Richtung sorgfältig abgesucht.«

»Sieh da!« sagte Holmes und stand auf. »Dann werde ich nicht die Unverschämtheit haben, es noch einmal zu tun, nach dem, was Sie sagen. Aber ich würde gern einen kleinen Spaziergang übers Moor machen, bevor es dunkel wird, damit ich morgen das Gelände kenne, und ich denke, ich werde als Glücksbringer dieses Hufeisen einstecken.«

Colonel Ross, der wegen des bedächtigen und systematischen Vorgehens meines Gefährten gewisse Anzeichen von Ungeduld hatte erkennen lassen, schaute auf seine Uhr.

»Es wäre mir recht, wenn Sie mit mir zurückkämen, Inspektor«, sagte er. »Es gibt da einige Punkte, zu denen ich gern Ihren Rat hätte, insbesondere dazu, ob wir es der Öffentlichkeit nicht schuldig sind, den Namen unseres Pferdes von der Starterliste für den Cup zu streichen.«

»Ganz und gar nicht«, rief Holmes mit Bestimmtheit. »Ich würde den Namen stehen lassen.«

Der Colonel verbeugte sich. »Es freut mich sehr, Ihre Meinung gehört zu haben«, sagte er. »Sie finden uns im Hause des armen Straker, wenn Sie Ihren Spaziergang beendet haben, und dann können wir gemeinsam nach Tavistock fahren.«

Er kehrte mit dem Inspektor um, während Holmes und ich gemächlich übers Moor gingen. Die Sonne schickte sich an, hinter den Ställen von Capleton zu versinken, und die weite, abfallende Ebene vor uns war von einem Goldton angehaucht, der sich zu einem satten Rotbraun vertiefte, wo die welken Farne und Brombeersträucher das Abendlicht einfingen. Aber die Herrlichkeiten der Landschaft waren an meinen Gefährten, der tief in Gedanken versunken war, ganz und gar verschwendet.

»Es verhält sich so, Watson«, sagte er schließlich. »Wir können die Frage, wer John Straker ermordet hat, einstweilen außer acht lassen und uns darauf beschränken, herauszufinden, was aus dem Pferd geworden ist. Einmal angenommen, es ist während oder nach der Tragödie durchgegangen, wohin könnte es dann gelaufen sein? Das Pferd ist ein ausgesprochenes Herdentier. Wenn man es sich selbst überließe, würde es instinktiv entweder nach King's Pyland zurückkehren oder nach Capleton hinüberlaufen. Warum sollte es im Moor herumirren? Gewiß wäre es mittlerweile gesehen worden. Und warum sollten Zigeuner es entführen? Diese Leute machen sich stets davon, wenn sie von Scherereien hören, denn sie wollen nicht von der Polizei belästigt werden. Sie hätten keine Hoffnung, ein solches Pferd verkaufen zu können. Sie würden ein großes Risiko eingehen und nichts gewinnen, wenn sie es raubten. So viel ist sicher klar.«

»Wo ist es also?«

»Ich habe bereits gesagt, daß es nach King's Pyland oder nach Capleton gelaufen sein muß. Es ist nicht in King's Pyland, mithin ist es in Capleton. Lassen Sie uns das als Arbeitshypothese annehmen und sehen, wohin es uns führt. Dieser Teil des Moors ist, wie der Inspektor bemerkt hat, sehr hart und trocken. Aber gegen Capleton hin neigt es sich, und von hier aus können Sie erkennen, daß dort drüben eine langgestreckte Senke liegt, die Montagnacht sehr feucht gewesen sein muß. Wenn unsere Annahme richtig ist, dann muß das Pferd sie durchquert haben, und wir sollten an dieser Stelle nach seinen Spuren suchen.«

Wir waren während dieses Gesprächs flott weitermarschiert und erreichten binnen weniger Minuten die fragliche Senke. Auf Holmes' Bitte ging ich an ihrem rechten und er an ihrem linken Rand entlang, aber ich hatte noch keine fünfzig Schritte getan, als ich ihn einen Ruf ausstoßen hörte und sah, wie er mir zuwinkte. In der weichen Erde vor ihm zeichnete sich deutlich die Spur eines Pferdes ab, und das Hufeisen, das er aus der Tasche zog, paßte genau in die Abdrücke.

