Gesicht der Angst

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Из серии: Ein Zoe Prime Fall #3
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KAPITEL FÜNF

Zoe blinzelte und blickte in beide Richtungen, die Gasse hinauf und hinunter, in den Himmel. Es war ein kühler, klarer Tag. Über ihnen verlief ein schmaler hellblauer Streifen, der sich in der Ferne verengte, eingefasst von schmutzigen Ziegelsteinen der Wohnblocks und Lagerhallen auf beiden Seiten.

Dies hier war weit entfernt von dem Luxus und den wogenden Palmen von Beverly Hills. Die Straßen und Bürgersteige waren rissig und grau, und das nächste Gebäude am Ende der Gasse war ein Obdachlosenheim. Dennoch kosteten die auf der anderen Seite hoch aufragenden Atelierwohnungen wahrscheinlich mehr als ihr Elternhaus im ländlichen Vermont.

Es lag immer noch etwas in der Luft, obwohl die Leiche mittlerweile entfernt worden war. Zoe konnte es noch immer riechen. Es würde wahrscheinlich noch eine Weile so riechen. Der Gestank von brennendem menschlichem Fleisch und Haaren hing in der Luft.

Zoe lenkte ihre Aufmerksamkeit wieder auf den Boden und den Fleck mit den versengten Markierungen, die über den Asphalt der Straße liefen und sich über Ziegelsteine, Müllsäcke und Spritzen verteilten. Die meisten von ihnen waren verbrannt und hatten sich nun zu unkenntlichen schwarzen Plastikformen zusammengefunden, die den atemraubenden Gestank, der einem die Tränen in die Augen trieb, weiter verströmten. Der Mörder hatte sich anscheinend nicht sonderlich um die Präsentation gekümmert.

Oder vielleicht doch, und es war ein Hinweis darauf, dass diese junge Frau, diese Callie Everard, auch nur ein weiteres Stück Müll sei.

Shelley sprach mit einem örtlichen Polizeibeamten in der Nähe, während die anderen ihre Sachen zusammenpackten. Das Forensik-Team war bereits vor Ort gewesen, und die Leiche war zum Testen mitgenommen worden. Alles, was noch zu tun blieb, war, all die kleinen Beweisstücke aufzusammeln, die in den Trümmern des Mordes zurückgelassen worden waren. Eine Beamtin mit kurz geschnittenem Haar und kleiner Statur packte diese behutsam, eins nach dem anderen, in Plastikbeutel.

Zoe beobachtete sie nur mit vagem Interesse. Ihr Verstand arbeitete mit Hochdruck und verfolgte, was ihre Augen sahen. Die Frau hatte mit dem Kopf neben den umgestürzten Müllsäcken gelegen, ihre Füße zeigten zur Mitte der Gasse, in einem Winkel von dreißig Grad zur Mittellinie. Sie war höchstwahrscheinlich nach hinten gefallen, nachdem ihre Kehle durchgeschnitten worden war. Unter der Verbrennung und den geschmolzenen Körperflüssigkeiten befanden sich noch einige Blutspuren, die diese Theorie untermauerten.

Sie wussten bereits eine Menge über sie, über Callie, und den Rest würden sie herausfinden, wenn sie ihre Freunde und ihre Familie befragten. Sie würden herausfinden, wer sie war und was sie tat. Vielleicht sogar, warum jemand sie töten wollte.

Der Mörder selbst war ein anderes Thema. Wo war er oder sie? Zoe konnte auf dem Boden der Gasse nichts sehen. Nichts, was ihn oder sie verraten könnte. Es gab keinen einzigen Fußabdruck, in einer Gasse, die täglich von Dutzenden, wenn nicht Hunderten von Menschen durchquert wurde. Es gab kein weggeworfenes Feuerzeug oder einen Streichholzstummel, keinen leeren Benzinkanister. Jeglicher Beweis, der die Anwesenheit des Mörders hätte verraten können, war weggespült worden, als hätte jemand Wasser über die Leiche kippte, um zu sie zu löschen und womöglich ein Leben zu retten, das bereits vorbei war.

