Weihnachtsmärchen

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Die Zauberglocken

Eine Geistergeschichte von einigen Glocken, die ein altes

Jahr aus-und ein neues einläuteten

71

Das erste Viertel

Es gibt nicht viele Menschen - und da es wünschenswert ist, daß

zwischen einem Erzähler und seinem Leser möglichst von

vornherein ein gegenseitiges Einverständnis bestehe, so bitte ich,

darauf zu achten, daß ich meine Bemerkung nicht auf junge oder

kleine Leute beschränke, sondern sie auf alle ausdehne, mögen

sie nun klein oder groß, jung oder alt, erst in der Entwicklung

oder bereits wieder im Abstieg ihres Lebens sein - ich sage, es

gibt nicht viele Menschen, die gern in einer Kirche schlafen

möchten. Ich meine damit nicht während der Predigt und bei

warmem Wetter, was ein- oder zweimal tatsächlich

vorgekommen ist, sondern in der Nacht und al ein. Ich weiß,

sehr viele Menschen würden am hellichten Tag über eine solche

Zumutung aufs höchste überrascht sein, aber ich habe die Nacht

im Auge, und der Fal muß bei Nacht erörtert werden. Ich will

meine Behauptung in jeder stürmischen Winternacht erfolgreich

beweisen. Es braucht nur einer aus der Menge meiner Gegner

mit mir allein auf einem alten Friedhof vor einer alten Kirchentür

zusammenzutreffen und mir im voraus die Ermächtigung zu

erteilen, ihn, falls es zu seiner Überzeugung notwendig wäre, bis

zum Morgen dort einzuschließen.

Denn der Nachtwind hat die unheimliche Gewohnheit, ein

derartiges Gebäude stöhnend zu umwandeln, mit unsichtbarer

Hand an Fenster und Türen zu rütteln und irgendeine Spalte

Hand an Fenster und Türen zu rütteln und irgendeine Spalte

aufzuspüren, durch die er eintreten kann. Ist er endlich drinnen,

so winselt und heult er, um wieder hinauszukommen, wie

jemand, der nicht gefunden hat, was er sucht, wobei er sich nicht

begnügt, durch die Gänge zu wandern, um die Säulen zu

schlüpfen und die tieftönende Orgel zu probieren, sondern sich

auch zum Dach erhebt und das Gebälk zu erschüttern strebt;

dann wirft er sich verzweifelnd auf die Steine unten und dringt

murrend in die Grüfte.

Endlich kommt er verstohlen wieder herauf, schleicht an den

Wänden hin und scheint in Flüstertönen die Inschriften, die den

Toten geweiht sind, zu lesen. Bei einigen bricht er in schril e Töne

aus, wie Gelächter, während er an ändern ächzt und klagt, als

wäre er voll Trauer. In der Nähe des Altars stimmt er einen sehr

gespenstischen Ton an und singt in seiner wilden Weise von

Unrecht und Missetaten. Er hat eine schreckliche Stimme -

dieser Wind, der um Mitternacht in einer Kirche singt!

Aber hoch oben im Turm! Dort brüllen und pfeifen unheimliche

Stöße! Hoch oben im Turm, wo sie durch manche lustige

Öffnung frei aus- und einziehen, sich um die schwindelnde

Treppe winden, den stöhnenden Wetterhahn umherwirbeln und

sogar das Gemäuer zum Erschüttern bringen! Hoch oben im

Turm, wo sich der Glockenstuhl erhebt, wo die eisernen

Geländer vom Rost zerfressen werden und die Blei- und

Kupferplatten, abgenutzt vom wechselnden Wetter, unter dem

ungewohnten Tritt krachen und seufzen; wo Vögel ihre Nester in

ungewohnten Tritt krachen und seufzen; wo Vögel ihre Nester in

die Ecken des alten Eichengebälks bauen und der Staub alt und

grau wird. Hoch oben im Turm einer alten Kirche, weit über dem

Licht und Brausen der Stadt und weit unter den fliegenden

Wolken, die sie beschatten, ist der 72

wilde, traurige, nächtliche Ort, und hoch oben im Turm einer

alten Kirche hängen die Glocken, von

alten Kirche hängen die Glocken, von

denen ich spreche.