»Da sehen Sie den Wert der Phantasie«, sagte Holmes. »Das ist genau die Eigenschaft, die Gregory fehlt. Wir haben uns vorgestellt, was hätte passiert sein können, sind von dieser Annahme ausgegangen und sehen uns bestätigt. Gehen wir weiter.«

Wir überquerten den sumpfigen Grund und gingen über eine Viertelmeile trockenen, harten Grasbodens. Wieder fiel das Gelände ab, und wieder stießen wir auf die Spuren. Dann verloren wir sie für eine halbe Meile aus den Augen, nur um sie recht nahe bei Capleton wieder aufzufinden. Es war Holmes, der sie als erster sah, und er blieb stehen und deutete mit einem Ausdruck des Triumphs darauf. Neben der Spur des Pferdes war die eines Menschen erkennbar.

»Vorher war das Pferd allein«, rief ich aus.

»Ganz recht. Vorher war es allein. Hallo! Was ist das?«

Die Doppelspur bog scharf ab und führte in Richtung King's Pyland. Holmes pfiff, und wir folgten ihr. Er hatte den Blick auf die Fährte gerichtet, doch ich schaute zufällig ein Stückchen nach einer Seite und sah zu meiner Überraschung dieselben Spuren in der Gegenrichtung wieder zurückführen.

»Eins zu null für Sie, Watson«, sagte Holmes, als ich darauf aufmerksam machte; »Sie haben uns einen weiten Weg erspart, der uns nur wieder auf unsere eigenen Spuren gebracht hätte. Wir wollen der zurückkehrenden Fährte folgen.«

Wir mußten nicht weit gehen. Sie endete bei der asphaltierten Auffahrt, die zu den Toren der Capleton-Stallungen führte. Als wir nähertraten, kam ein Stallbursche aus einem Gebäude gerannt.

»Hier wird nicht rumgelungert«, sagte er.

»Ich wollte nur eine Frage stellen«, sagte Holmes, Daumen und Zeigefinger in die Westentasche gesteckt. »Wäre ich zu zeitig dran, um Ihren Vorgesetzten, Mr. Silas Brown, anzutreffen, wenn ich morgen früh um fünf Uhr vorspräche?«

»Meine Güte, Sir, wenn jemand da ist, dann er, denn er ist immer als erster auf den Beinen. Aber da ist er, Sir, und kann Ihre Fragen selbst beantworten. Nein, Sir, nein; das kostet mich die Stellung, wenn er sieht, daß ich von Ihnen Geld annehme. Hinterher, wenn's Ihnen recht ist.«

Während Sherlock Holmes die Half-crown7, die er aus der Tasche gezogen hatte, wieder einsteckte, kam ein grimmig dreinschauender, älterer Mann, der eine Jagdpeitsche schwang, durchs Tor geschritten.

»Was ist los hier, Dawson?« schrie er. »Kein Getratsche! Geh an deine Arbeit. Und Sie – was zum Teufel wollen Sie hier?«

»Zehn Minuten mit Ihnen reden, Verehrtester«, sagte Holmes mit seiner allersüßesten Stimme.

»Ich habe keine Zeit, mit jedem Rumtreiber zu reden. Wir wollen hier keine Fremden. Scheren Sie sich weg, sonst haben Sie plötzlich einen Hund am Hals.«

Holmes beugte sich vor und flüsterte dem Trainer etwas ins Ohr. Dieser fuhr heftig zusammen und errötete bis zu den Haarwurzeln.