Was hatte er als Brennstoff verwendet? Als Beschleuniger? Wo hatte er gestanden? Was für eine Waffe hatte er benutzt, um ihre Kehle durchzuschneiden? Oder sie, versuchte Zoe sich selbst zu ermahnen. Sie wollte nicht vorzeitig urteilen und aufgeschlossen bleiben; die Statistiken waren jedoch eindeutig. Dieses Maß an Gewalt würde normalerweise auf einen männlichen Verdächtigen hindeuten.

Es war das „normalerweise“, das das Problem war. Zoe verließ sich gern auf ihr Bauchgefühl, aber solange sie sich nicht zu über neunzig Prozent sicher war, war sie nicht bereit, alles darauf zu setzen. Selbst wenn sie sich in der Vergangenheit so sicher gewesen war, hatte sie sich gelegentlich geirrt. Im Moment hatte sie überhaupt nichts, worüber sie sich sicher sein konnte, nicht, wenn es um diesen Mörder ging.

Vielleicht würde sie mehr wissen, wenn sie sich die Leiche anschaute. Sie ging zurück zu Shelley, die gerade ihr Gespräch beendete.

„Hier ist nichts“, sagte Zoe, sobald Shelley fertig war.

„Ich bin nicht wirklich überrascht“, antwortete Shelley. Sie blickte hoch zu den Fenstern der darüber liegenden Wohnungen, geschwärzt nicht durch den aufsteigenden Rauch einer menschlichen Leiche, sondern durch jahrelangen Schmutz und Vernachlässigung. „Niemand in der Nachbarschaft sah etwas. Sie sagten, sie hätten zuerst den Rauch gerochen. Ein paar Anwohner eilten mit einem Eimer Wasser hinaus, um zu versuchen, zu helfen, aber das war alles. Keine Verdächtigen, niemand, der zusah. Keine Zeugen, die um diese Zeit jemanden in die Gasse gehen sahen.“

„Gibt es Material von den Überwachungskameras?“ Zoe nickte in Richtung einer der Kameras, die sich direkt am Eingang auf der Seite befand, an dem sie zuvor vorbeigegangen waren.

Shelley schüttelte den Kopf. „Die Polizisten sagen, dass sie gar nicht angeschlossen sind. Jedes Mal, wenn sie versuchten, sie zu reparieren, kamen Kinder und besprühten die Linse mit Farbe oder kappten die Drähte. Sie behielten sie als Attrappen, um Leute abzuschrecken, aber sie funktionieren seit Jahren nicht mehr richtig.“

„Die Anwohner wissen das sicherlich“, betonte Zoe.

„Eigentlich weiß es auch jeder, der den Zustand des Wohnblocks sieht.“

Zoe sah sich noch einmal um, zufrieden, dass es hier nichts mehr zu lesen gab. Die einzige Geschichte, die ihr die Zahlen erzählten, betraf den Bau der Gebäude und die Gasse selbst. Da sie bezweifelte, dass die Höhe der Mauern irgendeinen Einfluss auf das Verbrechen hatte, waren sie hier fertig. „Dann mal auf zum Gerichtsmediziner“, sagte sie entschlossen und ging auf ihren Mietwagen zu.

***

Zoe verzog die Nase und versuchte ihre Atmung zu kontrollieren. Sie musste sich nur konzentrieren. Sie atmete durch den Mund ein, um dem schlimmsten Geruch zu entgehen, und durch die Nase wieder aus. Shelley bemühte sich, nicht zu würgen, aber Zoe versuchte, sich davon nicht ablenken zu lassen.

„Das ist ein wirklich schlimmer Fall“, sagte die Gerichtsmedizinerin. Sie war eine große junge Frau, braun gebrannt, mit blonden Haaren und zu viel Lidschatten für jemanden, der im medizinischen Bereich arbeitete – selbst, wenn sie nur mit Toten zu tun hatte.

