Oliver Twist

Текст
Автор:
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Нет времени читать книгу?
Слушать фрагмент
Oliver Twist
Oliver Twist
− 20%
Купите электронную и аудиокнигу со скидкой 20%
Купить комплект за 1859  1487 
Oliver Twist
Oliver Twist
Аудиокнига
Читает Artur Ziajkiewicz
Подробнее
Oliver Twist
Аудиокнига
Читает Staff Audiolibros Colección
1365,46 
Подробнее
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

5. Kapitel.

Oliver unter neuen Umgebungen und bei einem Leichenbegängnisse.

Sobald Oliver im Laden des Leichenbestatters allein gelassen war, setzte er seine Lampe auf eine Bank, und Furcht und Grauen durchschauerte ihn. Mitten im Gemach stand ein neuer, fast fertiger Sarg; die schon zugeschnittenen, an die Wände umher gelehnten Bretter erschienen ihm beim matten Lampenlichte wie Geister. Auf dem Boden lagen große Nägel, Holzspäne, Stücke schwarzen Tuchs und Sargembleme, und an der Wand über dem Ladentische hing das grauenhafte Bild eines Leichenzuges. Die Luft war drückend heiß; sie deuchte Oliver wie Grabesluft, die Öffnung zu seiner Ruhestätte unter dem Ladentische wie ein gähnendes Grab.

Er fühlte sich allein und verlassen in der Welt, und obwohl er keinen Schmerz über Trennung von Freunden oder Angehörigen empfand, so war ihm das Herz dennoch schwer; und als er in sein enges Bett hineinkroch, wünschte er, daß es sein Sarg sein und daß er darin hinaus auf den Kirchhof getragen werden möchte, wo das hohe stille Gras über ihm wüchse und im Winde säuselte und das Läuten der alten, traurigen Turmglocke ihm schöne Träume zuführte in seinem süßen Schlummer.

Er wurde am folgenden Morgen durch ein lautes Pochen an der Ladentür aus seinem unruhigen Schlafe geweckt; dasselbe wiederholte sich, ehe er in seine Kleider schlüpfen konnte, ungefähr fünfundzwanzigmal und in ungestümer Weise. Als er die Kette zu lösen begann, hörten die Beine zu stoßen auf, und eine Stimme ließ sich vernehmen.

«Öffne die Tür, wird's bald?» rief die Stimme, die zu den Beinen gehörte.

«Sofort, Sir!» erwiderte Oliver, indem er die Kette losmachte und den Schlüssel umdrehte.

«Ich vermute, du bist der neue Lehrjunge, nicht wahr?» sprach die Stimme durch das Schlüsselloch.

«Ja, Sir!» antwortete Oliver.

«Wie alt bist du?» fragte die Stimme weiter.

«Zehn Jahre, Sir!» entgegnete Oliver.

«Dann werde ich dich prügeln, wenn ich hineinkomme», sagte die Stimme; «du wirst gleich sehen, daß ich es tue, du Armenhäusler!»

Oliver hatte schon zu oft das angedrohte Schicksal über sich ergehen lassen müssen, um den leisesten Zweifel zu hegen, daß der Besitzer der Stimme, wer es auch sein mochte, sein Versprechen wahr machen würde. Er schob den Riegel mit zitternder Hand zurück und öffnete die Tür.

Ein paar Sekunden lang blickte Oliver die Straße auf und ab, weil er glaubte, der unbekannte Besucher, der ihn durch das Schlüsselloch angeredet hatte, habe sich einige Schritte entfernt, um sich zu erwärmen; denn es war niemand zu sehen, außer einem großen Armenknaben, der auf einem Pfosten vor dem Hause saß und ein Butterbrot verzehrte.

«Verzeihen Sie, Sir,» sagte Oliver endlich, da er keinen anderen Besucher erblicken konnte, «haben Sie geklopft?»

«Ja, ich habe mit den Füßen an die Tür gestoßen», erwiderte der Armenknabe.

«Wünschen Sie einen Sarg, Sir?» fragte Oliver unschuldig.

«Es wird nicht lange währen, bis du selbst einen brauchst,» war die zornige Antwort, «wenn du Scherz mit Leuten treibst, die dir zu befehlen haben. Weißt du nicht, wer ich bin? Noah Claypole, und du bist mir untergeben, Musjö Ohnevater. Öffne die Fensterläden, Faulpelz!»