»Das ist eine Lüge!« brüllte er. »Eine infernalische Lüge!«

»Sehr wohl! Sollen wir uns hier in aller Öffentlichkeit darüber streiten oder lieber in Ihrem Wohnzimmer darüber sprechen?«

»Na gut, kommen Sie herein, wenn Sie wollen.«

 

Holmes lächelte. »Ich werde Sie nicht länger als ein paar Minuten warten lassen, Watson«, sagte er. »Alsdann, Mr. Brown, ich stehe ganz zu Ihrer Verfügung.«

Es vergingen volle zwanzig Minuten, und alles Rot war zu Grau verblaßt, ehe Holmes und der Trainer wieder auftauchten. Nie habe ich bei einem Menschen eine solche Veränderung gesehen, wie sie in dieser kurzen Zeit bei Silas Brown bewirkt worden war. Sein Gesicht war aschfahl, Schweißperlen glitzerten auf seiner Stirn, und seine Hände zitterten so sehr, daß die Jagdpeitsche wie ein Zweig im Wind schwankte. Auch sein tyrannisches, anmaßendes Gebaren war restlos verschwunden, und er kroch an der Seite meines Gefährten her wie ein Hund neben seinem Herrn.

»Ihre Anweisungen werden ausgeführt. Es wird ausgeführt«, sagte er.

»Und daß mir ja kein Fehler vorkommt«, sagte Holmes und sah sich nach ihm um. Sein Gegenüber winselte, als er die Drohung in seinem Blick las.

»O nein, es wird kein Fehler vorkommen. Es wird da sein. Soll ich es vorher noch verändern oder nicht?«

Holmes dachte einen Moment nach und brach dann in Gelächter aus.

»Nein«, sagte er. »Ich werde Ihnen deswegen schreiben. Keine Tricks jetzt, sonst –«

»Oh, Sie können mir vertrauen, Sie können mir vertrauen!«

»Sie müssen an dem Tag darum besorgt sein, als wäre es Ihr eigenes.«

»Sie können sich auf mich verlassen.«

»Ja, ich glaube, das kann ich. Nun denn, Sie werden morgen von mir hören.« Er wandte sich auf dem Absatz um, wobei er die zitternde Hand, die der andere ihm hinhielt, nicht beachtete, und wir machten uns nach King's Pyland auf.

»Eine vollkommenere Mischung aus Tyrann, Feigling und Heimtücker als Meister Silas Brown ist mir nur selten begegnet«, bemerkte Holmes, während wir zusammen zurückwanderten.

»Dann hat er also das Pferd?«

»Er hat sich herauszuwinden versucht, aber ich habe ihm so genau geschildert, was er an jenem Morgen getan hat, daß er überzeugt ist, ich hätte ihn dabei beobachtet. Natürlich haben Sie die eigenartig viereckige Spitze der Fußabdrücke bemerkt und daß seine Stiefel ihnen genau entsprachen. Ferner hätte natürlich kein Subalterner so etwas zu tun gewagt. Ich habe ihm geschildert, wie er, seiner Gewohnheit entsprechend, als erster auf den Beinen war und ein fremdes Pferd übers Moor irren sah; wie er zu ihm hinging und wie erstaunt er war, als er an dem weißen Stern, der dem Favoriten den Namen gegeben hat, erkannte, daß der Zufall das einzige Pferd in seine Gewalt gebracht hatte, das jenes, auf das er sein Geld gesetzt hatte, schlagen konnte. Dann habe ich ihm geschildert, wie es seine erste Regung war, es nach King's Pyland zurückzubringen, und der Teufel ihm gezeigt hatte, auf welche Art er das Pferd bis nach dem Rennen verstecken konnte, und wie er es nach Capleton geführt und dort verborgen hatte. Nachdem ich ihm jede Einzelheit erzählt hatte, gab er auf und dachte nur noch an seine eigene Haut.«

»Aber seine Ställe sind durchsucht worden.«

»Ach, ein alter Roßtäuscher wie er kennt manche Schliche.«

»Aber haben Sie keine Angst, das Pferd weiter in seiner Gewalt zu lassen, wo er doch jedes Interesse daran hat, es zu verletzen?«

»Mein lieber Freund, er wird es hüten wie seinen Augapfel. Er weiß, daß er nur dann auf Milde hoffen kann, wenn er Silberstern unversehrt herausgibt.«

»Colonel Ross hat mir nicht gerade den Eindruck gemacht, als würde er je Milde walten lassen.«