Zoe ignorierte sie und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Leiche. Falls diese überhaupt noch als Leiche bzw. als Körper definiert werden konnte; Kohle war wohl eine passendere Bezeichnung. Der Mann, den Shelley als John Dowling bezeichnet hatte, war kein Mann mehr. Die Beine waren in einem seltsamen Winkel zur Seite gedreht, die Arme lagen eng am Körper an, der Kopf war rund, aber es hätte genauso gut sein können, dass es sich um ein Stück Müll handelte, um den Teil eines Schiffsbauchs oder um ein antikes Relikt, das in den Ruinen von Pompeji verbrannt war.

Die zweite Leiche war besser zu erkennen, wenn auch nur knapp. Auch wenn die Verbrennungen nicht so stark waren, war der Geruch bei diesem Körper schlimmer. Vielleicht, weil sie mitten am Tag der Hitze der kalifornischen Sonne ausgesetzt worden war. Die junge Frau. Die Teile des zerlumpten und verbrannten Fleisches, die noch an ihr hingen, wirkten irgendwie obszön. Dreizehn Zentimeter Bein über dem Fuß, fünf Zentimeter an jedem Ellbogen, ein Stück Haar vom Hinterkopf, das durch den Kontakt mit dem feuchten Boden geschützt worden war. Noch länger in den Flammen, und sie hätte genauso ausgesehen wie er.

„Gab es Vor-Verbrennungswunden?“, fragte Zoe, ohne aufzuschauen.

Die Gerichtsmedizinerin zögerte eine Sekunde lang.

„Bevor sie verbrannt wurden, meine ich“, drückte sich Zoe klarer aus.

„Ich weiß, was es bedeutet“, antwortete die Gerichtsmedizinerin. Zum ersten Mal lag ein Hauch von Spannung in ihrer ruhigen Stimme. Alles an ihr war für Zoe irritierend. „Soweit ich es bei diesem Leichenzustand beurteilen kann, gab es nur einen einzigen Schnitt an der Kehle. Das reichte um sie zu töten. Außer, dass sie dann noch in Brand gesteckt wurden, wurde ihnen nichts weiter angetan.“

Zoe beugte sich herunter und untersuchte die Kehle. Das Mädchen hatte ihre Hände an der Kehle als sie verbrannte, deswegen waren ihre Finger miteinander verschmolzen. Es gab jedoch immer noch eine deutliche und sichtbare Wunde hinter ihren Händen, die an der Stelle, an der ihr Kopf nach hinten gekippt war, klaffte.

„Sehr präzise“, sagte sie mehr zu sich selbst als zu den anderen.

„Es passierte sehr schnell“, stimmte die Gerichtsmedizinerin ihr zu. „Wer auch immer der Mörder war, er wusste, was er tat. Er kam von hinten, handelte schnell, in beiden Fällen ein einziger Schnitt durch den Hals, um ihn vollständig zu öffnen.“

Zoe richtete sich auf und sah Shelley an, um deutlich zu machen, dass diese nächste Aussage für sie bestimmt war und nicht für die andere irritierende Anwesenheit im Raum. „Dies war kein Verbrechen, das aus einem Impuls heraus begangen wurde. Es war geplant, der Ort wurde sorgfältig ausgewählt.“

„Glaubst du, dass die Opfer mit Absicht ausgewählt wurden?“

Zoe kaute einen Moment auf ihrer Lippe herum und schaute zwischen den Leichen hin und her. Was hatten sie gemeinsam, außer dass sie so verbrannt waren?

„Es ist noch zu früh, um das zu sagen“, entschied sie. „Wir müssen mehr über Callie Everard erfahren. Wenn wir eine Verbindung zwischen ihnen finden können, gut. Wenn nicht, könnte eine größere Botschaft dahinterstecken.“

„Ein Serienmörder?“, stöhnte Shelley. „Ich hoffe, sie sind ein heimliches Liebespaar oder so was. Ich hatte gehofft, dass wir vielleicht am Wochenende nach Hause könnten.“

 

„Viel Glück dabei“, sagte die Gerichtsmedizinerin, eine Aussage, die absolut unnötig war.