Oliver tat, wie ihm geheißen war, und gleich darauf erschien Mr. und Mrs. Sowerberry. Oliver und sein neuer Tyrann wurden in die Küche geschickt, um ihr Frühstück zu erhalten. Charlotte, die Köchin, bedachte Noah gut und Oliver desto schlechter, der obendrein von jenem sehr unsanft in einen dunklen Winkel gestoßen und vielfach gehänselt wurde.

Noah war ein Freischüler, aber doch keine Waise aus dem Armenhause. Sein Stammbaum war ihm sehr wohl bekannt; seine Eltern wohnten in der Nachbarschaft. Seine Mutter war eine Waschfrau und sein Vater ein pensionierter, täglich betrunkener Soldat. Die Ladenburschen nannten ihn verächtlich «Lederhose» und so fort, was er schweigend duldete, dagegen aber nunmehr mit desto größerem Übermut einen Schwächeren und Elternlosen behandelte, den er als solchen tief unter sich sah. – Welch ein köstlicher Stoff zu Betrachtungen über die liebenswürdige menschliche Natur, deren vortreffliche Eigenschaften sich beim hochstehenden Lord wie beim Armenknaben offenbaren!

Oliver hatte sich drei bis vier Wochen bei Mr. Sowerberry befunden, als derselbe einst gegen seine Hausehre die Rede auf ihn brachte. «Der Knabe sieht wirklich gut aus», bemerkte er.

«Kein Wunder,» entgegnete sie, «denn er ißt genug.»

«Er hat ein äußerst melancholisches Gesicht und sieht immer so trübselig aus, daß er wirklich einen vortrefflichen StummenA abgeben würde.»

Seine Gattin sah ihn verwundert an, und er fuhr fort: «Ich meine nicht bei Erwachsenen, sondern bei Kinderbegräbnissen. 's ist etwas Neues, auch zu dergleichen kleine Stumme zu stellen, und man kann sich etwas davon versprechen.»

Mrs. Sowerberry, die für Geschäftssachen ein gutes Verständnis besaß, war von der Neuheit des Gedankens überrascht; da es aber gegen ihre Würde verstoßen haben würde, wenn sie dies zugegeben hätte, so fragte sie nur mit großer Schärfe im Ton, warum ihr einfältiger Eheherr denn nicht schon längst daran gedacht habe, und Mr. Sowerberry, der dies richtig als Zustimmung auslegte, beschloß, Oliver in die Mysterien des Leichenbestattergeschäftes einzuweihen und sich daher von ihm zum ersten besten vorkommenden Begräbnisse begleiten zu lassen. Die Gelegenheit ließ nicht lange auf sich warten, denn eine halbe Stunde darauf erschien Bumble mit dem Auftrage zu einem Kirchspielbegräbnisse.

Mr. Sowerberry ordnete die erforderlichen Vorbereitungen an und befahl Oliver, mit ihm zu gehen. Sie begaben sich nach dem bezeichneten Hause, um das Maß zum Sarge zu nehmen, wo sich ihren Blicken eine Szene des grauenvollsten Elends darbot, die auf Oliver, obgleich er an Elend so wohl gewöhnt war, den peinlichsten Eindruck machte.

Am folgenden Tage, der rauh und regnerisch war, wiederholten sie ihren Besuch, die Leiche wurde in den Sarg gelegt, jede Anordnung war getroffen. Mr. Sowerberry sagte den Trägern, sie möchten sich sputen und den Geistlichen nicht warten lassen; es wäre schon spät. Die Träger setzten sich in eine Art von Trab, und Oliver mußte fast laufen, um mitkommen zu können. Der Geistliche war noch nicht angelangt, der Sarg wurde in einem entfernten Winkel des Kirchhofs neben der Gruft einstweilen niedergesetzt, und Mr. Sowerberry und Bumble setzten sich zum Küster in die Sakristei an das Feuer und nahmen die Zeitungen zur Hand.

Nach einer halben Stunde erschien der Geistliche, Bumble verjagte die Gassenbuben, die sich damit unterhielten, her- und hinüber über den Sarg zu springen, der Geistliche las eilend die Gebete, entfernte sich wieder, der Sarg wurde eingesenkt, die Grube zugeworfen, und alle begaben sich auf den Heimweg.