»Die Angelegenheit liegt nicht in Colonel Ross' Händen. Ich folge meinen eigenen Methoden und sage so viel oder so wenig, wie es mir beliebt. Das ist der Vorteil, wenn man nicht in amtlichem Auftrag handelt. Ich weiß nicht, ob Sie es bemerkt haben, Watson, aber das Verhalten des Colonel mir gegenüber war ein klein wenig herablassend. Ich bin mittlerweile dazu aufgelegt, mir auf seine Kosten einen kleinen Spaß zu machen. Sagen Sie wegen des Pferdes nichts zu ihm.«

»Gewiß nicht, ohne Ihre Erlaubnis.«

»Und natürlich ist all das ein ziemlich unbedeutender Fall, verglichen mit der Frage, wer John Straker ermordet hat.«

»Und der wollen Sie sich jetzt widmen?«

»Ganz im Gegenteil, wir beide fahren mit dem Nachtzug nach London zurück.«

Ich war wie vom Donner gerührt von den Worten meines Freundes. Wir waren erst seit ein paar Stunden in Devonshire, und daß er eine Untersuchung aufgab, die er so brillant begonnen hatte, war mir völlig unbegreiflich. Ich konnte ihm kein weiteres Wort entlocken, bis wir beim Haus des Trainers angelangt waren. Der Colonel und der Inspektor erwarteten uns im Wohnzimmer.

»Mein Freund und ich kehren mit dem Mitternachtsexpress in die Stadt zurück«, sagte Holmes. »Es war bezaubernd, in Ihrem vortrefflichen Dartmoor-Klima ein wenig frische Luft zu schnappen.«

Der Inspektor riß die Augen auf, und des Colonels Lippen kräuselten sich zu einem verächtlichen Lächeln.

»Sie geben es also auf, den Mörder des armen Straker dingfest zu machen«, sagte er.

Holmes zuckte die Achseln. »Dem stehen gewiß große Schwierigkeiten entgegen«, sagte er. »Dennoch bin ich voller Zuversicht, daß Ihr Pferd nächsten Dienstag starten wird, und bitte Sie, Ihren Jockey bereitzuhalten. Dürfte ich um eine Photographie von Mr. John Straker bitten?«

Der Inspektor nahm eine aus einem Umschlag in seiner Tasche und reichte sie ihm.

»Mein lieber Gregory, Sie nehmen alle meine Wünsche vorweg. Wenn ich Sie bitten dürfte, einen Moment hier zu warten, ich habe noch eine Frage, die ich dem Dienstmädchen stellen möchte.«

»Ich muß sagen, daß ich von unserem Londoner Berater ziemlich enttäuscht bin«, sagte Colonel Ross rundheraus, als mein Freund aus dem Zimmer gegangen war. »Ich sehe nicht, daß wir irgendwie weiter gekommen wären als vor seiner Ankunft.«

»Zumindest haben Sie seine Zusicherung, daß Ihr Pferd laufen wird«, sagte ich.

»Ja, seine Zusicherung habe ich«, sagte der Colonel mit einem Achselzucken. »Aber das Pferd wäre mir lieber.«

Ich wollte gerade etwas zur Verteidigung meines Freundes entgegnen, als er wieder das Zimmer betrat.

»Nun denn, Gentlemen«, sagte er, »ich bin dann soweit für Tavistock.«

Als wir in die Kutsche stiegen, hielt uns einer der Stallburschen die Tür auf. Holmes schien plötzlich ein Gedanke zu kommen, denn er beugte sich vor und berührte den Burschen am Ärmel.

»Sie haben da ein paar Schafe in der Koppel«, sagte er. »Wer kümmert sich um sie?«

»Ich, Sir.«

»Haben Sie in letzter Zeit bemerkt, daß ihnen etwas fehlt?«

»Nun ja, Sir, nichts sehr Bedeutendes; aber drei von ihnen lahmen seit kurzem, Sir.«

Ich erkannte, daß Holmes äußerst befriedigt war, denn er kicherte und rieb sich die Hände.

»Ein Glückstreffer, Watson; ein ausgesprochener Glückstreffer!« sagte er und kniff mich in den Arm. »Gregory, darf ich Ihrer Aufmerksamkeit diese außergewöhnliche Epidemie bei den Schafen anempfehlen. Fahren Sie los, Kutscher!«

Colonel Ross trug immer noch eine Miene zur Schau, die seine geringe Meinung von den Fähigkeiten meines Gefährten zeigte, aber dem Gesicht des Inspektors sah ich an, daß seine Aufmerksamkeit aufs höchste erregt war.