Zoe warf einen bösen Blick in ihre Richtung und war zumindest ein wenig beruhigt, wie erschrocken die Frau wirkte und sich daraufhin mit einem Metalltablett mit Instrumenten in der Nähe beschäftigte, anstatt ihren Blick zu erwidern.

„Wir haben einen Raum, der im örtlichen Revier auf uns wartet“, sagte Shelley. „Der Polizist, mit dem ich sprach, versicherte mir, dass der Kaffee schrecklich ist, aber auch, dass die Klimaanlage nicht wirklich funktioniert, wir können uns also wirklich auf etwas freuen.“

„Geh du vor“, sagte Zoe und wünschte, sie könnte das genauso lustig finden wie ihre Kollegin.

KAPITEL SECHS

Mit einem Seufzer nahm sich Zoe einen Stuhl, setzte sich und griff nach der ersten Akte, die man ihnen hingelegt hatte.

„Danke, Captain Warburton, wir wissen Ihre Hilfe wirklich zu schätzen“, sagte Shelley nahe der Tür. Sie war wirklich gut im Smalltalk und immer höflich, was Zoe hingegen schon immer schwergefallen war.

Es fühlte sich gut an, Teil eines Teams zu sein, das funktionierte. Jeder von ihnen hatte seine eigenen Aufgaben. Shelley verstand die Menschen so, wie Zoe die Zahlen, und obwohl keiner von ihnen wirklich verstehen konnte, was der andere tat, erleichterte es zumindest den Ablauf.

Obwohl sie gut zwanzig Minuten lang die Akten studiert hatten, kamen sie nicht weiter. Zwar war es den Anwohnern gelungen, einige Aussagen zu sammeln, wodurch sie viel mehr Informationen hatten als in den ursprünglichen Akten, die sie im Flugzeug durchgesehen hatten, aber nichts davon schien hilfreich zu sein. Zoe warf ihre Seiten mit einem frustrierten Stöhnen auf den Tisch.

„Warum kann es eigentlich nie eine eindeutige Verbindung geben?“

„Weil dann alles von lokalen Kräften übernommen werden könnte und wir dann arbeitslos wären“, sagte Shelley ruhig. „Lass uns alles nochmal durchgehen, was wir bereits wissen. Vielleicht hilft es, wenn wir es laut aussprechen.“

„Das bezweifle ich sehr. Die beiden waren wirklich sehr unterschiedliche Menschen.“

„Lass es uns trotzdem versuchen. John war ein gesunder Kerl, oder? Ein Fitness-Freak.“

„Sein Mitbewohner sagte, dass er fast seine ganze Freizeit im Fitnessstudio verbrachte. Er war topfit.“

„Und ein netter Kerl war er auch.“

Zoe zog eine Grimasse. „Er spendete Geld für wohltätige Zwecke und half sonntags in einer Suppenküche aus. Das bedeutet nicht unbedingt, dass er ein netter Kerl war. Viele Leute tun so etwas, weil sie etwas zu verbergen haben.“

„Du stellst nur Vermutungen an“, sagte Shelley und schüttelte den Kopf. „Wir können da nichts hineininterpretieren. Er hatte einen sauberen Lebensstil. Keine Drogen, keine Verurteilungen, nicht einmal Probleme am Arbeitsplatz.“

„Sie war das genaue Gegenteil.“ Zoe zeigte bei ihrer letzten Aussage auf ein Foto einer lächelnden Callie Everard, die in die Kamera strahlte und eine Bierflasche in der Hand hielt, während ein betrunken aussehender junger Mann seinen Arm um ihre Schultern legte.

„Nun, vielleicht auch nicht. Ja, sie hatte früher in ihrem Leben einige Probleme mit Drogen. Aber sie ging mit dreiundzwanzig Jahren in eine Entzugsklinik, schloss das Programm erfolgreich ab und hatte seitdem nichts mehr mit Drogen zu tun. Sie war seit ein paar Jahren clean. Wieder auf dem richtigen Weg.“

Zoe zog es in Betracht. „Vielleicht könnte da die Verbindung liegen. Beide führten ein sauberes Leben, wenn auch erst seit kurzem.“

„Du meinst eine Art Fitnesskult oder so etwas?“, fragte Shelley.