«Nun, Oliver, wie hat dir's gefallen?» fragte Mr. Sowerberry.

«Recht gut, bedanke mich, Sir!» antwortete Oliver zögernd. «Aber doch eigentlich nicht sehr gut.»

«Wirst dich schon daran gewöhnen», sagte der Leichenbesorger; «und 's ist gar nichts, wenn du's erst gewohnt bist.»

Oliver hätte gern gewußt, wie lange es gedauert, ehe Mr. Sowerberry sich daran gewöhnt, wagte jedoch nicht zu fragen und kehrte gedankenvoll mit seinem Herrn nach Hause zurück.

6. Kapitel.

In welchem Oliver kräftig auftritt.

Es trat gerade eine sehr ungesunde Zeit ein, und Oliver sammelte daher in wenigen Wochen viel Erfahrung. Die Erfolge der scharfsinnigen Spekulation Mr. Sowerberrys übertrafen alle seine Erwartungen. Die ältesten Leute wußten sich nicht zu erinnern, daß so viele Kinder an den Masern gestorben waren, und Oliver mit schwarzen, bis an die Knie herunterreichenden Hutbändern führte einen Leichenzug nach dem andern an. Die Mütter bewunderten ihn über die Maßen und waren unbeschreiblich gerührt. Da er seinen Herrn auch zu den meisten Begräbnissen von Erwachsenen begleiten mußte, um sich die für einen vollkommenen Leichenbestatter so notwendige gemessene Ruhe und Selbstbeherrschung anzueignen, so hatte er häufig Gelegenheit, die schöne Ergebung und Seelenstärke zu bemerken, welche so viele Leute bei ihren schmerzlichen Prüfungen und Verlusten beweisen.

Hatte Sowerberry zum Beispiel das Begräbnis einer reichen alten Dame oder eines reichen alten Herrn zu besorgen, der von einer großen Anzahl von Neffen und Nichten umgeben war, welche sich während seiner Krankheit vollkommen untröstlich gezeigt und ihren Schmerz nicht einmal vor den Augen des großen und größten Publikums hatten bemeistern können, so blieb es selten aus, daß sie unter sich so heiter waren, als man es nur wünschen konnte, und so froh und zufrieden miteinander redeten oder auch lachten, als wenn sie ganz und gar keine Trübsal erlebt hätten. Ehemänner ertrugen den Verlust ihrer Frauen mit der heldenmütigsten Ruhe, und Ehefrauen legten die Trauerkleider um ihre Männer auf eine Weise an, als wenn sie dadurch nicht etwa Schmerz andeuten, sondern so anziehend als möglich erscheinen wollten. Viele Damen und Herren, welche bei der Beerdigung der Verzweiflung nahe zu sein schienen, beruhigten sich schon auf dem Heimwege und waren vollkommen gefaßt, bevor die Teestunde vorüber war. Dieses alles war sehr angenehm und lehrreich anzuschauen, und Oliver sah es mit großer Bewunderung.

Daß das Beispiel so vieler Leidtragenden ihn zur Ergebung und Geduld gestimmt hätte, kann ich mit Bestimmtheit nicht behaupten, sondern vermag nur so viel zu sagen, daß er wochenlang mit Sanftmut die Tyrannei und üble Behandlung ertrug, die er von seiten Noahs erfuhr, der um so erbitterter gegen ihn wurde, weil sein Neid gegen ihn erregt worden war. Charlotte mißhandelte ihn, weil es Noah tat, und Mrs. Sowerberry war seine erklärte Feindin, weil ihr Gatte sich ihm ziemlich freundlich erwies. Und so befand sich denn Oliver bei diesen Feindschaften und fortwährender Leichenbegleitungslast nicht ganz so behaglich wie das hungrige Ferklein, das aus Versehen in die Kornkammer einer Brauerei eingeschlossen war.

 

Es muß aber jetzt ein an sich unbedeutender Vorfall erzählt werden, der jedoch eine bedeutende Veränderung mit Oliver selbst wie mit seinen Lebensschicksalen zur Folge hatte.