»Sie halten das für wichtig?« fragte er.

»Überaus.«

»Gibt es noch irgendeinen anderen Umstand, auf den Sie meine Aufmerksamkeit lenken möchten?«

»Auf das merkwürdige Ereignis mit dem Hund in der Nacht.«

»Der Hund hat in der Nacht nichts getan.«

»Genau das war eben das merkwürdige Ereignis«, bemerkte Sherlock Holmes.

Vier Tage später saßen Holmes und ich wieder im Zug nach Winchester, um uns das Rennen um den Wessex Cup anzusehen. Colonel Ross holte uns verabredungsgemäß am Bahnhof ab, und wir fuhren in seiner vierspännigen Kutsche zur Rennbahn außerhalb der Stadt. Sein Gesicht war ernst und sein Verhalten äußerst kalt.

»Ich habe keine Spur von meinem Pferd gesehen«, sagte er.

»Ich nehme an, Sie würden es erkennen, wenn Sie es sähen?« fragte Holmes.

Der Colonel war sehr ärgerlich. »Ich bin schon zwanzig Jahre auf der Rennbahn, aber so eine Frage hat man mir noch nie gestellt«, sagte er. »Ein Kind würde den Hengst mit seiner sternförmigen Blesse und der weißen Vorderfessel erkennen.«

»Wie stehen die Wetten?«

»Das ist ja das Merkwürdige. Gestern hätten Sie fünfzehn zu eins bekommen, aber die Quote ist niedriger und niedriger geworden, und mittlerweile gibt es kaum noch drei zu eins.«

»Hm!« sagte Holmes. »Jemand weiß etwas, das ist klar!«

Als die Kutsche bei der Tribüne anhielt, warf ich einen Blick auf die Startertafel. Dort stand:

WESSEX-POKAL. Einsatz 50 Sovs. pro Starter8, halb Reugeld9. Alle Einsätze zuzüglich 1000 Sovs. dem Sieger. Für Vier- und Fünfjährige. £ 300 dem Zweiten, £ 200 dem Dritten. Neue Bahn (1 Meile und 5 Furlongs).

1. Mr. Heath Newtons The Negro (rote Kappe, zimtfarbene Jacke).

2. Colonel Wardlaws Pugilist (rosa Kappe, blauschwarz gestreifte Jacke).

3. Lord Backwaters Desborough (gelbe Kappe, schwarze Jacke mit gelben Ärmeln).

4. Colonel Ross' Silberstern (schwarze Kappe, rote Jacke).

5. Duke of Balmorals Iris (gelbe Kappe, gelbschwarz gestreifte Jacke).

6. Lord Singlefords Rasper (purpurne Kappe, rote Jacke mit schwarzen Ärmeln).

»Wir haben unser zweites Pferd zurückgezogen und uns ganz auf Ihr Wort verlassen«, sagte der Colonel. »Nanu, was ist denn das? Silberstern Favorit?«

»Fünf zu vier gegen Silberstern10!« tönte es vom Buchmacherplatz. »Fünf zu vier gegen Silberstern! Fünfzehn zu fünf gegen Desborough! Fünf zu vier auf das Feld!«

»Da, die Nummern auf der Startertafel«, rief ich. »Sie sind alle sechs da.«

»Alle sechs da! Dann läuft mein Pferd«, rief der Colonel in großer Aufregung. »Aber ich sehe ihn nicht. Meine Farben sind noch nicht vorbeigekommen.«

»Es sind erst fünf vorbeigekommen. Das muß er sein.«

Als ich das sagte, fegte ein mächtiger Brauner aus dem Führring und kanterte an uns vorbei, auf dem Rücken das wohlbekannte Schwarz und Rot des Colonels.