Zoe warf ihr einen finsteren Blick zu.

„Na ja, es ist möglich“, sagte Shelley. „Sieh dir nur mal den ganzen Kram mit den Heimtrainern an. Und dieser Selbsthilfekult, der die Frauen dazu gebracht hat, mit dem Gründer zu schlafen und ihm ihr ganzes Geld zu schenken.“

„Okay, ich denke, in diesem Punkt muss ich dir zustimmen.“ Zoe war nicht mit allen Einzelheiten vertraut, aber sie hatte gehört, wie die Fälle erwähnt wurden. Shelley hatte in gewisser Weise Recht. Man wusste nie wirklich, was unter der Oberfläche vor sich ging, bis man sich tief genug hineingegraben hatte.

Sie sah sich Fotos von beiden an und suchte nach Gemeinsamkeiten. Solche Fälle waren immer frustrierend. Mit einem einzigen Opfer konnte man die Beweise zielstrebig analysieren und sich auf jedes kleine Detail dieser einen Person fixieren. Bei drei oder mehr Opfern hatte man genügend Datenpunkte, um ein Muster zu bilden. Um zu erkennen, dass der Mörder eventuell nur in bestimmte Regionen reiste oder nur Blondinen unter 1,70 m im Visier hatte oder dass an jedem Tatort ein bestimmtes Muster gefunden wurde.

Mit zwei Opfern war es viel schwieriger. Man konnte die Dinge nicht auf die gleiche Weise zusammensetzen. Eine zahlenmäßige Ähnlichkeit könnte ein Zufall sein, der durch ein neues Opfer wieder zerstört werden würde. Man könnte bemerken, dass es sich bei beiden Alterszahlen um Primzahlen handelte, nur damit sich das später wieder als bedeutungslos erwies. Man konnte nicht erkennen, was wichtig und was nur eine falsche Fährte war, die das eigene Gehirn, ohne wirkliche Absicht, zusammengebastelt hatte.

„Es gibt eine Sache, die sie gemeinsam haben“, sagte Zoe und klopfte auf die Bilder. „Tätowierungen. Dowling hatte einen Tiger auf seinem linken Bizeps. Everard hatte eine Rose aus Punkten auf dem rechten Oberschenkel. Sie war auf dem Weg zu einem Freund, um sich ein neues Motiv auszusuchen.“

Shelley zuckte die Achseln. „Rechtfertigt das wirklich eine Verbindung? Viele Menschen haben Tattoos.“

Zoe blätterte durch die Fotos und bemerkte weitere Tattoos, die auf verschiedenen Aufnahmen zu sehen waren. Sie stammten fast alle von den Social-Media-Profilen der Opfer, und es sah so aus, als seien beide stolz darauf gewesen. Stolz darauf, sie zu zeigen. Hatte das etwas zu bedeuten? „Sie hatten beide mehr als ein Tattoo. Schau mal. Beide waren quasi voll davon. Dowlings ganzes Bein, bis hinunter zum Fuß, war mit ihnen bedeckt. Und Everard hatte noch welche auf ihrem Rücken und Bauch.“

„Ich bin mir immer noch nicht sicher, ob das wirklich etwas bedeutet. Es ist heutzutage einfach eine kulturelle Sache.“

Zoe rümpfte die Nase. „Eine kulturelle Sache?“

„Ja, klar. Ist dir das bisher nie aufgefallen? Viele Leute lassen sich jetzt mit Anfang zwanzig tätowieren. Sie bedecken ihren ganzen Körper. Sogar Gesichter und Hände. Viele Promis zum Beispiel. Justin Bieber, Ariana Grande und so. Rapper, Sänger und sogar Sportler. Das ist im Moment halt cool.“

„Tattoos im Gesicht oder auf den Händen klingt nach einer wirklich schlechten Idee“, sagte Zoe und zog dabei eine Grimasse. „Stell dir mal vor, du kannst diesen Fehler, den du in jungen Jahren gemacht hast, nie wirklich verstecken, nämlich den Fehler, sich für immer etwas Dummes auf den Körper tätowieren zu lassen.“