Sein Peiniger trieb seine gewöhnlichen Neckereien weiter als gewöhnlich und hatte es offenbar darauf angelegt, ihn außer Fassung und zum Weinen zu bringen, was ihm jedoch nicht gelingen wollte. Endlich sagte Noah scherzend, er werde nicht verfehlen zuzuschauen, wenn Oliver gehängt würde, und fügte hinzu: «Was wird aber deine Mutter dazu sagen – und wie geht's ihr denn?»

«Sie ist tot», entgegnete Oliver; «untersteh dich aber nicht, mir etwas Schlechtes über sie zu sagen.»

Oliver wurde feuerrot, als er das sagte; er atmete rasch, um Mund und Nase zuckte es ihm eigentümlich, und Claypole hielt dies für ein untrügliches Anzeichen, daß Oliver bald heftig weinen werde. In dieser Überzeugung ging er in seiner Quälerei weiter.

«Woran starb sie denn, Armenhäusler?» fragte er.

«An Kummer und Herzleid, wie mir eine unserer alten Wärterinnen gesagt hat,» erwiderte Oliver, mehr, wie wenn er mit sich selbst redete, als Noahs Frage beantwortend. «Ich glaube, daß ich's weiß, was es heißt, daran zu sterben!»

Über seine Wange rollte eine Träne hinab, Noah pfiff eine muntere Weise und sagte darauf: «Was hast du denn zu plärren – um deine Mutter?»

«Daß du mir kein Wort mehr von ihr sagst – sonst nimm dich in acht!» rief Oliver.

«Ich soll mich in acht nehmen – ich – mich in acht nehmen vor einem solchen unverschämten Tunichtgut? Und von wem soll ich kein Wort mehr sagen? Von deiner Mutter? Die mag auch die rechte gewesen sein – ha, ha, ha!»

Oliver verbiß seine Pein und schwieg. Noah nahm den Ton spöttischen Mitleids an.

«Nun, nun, sei nur ruhig; 's ist nichts mehr dran zu ändern, und ich bedaure dich, wie's alle tun. Indes ist das wahr, ich weiß es, deine Mutter taugte nichts; sie ist eine ganz verworfene Person gewesen.»

«Was sagst du?» rief Oliver rasch aufblickend.

«Eine ganz verworfene Person,» erwiderte Noah kühl, «und es war nur gut, daß sie starb, denn es würde ihr jetzt schlecht genug ergehen in der Tretmühle, wenn sie anders nicht deportiert oder gehängt worden wäre. Hab' ich nicht recht, Armenhäusler?»

Olivers Geduld war zu Ende; purpurrot vor Wut sprang er auf, warf seinen Stuhl samt dem Tische um, faßte Noah bei der Kehle, schüttelte ihn so stark, daß ihm die Zähne im Munde klapperten, sammelte seine ganze Kraft und schlug ihn mit einem einzigen Schlage zu Boden.

Eine Minute vorher hatte er das Aussehen des stillen, sanftmütigen, eingeschüchterten Kindes noch gehabt, zu dem harte Behandlung ihn gemacht hatte. Aber sein Mut war endlich erwacht; die tödliche Beleidigung, die Noah seiner toten Mutter zugefügt, hatte sein Blut in Wallung gebracht. Seine Brust hob sich, er stand aufrecht da wie ein Held, sein Auge strahlte lebhaft; sein ganzes Wesen war verändert, als er funkelnden Blickes vor dem feigen Quäler stand, der jetzt zusammengekrümmt zu seinen Füßen lag.

«Er ermordet mich!» heulte Noah. «Charlotte, Fräulein! Der neue Lehrjunge ermordet mich! Zu Hilfe, zu Hilfe! Oliver ist verrückt geworden! Char–lotte!»

Noahs Geschrei wurde durch ein lautes Aufkreischen von Charlottes Seite und durch ein lauteres von seiten Mrs. Sowerberrys beantwortet; die erstere stürzte durch eine Seitentür in die Küche, während die letztere noch auf der Treppe zauderte, bis sie sich völlig davon überzeugt hatte, daß sie näher treten konnte, ohne ihr kostbares Leben zu gefährden.

«Du verdammter Halunke!» schrie Charlotte und packte Oliver kräftig am Arme. «Du undankbarer, mordgieriger, abscheulicher Schuft!» Und dabei schlug sie unausgesetzt aus Leibeskräften auf Oliver ein.