»Das ist nicht mein Pferd«, schrie der Besitzer. »Dieses Tier hat kein einziges weißes Haar am Körper. Was haben Sie da getan, Mr. Holmes?«

»Gemach, gemach, wir wollen sehen, wie er sich anstellt«, sagte mein Freund ungerührt. Er schaute ein paar Minuten durch meinen Feldstecher. »Kapital! Ein ausgezeichneter Start!« rief er plötzlich aus. »Da kommen sie durch den Bogen!«

Von unserer Kutsche aus hatten wir eine prachtvolle Aussicht, als das Feld in die Gerade bog. Die sechs Pferde lagen so dicht beieinander, daß man sie mit einem Teppich hätte zudecken können, aber nach halbem Einlauf schob sich das Gelb-Schwarz des Capleton-Stalls nach vorn. Bevor sie jedoch auf unserer Höhe waren, wurde Desboroughs Vorstoß abgefangen, und das Pferd des Colonels löste sich plötzlich und passierte den Pfosten gute sechs Längen vor seinem Rivalen, während Duke of Balmorals Iris gerade noch den dritten Platz belegte.

»Jedenfalls ist es mein Rennen«, keuchte der Colonel und strich sich mit der Hand über die Augen. »Ich gebe zu, daß ich daraus einfach nicht schlau werde. Meinen Sie nicht, Sie haben Ihr Geheimnis lange genug für sich behalten, Mr. Holmes?«

»Gewiß, Colonel. Sie sollen alles erfahren. Lassen Sie uns zusammen hinübergehen und einen Blick auf das Pferd werfen. Da ist er«, fuhr er fort, als wir den Waagring betraten, zu dem nur Besitzer und ihre Freunde Zutritt haben. »Sie müssen ihm lediglich Stirn und Vorderfessel mit Spiritus abwaschen, und Sie werden feststellen, daß er immer noch der gute alte Silberstern ist.«

»Sie rauben mir den Atem!«

»Ich fand ihn in den Händen eines Fälschers und nahm mir die Freiheit, ihn so starten zu lassen, wie er hierhergeschickt wurde.«

»Mein lieber Sir, Sie haben Wunder gewirkt. Das Pferd sieht sehr fit und gesund aus. Es ist in seinem ganzen Leben noch nicht besser gelaufen. Ich muß Ihnen tausendmal Abbitte tun, daß ich Ihre Fähigkeiten in Zweifel gezogen habe. Sie haben mir einen großen Dienst erwiesen, indem Sie das Pferd wiedergefunden haben. Sie würden mir einen noch größeren erweisen, wenn Sie den Mörder von John Straker zu fassen bekämen.«

»Das habe ich bereits«, sagte Holmes gelassen.

 

Der Colonel und ich starrten ihn verblüfft an. »Sie haben ihn! Wo ist er denn?«

»Er ist hier.«

»Hier? Wo?«

»Eben jetzt in meiner Gesellschaft.«

Der Colonel errötete vor Ärger. »Ich anerkenne durchaus, daß ich Ihnen verpflichtet bin, Mr. Holmes«, sagte er, »aber was Sie eben gesagt haben, kann ich nur als sehr schlechten Scherz oder als Beleidigung auffassen.«

Sherlock Holmes lachte. »Ich versichere Ihnen, daß ich Sie nicht mit dem Verbrechen in Verbindung gebracht habe, Colonel«, sagte er; »der wirkliche Mörder steht unmittelbar hinter Ihnen!«

Er ging an ihm vorbei und legte die Hand auf den schimmernden Hals des Hengstes.

»Das Pferd?« riefen der Colonel und ich gleichzeitig.

»Jawohl, das Pferd. Und es verringert vielleicht seine Schuld, wenn ich sage, daß es in Notwehr gehandelt hat und daß John Straker ein Mann war, der Ihr Vertrauen nicht verdiente. Aber da ertönt die Glocke; und da ich beim nächsten Rennen gewiß eine Kleinigkeit gewinne, möchte ich eine ausführlichere Erklärung auf einen passenderen Zeitpunkt verschieben.«

An diesem Abend hatten wir die Ecke eines Pullman-Wagens für uns, während wir nach London zurückbrausten, und ich bilde mir ein, daß die Reise sowohl für Colonel Ross als auch für mich recht kurzweilig war, während wir der Erzählung unseres Begleiters von den Ereignissen lauschten, die sich in jener Montagnacht bei den Trainingsställen von Capleton zugetragen hatten, und von den Mitteln, mit denen er sie enträtselt hatte.