„Irgendwo muss es doch noch eine Verbindung zwischen ihnen geben“, fuhr Shelley fort. „Ich wette, es war in ihrem Privatleben. Vielleicht kannten sie beide dieselben Leute. Aus einer Bar oder einem Club, eine Gruppe von Freunden, ein Cousin, der einen Cousin kannte. Vielleicht waren sie zusammen auf derselben Veranstaltung, ohne es überhaupt zu wissen. Wir müssen einfach weitergraben, bis wir es finden.“

Zoe nickte. „Nun, dann weiß ich, wo wir anfangen sollten.“ Sie nahm Callie Everards Akte und notierte sich die darin aufgeführte Adresse. „Der Freund, den sie besuchen wollte: Javier Santos.

KAPITEL SIEBEN

Zoe lief in dem kleinen Atelierraum umher und betrachtete die Illustrationen und Zeichnungen, die überall verstreut lagen. Ob Javier talentiert war oder nicht, konnte sie nicht beurteilen, dafür hatte sie nicht genug Ahnung von Kunst. Man sah allerdings sofort, dass er sehr produktiv war.

„Sind dies alles Entwürfe für Tattoos?“, fragte sie und versuchte, sie sich einzuprägen.

„Ja, klar.“ Javier nickte. „Die meisten von ihnen wurden schon benutzt. Ich kann Ihnen aber auch etwas Einzigartiges zaubern, wenn sie möchten.“

Zoe warf ihm einen Blick zu, um zu sehen, ob er einen Witz machte. Er meinte es anscheinend ernst, was das Ganze noch schlimmer machte.

„Ich glaube eher nicht“, sagte sie und hoffte, dass er das Thema nicht wieder anschneiden würde. Sie wollte die Befragung nicht jetzt schon ruinieren (noch bevor sie überhaupt angefangen hatte), indem sie ihm erzählte, was sie von Menschen hielt, die sich tätowieren ließen.

Besonders Tattoos wie diese hier: zufällige, wahllose Kunstwerke. Zoe konnte es gerade noch verstehen, wenn sich jemand die Karikatur eines Frauengesichts als Kunstwerk an die Wand hängen oder in ein Buch kleben würde. Aber es für den Rest des Lebens auf den Körper tätowieren zu lassen? Das Gesicht dieser Person zu tragen – dieser fiktiven Person, die weder einem selbst noch sonst jemandem etwas bedeutet, die nur aus den zufälligen Tagträumen eines Künstlers geboren wurde?

Es kam ihr wirklich seltsam, vor, und sie wusste nicht, ob sie jemandem vertrauen konnte, der bereit war, aus etwas so Bedeutungslosem ein dauerhaftes Statement zu machen.

„Wie Sie wollen.“ Javier zuckte mit den Achseln, offensichtlich störte ihn ihr Desinteresse nicht wirklich. „Ich weiß nicht, was ich mit dem Entwurf machen soll, den ich für Callie gemacht habe. Ich habe erst überlegt, ob ich ihn mir selbst stechen lassen soll, aber das könnte etwas seltsam sein.“

„Warum?“, fragte Zoe. Wenn jemand, der in einen Mordfall verwickelt war, dachte, dass etwas „seltsam“ erschien, war es ihrer Erfahrung nach, eine Überprüfung wert.

„Na ja, in erster Linie war es ein Erinnerungsstück. Warten Sie, ich zeige es Ihnen.“ Javier begann, auf einem Schreibtisch zwischen Entwürfen und Transparentpapieren zu wühlen, und zog schließlich ein fertig aussehendes Design hervor. Es war mit schweren schwarzen Strichen getuscht, die die Form eines fliegenden Vogels umrissen.

„Was ist das?“, fragte Zoe und ignorierte dabei den Blick, den Javier ihr zuwarf, weil sie seine Kunst nicht sofort verstanden hatte.

„Es ist ein Rabe. Basierend auf dem Mythos von Muninn“, begann er.