Charlottes Faust gehörte nicht zu den leichtesten, und jetzt kam ihr auch noch Mrs. Sowerberry zu Hilfe, die in die Küche stürzte und ihn mit der einen Hand festhielt, während sie ihm mit der anderen das Gesicht zerkratzte. Bei diesem günstigen Stande der Angelegenheit erhob sich auch Noah vom Fußboden und griff ihn von hinten an.

Dieser dreifache Angriff war zu heftig, als daß er lange hätte dauern können. Als sie alle drei ermüdet waren und nicht länger zerren und schlagen konnten, schleppten sie Oliver in den Kehrichtkeller und schlossen ihn hier ein. Nachdem dies glücklich vollbracht war, sank Mrs. Sowerberry auf einen Stuhl und brach in Tränen aus.

«Um Gottes willen, sie stirbt!» rief Charlotte. «Ein Glas Wasser, liebster Noah! Spute dich!»

«O Charlotte», sagte Mrs. Sowerberry stöhnend, «was für ein Glück, daß wir nicht alle in unseren Betten ermordet worden sind!»

«Ja, Madam,» lautete die Antwort, «das ist in der Tat ein Glück von Gott. Der arme Noah! Er war schon halb ermordet, als ich hineinkam.»

«Armer Junge!» sagte Mrs. Sowerberry, indem sie mitleidig auf den Knaben blickte. «Was sollen wir anfangen?» fuhr sie nach einer Weile fort. «Der Herr ist nicht daheim; es ist kein Mann im ganzen Hause, und er wird die Kellertür in zehn Minuten eingestoßen haben.»

«Mein Gott, mein Gott!» jammerte Charlotte, «ich weiß es nicht, Ma'am! Aber vielleicht schicken wir nach der Polizei.»

«Oder nach dem Militär!» warf Claypole ein.

«Nein, nein!» erwiderte Mrs. Sowerberry, die sich in diesem Augenblick an Olivers alten Freund erinnerte. «Lauf zu Mr. Bumble, Noah, und bitte ihn, unverzüglich herzukommen und keine Minute zu verlieren. Es tut nichts, wenn du auch ohne Mütze gehst. Mach hurtig!»

Ohne sich die Zeit zu einer Antwort zu lassen, stürzte Noah davon, und die ihm begegnenden Leute waren sehr erstaunt, einen Armenknaben barhäuptig in voller Eile durch die Straßen rennen zu sehen.

7. Kapitel.

Oliver bleibt widerspenstig.

Noah Claypole unterbrach seinen hastigen Lauf nicht ein einziges Mal und kam ganz atemlos vor dem Tor des Armenhauses an. Hier blieb er einen Augenblick stehen, um sein Gesicht in möglichst klägliche Falten zu legen, klopfte dann laut an die Pforte und zeigte dem öffnenden Armenhäusling eine so jammervolle Miene, daß selbst dieser, der sein ganzes Leben lang nichts als jammervolle Mienen um sich gesehen hatte, erschrocken zurückfuhr und fragte: «Was hast du denn nur, Junge?»

«Mr. Bumble, Mr. Bumble!» rief Noah in gut geheuchelter Angst und in so lautem, erregtem Tone, daß Mr. Bumble, der zufällig in der Nähe war, es nicht nur hörte, sondern auch dadurch in solche Aufregung geriet, daß er ohne seinen dreieckigen Hut in den Hof stürzte – ein deutlicher Beweis dafür, daß selbst ein Kirchspieldiener unter Umständen seine Fassung verlieren und seine persönliche Würde außer acht lassen kann.

«Oh, Mr. Bumble – o Sir!» schrie Noah; «Oliver, Sir – Oliver Twist!»

«Wie – was? Ist er – ist er davongelaufen?»

«Nein, Sir; er ist ganz ruchlos geworden. Er hat mich und Charlotte und Missis ermorden wollen! O Sir! o Sir – mein Nacken, mein Kopf, mein Leib, mein Leib!»

Sein Geheul zog den Herrn mit der weißen Weste herbei.

«Sir,» rief Bumble demselben entgegen, «hier ist ein Knabe aus der Freischule, der von Oliver Twist beinahe ermordet worden wäre!»

«Bei Gott,» bemerkte der Herr mit der weißen Weste, «das habe ich gewußt. Ich hatte von Anfang an eine seltsame Ahnung, daß dieser freche, kleine Taugenichts noch gehängt werden würde.»