»Ich gebe zu«, sagte er, »daß alle Theorien, die ich aufgrund der Zeitungsberichte aufgestellt hatte, gänzlich falsch waren. Und doch gab es darin Hinweise, wenn sie auch von anderen Einzelheiten überlagert wurden, die ihre wahre Bedeutung verschleierten. Ich fuhr in der Überzeugung nach Devonshire, daß Fitzroy Simpson der wahre Übeltäter sei, obgleich ich natürlich erkannte, daß das Beweismaterial gegen ihn keineswegs vollständig war.

In der Kutsche, gerade als wir beim Haus des Trainers anlangten, fiel mir mit einemmal die immense Bedeutung des Hammelcurry auf. Sie erinnern sich vielleicht, daß ich zerstreut war und sitzen blieb, nachdem Sie alle schon ausgestiegen waren. Ich wunderte mich insgeheim, wie um alles in der Welt ich einen so offen zutageliegenden Hinweis hatte übersehen können.«

»Ich muß zugeben«, sagte der Colonel, »daß ich auch jetzt noch nicht erkenne, inwiefern uns das weiterhilft.«

»Es war das erste Glied in der Kette meiner Überlegungen. Opiumpulver ist keineswegs geschmacklos. Sein Geschmack ist nicht unangenehm, aber er ist wahrnehmbar. Mischte man es unter irgendein gewöhnliches Gericht, so würde der Essende es zweifellos herausschmecken und wahrscheinlich nicht mehr weiteressen. Ein Curry war genau das Mittel, mit dem sich dieser Geschmack überdecken ließ. Aber es gibt keine vorstellbare Möglichkeit, wie dieser Fitzroy Simpson, ein Fremder, hätte bewirken können, daß an diesem Abend in der Familie des Trainers Curry serviert wurde, und daß er wie von ungefähr gerade an dem Abend mit Opiumpulver zur Stelle war, als ein Gericht auf den Tisch kam, das den Geschmack unkenntlich machen würde, wäre ein zu ungeheuerlicher Zufall, als daß man ihn annehmen dürfte. Das ist undenkbar. Somit scheidet Simpson als Verdächtiger aus, und unsere Aufmerksamkeit konzentriert sich auf Straker und seine Frau, die beiden einzigen Menschen, die sich an diesem Abend Hammelcurry als Nachtessen hatten aussuchen können. Das Opium wurde hineingemischt, nachdem die Mahlzeit für den Stalljungen beiseitegestellt worden war, denn die anderen aßen ohne üble Nachwirkungen dasselbe zu Abend. Wer von ihnen hatte also Zugang zu dem Gericht, ohne von dem Mädchen bemerkt zu werden?

Bevor ich diese Frage entschied, war mir die Bedeutung der Tatsache aufgegangen, daß der Hund nicht angeschlagen hatte, denn ein richtiger Schluß zieht unvermeidlich andere nach sich. Der Vorfall mit Simpson hatte mir gezeigt, daß man in den Ställen einen Hund hielt, aber obwohl jemand hineingegangen war und ein Pferd herausgeholt hatte, hatte er nicht laut genug gebellt, um die beiden Burschen auf dem Futterboden zu wecken. Offensichtlich war der mitternächtliche Besucher jemand, den der Hund gut kannte.

Ich war bereits überzeugt, oder fast überzeugt, daß John Straker mitten in der Nacht zu den Ställen hinübergegangen war und Silberstern herausgeholt hatte. In welcher Absicht? Offensichtlich keiner ehrenhaften, denn warum sollte er seinen eigenen Stallburschen betäuben? Und doch wußte ich einfach nicht, warum. Es hat schon Fälle gegeben, wo Trainer sich große Summen Geldes verschafft haben, indem sie durch Mittelsmänner gegen ihre eigenen Pferde gesetzt und dann durch Betrug dafür gesorgt haben, daß sie nicht gewannen. Manchmal ist es ein Jockey, der das Pferd verhält. Manchmal ist es ein sichereres und subtileres Mittel. Was war es hier? Ich hoffte, daß mir sein Tascheninhalt zu einer Schlußfolgerung verhelfen könnte.