„Aus dem Altnordischen“, unterbrach ihn Zoe. Hier konnte sie zumindest beweisen, dass sie etwas wusste. „Ein Vogel, der den Gott Odin besuchte. Deshalb nannten Sie es ein Erinnerungsstück.“

„Ja, und wegen der Blumen.“ Javier deutete auf die Blumensträuße hinter dem schwarzen Vogel, die in sanften Lila- und Violetttönen gefärbt waren. „Es sind Zinnien, die die Erinnerung an einen verlorenen Freund darstellen.“

„Um wen geht es?“, fragte Shelley leise und betrachtete den Entwurf, während sie über Zoes Schulter blickte.

„Einen alten Freund.“ Javier verzog den Mund und zuckte mit den Achseln. „Einen alten festen Freund, um ehrlich zu sein. Damals, als Callie, ähm …“

„Als sie auf Drogen war?“, fragte Zoe. Sie fühlte, dass Shelley neben ihr zusammenzuckte, reagierte aber nicht weiter. Welchen Sinn hatte es, um den heißen Brei zu reden? Sie wussten alle, worüber sie sprachen. Es war für keinen von ihnen ein Geheimnis.

„Ja, genau“, sagte Javier und rieb sich mit einer Hand den Nacken. „Ich wollte sagen, als sie sich in einem schlechten Umfeld bewegte, aber ja.“

„Was war denn mit den beiden?“, fragte Shelley. Ihr Tonfall war viel sympathischer als der von Zoe. Irgendwie hatte sie die Gabe, dieselben direkten Fragen zu stellen, aber sie ließ sie so viel … netter klingen.

„Er sorgte immer für Ärger. Einer aus der Gruppe, die sie überhaupt erst auf Drogen gebracht hat. Soweit ich weiß, waren sie, wenn sie nicht bekifft waren, betrunken. Und wenn sie nicht bekifft oder betrunken waren, haben sie auf der Toilette Koks geschnupft und gevögelt.“ Javier schüttelte den Kopf und holte tief Luft. „Entschuldigung. Ich mag es nicht, so an sie zu denken. So ist sie nicht wirklich. War sie nicht. Nicht die letzten Jahre, die ich sie kannte.“

„Nach der Uni wurde sie clean, oder?“, fragte Shelley.

„Ja, das stimmt. Ich half ihr dabei. Zuerst konnte sie sich die Entziehungsklinik nicht leisten, also organisierten wir eine Art Kunstflohmarkt. Wir sammelten etwas Geld für sie, ich und einige andere aus unserer Klasse. Seitdem sind wir in Kontakt geblieben.“

„Dieser Ex-Freund“, begann Zoe und versuchte, ihn auf Kurs zu halten.

„Er wurde getötet, glaube ich. Ich weiß es nicht. Callie sprach damals nicht gern über ihn. In den letzten Jahren begann sie, sich damit zu arrangieren, weiterzumachen. Ich glaube, sie hatte endlich akzeptiert, dass er schlecht für sie war, giftig. Aber das, was sie zusammen hatten, war ihr auch wichtig gewesen. Darum die Blumen. Nicht verlorene Liebe, sondern nur ein verlorener Freund.“

 

Getötet? Das hat Zoes Aufmerksamkeit geweckt. „Kennen Sie die Umstände seines Todes?“

„Es war zumindest keine Überdosis. Die Polizei ermittelte, aber ich weiß nicht, ob sie jemals jemanden festgenommen haben. Das war's. Das ist alles, was ich weiß.“

Zoe grübelte. Es wäre ein sehr verlockender roter Faden, wenn zuerst dieser mysteriöse Freund ermordet wurde und dann Callie. Sie müssten nur eine Verbindung zu Dowling finden, und schon hätten sie etwas. Vielleicht etwas, das mit Drogen zu tun hat.

Shelley sagte zwar, es sei alles nur kulturell, aber die Tätowierungen … Zoe war nie ein Fan gewesen. Sie repräsentierten eine Untergruppe der Gesellschaft, die sie öfter hinter Gittern sah als in respektablen Positionen. Mit einem Tattoo konnte man keinen guten Job bekommen. Sicherlich konnte man nicht in der Strafverfolgung tätig sein, nicht mit einem Tränen-Tattoo im Gesicht oder dem Namen des Kindes am Hals.