«Er hat auch die Magd ermorden wollen», sagte Bumble mit bleichem Gesicht.

«Und die Frau», fiel Noah ein.

«Und nicht wahr, Noah, sagtest du nicht, auch seinen Herrn?» fragte Bumble.

«Nein, der Herr war nicht zu Hause, sonst hätte er ihn auch gemordet», antwortete Noah. «Aber der Bösewicht sagte, er wollte es tun.»

«Sagte er, daß er es tun wollte, mein Kind?» fragte der Herr mit der weißen Weste.

«Ja, Sir!» erwiderte Noah. «Und Missis wünscht zu wissen, ob Mr. Bumble wohl nicht einen Augenblick Zeit hätte, um zu kommen und ihn zu züchtigen, da der Herr nicht zu Hause ist.»

«Gewiß, mein Junge, gewiß», sagte der Herr in der weißen Weste, indem er freundlich lächelte und Noahs Kopf streichelte. «Du bist ein guter Junge, ein sehr guter Junge. Hier hast du einen Penny. Bumble, gehen Sie sofort mit Ihrem Stabe zu Sowerberry und sehen Sie zu, was am besten zu tun ist. Schonen Sie ihn nicht, Bumble, und sagen Sie auch Sowerberry, er solle in Zukunft strenge mit ihm verfahren.»

«Ich werde alles zu Ihrer vollen Zufriedenheit besorgen, Sir!» erwiderte Bumble, indem er sich zusammen mit Noah auf den Weg machte.

Als sie an ihrem Bestimmungsorte anlangten, war die Lage der Dinge dort unverändert. Sowerberry war noch nicht zurückgekehrt, und Oliver schlug fortwährend mit unverminderter Heftigkeit an die Kellertür. Mr. Bumble donnerte mit seinem Fuße von außen an die Tür, um sein Kommen anzuzeigen, legte dann seinen Mund ans Schlüsselloch und sagte in tiefem, eindringlichem Tone: «Oliver.»

«Laßt mich hinaus!» rief Oliver von innen.

«Kennst du meine Stimme, Oliver?»

«Ja!»

«Fürchtest du dich nicht – zitterst du nicht bei meiner Nähe?»

«Nein!»

Bumble war starr vor Erstaunen.

«Er muß verrückt geworden sein!» bemerkte Mrs. Sowerberry.

«'s ist keine Verrücktheit, Ma'am,» sagte Bumble, «'s ist das Fleisch!»

«Das Fleisch?!»

«Ja, ja, Ma'am! Sie haben ihn überfüttert, Ma'am. Hätten Sie ihm nichts als Haferbrei gegeben, so würde er nimmermehr so geworden sein.»

Mrs. Sowerberry machte sich wegen ihrer Gutherzigkeit und Freigebigkeit die bittersten Vorwürfe, so unschuldig in Gedanken, Worten und Werken sie auch war.

Bumble erklärte, daß nur Einsperren und sodann strenge Diät den rebellischen Sinn des kleinen Galgenstricks würden bändigen können. In diesem Augenblick kehrte Sowerberry zurück, dem sofort der Vorfall mit solchen Übertreibungen erzählt wurde, daß er die Tür öffnete, den Knaben beim Kragen faßte und herauszog.

Olivers Kleider waren zerrissen, sein Gesicht war verschwollen und zerkratzt, und sein Haar hing ihm wirr über die Stirn herab. Die zornige Röte war jedoch aus seinem Gesicht nicht verschwunden, und als er aus seinem Gefängnis gezogen wurde, warf er Noah einen drohenden Blick zu.

«Nun, du bist ja ein netter Bursche», sagte Sowerberry, schüttelte Oliver derb und gab ihm rechts und links ein paar Ohrfeigen.

«Er beschimpfte meine Mutter», sagte Oliver.

«Und wenn er das auch tat, du undankbarer Bösewicht», versetzte Mrs. Sowerberry. «Sie hat's verdient, was er von ihr gesagt hat, und noch viel mehr.»

«Nein, nein!» rief Oliver. «'s ist eine Lüge!»