Und so war es auch. Gewiß erinnern Sie sich noch an das eigenartige Messer, das man in der Hand des Toten fand, ein Messer, das kein vernünftiger Mensch als Waffe wählen würde. Es handelte sich, wie Dr. Watson uns gesagt hat, um ein Messer, wie man es für die heikelsten Operationen verwendet, die die Chirurgie kennt. Und in dieser Nacht sollte es für eine heikle Operation verwendet werden. Bei Ihrer umfassenden Erfahrung im Renngeschäft wissen Sie bestimmt, Colonel Ross, daß es möglich ist, einen winzigen Einschnitt in die Sprunggelenksehne des Pferdes vorzunehmen, und zwar so, daß bei geschickter Ausführung11 nicht die geringste Spur zu sehen ist. Ein so behandeltes Pferd geht geringfügig lahm, was man auf Überanstrengung beim Training oder einen leichten Anfall von Rheumatismus, jedoch niemals auf unsaubere Machenschaften zurückführen würde.«

»Schurke! Schuft!« schrie der Colonel.

»Da haben wir die Erklärung, warum John Straker das Pferd ins Moor hinaus führen wollte. Ein so feuriges Geschöpf hätte bestimmt den größten Tiefschläfer geweckt, wenn es den Stich des Messers gespürt hätte. Es war absolut notwendig, es im Freien zu tun.«

»Ich war blind!« rief der Colonel. »Natürlich, deswegen brauchte er auch die Kerze und zündete das Streichholz an.«

»Zweifellos. Aber bei der Überprüfung seiner Habseligkeiten hatte ich das Glück, nicht nur die Methode des Verbrechens, sondern auch dessen Motive zu entdecken. Als Mann von Welt wissen Sie, Colonel, daß man nicht die Rechnungen anderer Leute mit sich herumträgt. Wir haben größtenteils schon genug damit zu tun, unsere eigenen zu begleichen. Daraus folgerte ich, daß Straker ein Doppelleben führte und ein zweites Domizil unterhielt. Die Art der Rechnung bewies, daß eine Dame in den Fall verwickelt war, und zwar eine mit kostspieligen Neigungen. So großzügig Sie gegenüber Ihren Angestellten auch sind, erwartet man doch kaum, daß diese für ihre Frauen Ausgehkleider für zwanzig Guineen kaufen können. Ich habe Mrs. Straker nach dem Kleid befragt, ohne daß es ihr auffiel, und als ich mich vergewissert hatte, daß es nie bis zu ihr gelangt war, notierte ich mir die Adresse der Putzmacherin mit dem Gefühl, bloß dort vorsprechen zu müssen mit Strakers Photographie, und der sagenumwobene Darbyshire würde sich von selbst erledigen.

Von da an war alles ganz klar. Straker hatte das Pferd in eine Senke geführt, wo man sein Licht nicht würde sehen können. Simpson hatte auf der Flucht sein Halstuch fallen lassen, und Straker hatte es aufgehoben, vielleicht in der Absicht, damit dem Pferd das Bein festzubinden. In der Senke war er hinter das Pferd getreten und hatte ein Streichholz entzündet, doch Silberstern, von dem plötzlichen Aufleuchten erschreckt und aus dem seltsamen Instinkt heraus, der Tiere spüren läßt, wenn jemand Übles im Sinn hat, schlug aus, und das Hufeisen traf Straker voll an der Stirn. Trotz des Regens hatte er schon seinen Mantel ausgezogen, um sein heikles Vorhaben auszuführen, und so schlitzte das Messer seinen Oberschenkel, als er fiel. Habe ich mich verständlich ausgedrückt?«

»Wunderbar!« rief der Colonel aus. »Wunderbar! Als wären Sie dabeigewesen.«

»Mein letzter Schuß war, das gebe ich zu, ein ausgesprochener Glückstreffer. Es kam mir in den Sinn, daß ein geriebener Mensch wie Straker etwas so Heikles wie das Anschneiden einer Sehne nicht ohne ein wenig Übung wagen würde. Woran konnte er üben? Mein Blick fiel auf die Schafe, und ich stellte eine Frage, die, sehr zu meiner Überraschung, ergab, daß meine Vermutung zutraf.«

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