Die Tätowierung, die Javier für Callie entworfen hatte, war groß. Achtzehn Zentimeter von oben nach unten. Es war nichts, was man verstecken konnte. Es wurde entworfen, um gesehen zu werden. Menschen mit sichtbaren Tätowierungen, wie ihre und die von Dowling, waren normalerweise keine guten Menschen.

Die Dinge begannen einen Sinn zu ergeben. Callie und ihr Freund waren im Drogenmilieu unterwegs. Sie hingen mit der falschen Art von Menschen herum. Obwohl sie clean war, als sie starb, hatte sie die Art von Vergangenheit, die Mord anzog. Nur weil Dowling zuletzt ein sauberes Leben führte, hieß das nicht, dass er nicht schon früher in etwas verwickelt gewesen sein konnte.

„Danke, Javier“, sagte Zoe schnell. „Das hilft uns bestimmt weiter.“

„Warte mal“, unterbrach Shelley. „Ich habe da noch ein paar Fragen.“

Zoe wollte, dass sie weiterging, und bewegte sich bereits zurück zur Tür, wo sie warten konnte. Ihrer Meinung nach waren sie fertig, und sie wollte sich so schnell wie möglich auf den Weg machen. Sie wollte nicht noch mehr Zeit damit verschwenden, sich diese sinnlosen Tattoo-Zeichnungen anzusehen und mit Javier zu sprechen, der ihnen bereits das Interessanteste, was sie wissen mussten, gegeben hatte.

„Fällt ihnen jemand ein, der Callie hätte schaden wollen?“

Javier schüttelte den Kopf. „Das habe ich der Polizei schon gesagt. Sie war ein süßes Mädchen. Mittlerweile, meine ich. Sie hat sich wirklich verändert. Niemand wollte, dass ihr etwas zustößt.“

Hatte sie sich wirklich verändert, fragte sich Zoe. Konnte ein Leopard seine Flecken ändern? Callie konnte ihre ganz sicher nicht verändern – nicht die, sie sich für immer in ihren Körper hatte stechen lassen. Für immer, das heißt, bis ihr Mörder sie weggebrannt hatte.

Vielleicht hing all das zusammen. Vielleicht hatte sie Gang-Tattoos, die weggebrannt werden mussten. Vielleicht sah jemand in ihr das letzte Glied in einem mörderischen Spiel, das schon seit langer Zeit lief. Die letzte Rache für einen Drogenhändler, der aus dem Gefängnis entlassen wurde, oder für eine Biker-Gang, die jemanden loswerden musste, der ihre Regeln gebrochen hatte.

„Was ist mit heute Morgen, gestern Abend, gestern? Ist Ihnen jemand Ungewöhnliches aufgefallen?“, fragte Shelley.

„Nein, ganz und gar nicht“, sagte Javier. Er brach auf einer kleinen Bank am Tisch zusammen und vergrub sein Gesicht in den Händen. „Ich wünschte, ich wüsste mehr. Ich wünschte, ich könnte ihnen mehr erzählen, was dabei helfen würde, denjenigen zu finden, der ihr das angetan hat. Sie hat das nicht verdient.“

Aber vielleicht dachte jemand, sie hätte es verdient. Das mussten Zoe und Shelley herausfinden. Aber das würden sie nicht hier tun können.

„Wir lassen Sie jetzt mit Ihren Gedanken allein“, sagte Zoe, ein Satz, den sie schon einmal gehört hatte und von dem sie dachte, dass er zumindest ein bisschen sympathisch klang. „Wenn ihnen etwas Nützliches einfällt, melden sie sich bitte bei uns.“

Sie ignorierte den vorwurfsvollen Blick, den Shelley ihr zuwarf, weil sie nicht freundlicher war, und verließ Javiers Tattoo Höhle, froh darüber, klare Luft zu atmen und nicht mehr durch seine geschmacklosen Entwürfe abgelenkt zu werden.

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