Mrs. Sowerberry brach in eine Tränenflut aus, und dies ließ ihrem Gatten keine Wahl. Denn wenn er nicht auf der Stelle Oliver nachdrücklich gezüchtigt hätte, so würde er sich, gemäß allen Ehezänkereiregeln, als eine Nachtmütze, ein liebloser Ehemann, ein Ungeheuer gezeigt haben. So ungern er es daher auch tun mochte, er züchtigte Oliver dermaßen, daß die nachträgliche Anwendung des Rohrs Mr. Bumbles jedenfalls sehr unnötig war. Oliver wurde darauf bei Wasser und Brot wieder eingesperrt und spät abends unter Noahs unbarmherzigem Gespött zu Bett gewiesen.

Erst hier ließ er seinen Gefühlen freien Lauf. Er hatte allen Spott und Hohn mit hartnäckiger Verachtung, die schmerzlichsten Streiche ohne Schrei ertragen und würde nicht geweint haben, wenn man ihn lebendig geröstet hätte; ein solcher Stolz war in seiner Brust erwacht. Nun aber, da er allein und gänzlich sich selber überlassen war, fiel er auf die Knie nieder, bedeckte das Gesicht mit den Händen und weinte solche Tränen, wie Gott sie den Betrübten und Geängsteten zur Erleichterung ihres Herzens sendet, wie nur wenige menschliche Wesen, so jung an Jahren wie Oliver, sie zu vergießen Ursache hatten.

Es währte lange, bevor er sich wieder erhob. Das Licht war tief heruntergebrannt, er horchte und blickte vorsichtig umher, öffnete leise die Tür und sah hinaus. Die Nacht war finster und kalt. Die Sterne schienen ihm weiter von der Erde entfernt zu sein, als er sie je gesehen; die Bäume, von keinem Winde bewegt, standen wie Geister da. Er verschloß die Tür wieder, knüpfte seine wenigen Habseligkeiten in ein Taschentuch und setzte sich auf eine Bank, um den Anbruch des Tages zu erwarten.

 

Mit dem ersten durch die Ritzen der Fensterladen eindringenden Lichtstrahle stand er auf, öffnete die Tür zum zweiten Male, blickte furchtsam umher, zögerte ein paar Augenblicke, trat hinaus und ging, ungewiß, wohin er sich wenden sollte, rasch vorwärts. Nach einiger Zeit gewahrte er, daß er sich ganz in der Nähe der Anstalt befände, in der er seine ersten Kinderjahre verlebt hatte. Es war niemand zu hören oder zu sehen; er blickte in den Garten hinein. Einer seiner kleinen, weit jüngeren Spielkameraden reinigte ein Beet vom Unkraut. Sie hatten miteinander gar oft Hunger, Schläge und Einsperrung erduldet.

«Pst! Dick!» rief Oliver.

Der Knabe lief herbei und streckte ihm die abgemagerten Hände durch die Gittertür entgegen.

«Ist schon jemand auf, Dick?»

«Keiner als ich.»

«Sag' ja nicht, daß du mich gesehen hast, Dick; ich bin fortgelaufen; konnt's nicht mehr aushalten und will mein Glück in der Welt versuchen. Ich muß weit fort von hier; weiß nicht, wohin. Wie blaß du aussiehst!»

«Ich habe den Doktor sagen hören, daß ich sterben müßte. Ach, das ist schön, daß du hier bist! Aber halt dich nicht auf; lauf fort!»

«Ja, ja, leb wohl! Ich weiß gewiß, wir sehen uns wieder, Dick. Du wirst noch recht glücklich werden.»

«Das hoff' ich – wenn ich tot bin; eher nicht. Ich weiß es, Oliver, der Doktor hat recht; denn ich träume so viel vom Himmel und von Engeln und freundlichen Gesichtern, die ich niemals sehe, wenn ich aufwache. Leb wohl, Oliver; geh mit Gott! Gottes Segen begleite dich!»

Oliver hatte noch nie des Himmels Segen auf sich herabrufen hören, und nie vergaß er diese Segnung von den Lippen eines Kindes unter allen Leiden, Sorgen, Mühen, Kämpfen und Wechselschicksalen seines Lebens.

Купите 3 книги одновременно и выберите четвёртую в подарок!

Чтобы воспользоваться акцией, добавьте нужные книги в корзину. Сделать это можно на странице каждой книги, либо в общем списке:

  1. Нажмите на многоточие
    рядом с книгой
  2. Выберите пункт
    «Добавить в корзину»