Es sind alte Glocken,

die vor Jahrhunderten von

Bischöfen getauft wurden

- vor so vielen Jahrhunderten,

daß

ihr

Taufregister

schon vor undenklichen Zeiten

verloren ging und

niemand mehr ihre Namen

kennt. Sie hatten ihre

Paten und Patinnen gehabt und

ohne Zweifel auch ihre

silbernen Becher erhalten;

silbernen Becher erhalten;

aber die Zeit mähte die

ersteren hin, und König

Heinrich VIII. hat die

letzteren eingeschmolzen - so

daß sie jetzt ohne Namen

und ohne Patengeschenk im

Kirchturm hingen.

Doch nicht ohne

Stimme und Sprache - weit

gefehlt. Sie hatten klare, laute, luftige, volltönende Stimmen, die

der Wind weit hintrug. Dabei waren sie aber viel zu trotzige

Glocken, um sich von der Willkür des Windes abhängig zu

machen. War er ihnen grillenhaft zuwider, dann kämpften sie

kräftig gegen ihn an und ließen ihre lieblichen Klänge recht

königlich in die lauschenden Ohren dringen. Ins besonders waren

sie darauf erpicht, in stürmischen Nächten irgendeine arme

Mutter, die bei einem kranken Kind wachte, oder eine einsame

Frau, deren Mann zur See fuhr, zu grüßen, und so hatten sie

schon manches Mal einen pustenden Nordwester „ganz in

Krämpfe geschlagen", wie Toby Veck sagte; denn obwohl man

ihn Trotty Veck zu nennen pflegte, hieß er doch Toby und

niemand konnte ihn ohne ausdrückliche Parlamentsakte zu etwas

anderem machen. War er doch zu seiner Zeit ebenso gesetzlich

getauft worden wie die Glocken zu der ihrigen, obwohl nicht mit

ganz soviel Feierlichkeit oder öffentlichem Jubel.

Ich bekenne mich für meinen Teil zu Toby Vecks Auffassung,

denn ich bin überzeugt, daß er hinreichend Gelegenheit hatte,

sich eine richtige Ansicht zu bilden. Was daher Toby Veck sagte,

sage ich auch, und ich stel e mich Toby zur Seite, obwohl er den

lieben langen Tag genau vor der Kirchentür stand - was

wahrhaftig kein Vergnügen war. Er war nämlich ein Dienstmann

und wartete dort darauf, daß ihn jemand brauchte.

Freilich ein windiger, gänsehäutiger, blaunasiger, rotäugiger,

steinzehiger und zähneklappernder Warteplatz zur Winterszeit,

wie Toby Veck wohl wußte. Der Wind kam um die Ecke gerast

- besonders der Ostwind -, als sei er ausdrücklich von den

Grenzen der Erde losgestürmt, um Toby einmal tüchtig

anzuwehen. Ja, oft schien er sogar früher auf ihn zu stoßen, als er

erwartet hatte; denn er raste um die Ecke und fuhr an Toby

vorbei, drehte aber dann plötzlich wieder um, als wol te er

ausrufen: „Ei, da ist er ja!" Im nächsten Augenblick flog dann

seine kleine weiße Schürze wie das Röckchen eines wilden

Jungen über seinen Kopf, und man sah das schwache Stöcklein

vergeblich in seiner Hand ringen und kämpfen, während seine

vergeblich in seiner Hand ringen und kämpfen, während seine

Beine in furchtbare Aufregung gerieten und Toby selbst in

schräger Körperhaltung, das Ges icht bald da bald dorthin

wendend, so umhergetrieben und umhergestoßen, wohl auch von

den Füßen gehoben wurde, 73

daß es fast ein Wunder war, wenn er nicht gleich einer Kolonie

von Fröschen, Schnecken oder anderen tragbaren Geschöpfen

von Fröschen, Schnecken oder anderen tragbaren Geschöpfen

in die Luft entführt und in irgendeinem fernen Erdenwinkel, wo

Dienstmänner unbekannt sind, zum großen Erstaunen der

Eingeborenen niedergeregnet wurde.

Windiges Wetter war übrigens doch eine Art Festtag für Toby,

obwohl es ihn so rauh behandelte. Denn er schien im Wind nicht

so lange auf ein Sixpencestück warten zu müssen wie zu ändern

Zeiten. Der Kampf mit dem ungestümen Element lenkte seine

Aufmerksamkeit ab und frischte ihn auf, wenn er hungrig und

übellaunig wurde. Auch ein harter Frost oder ein Schneegestöber

wurde für ihn zu einem Ereignis und schien ihm in einer oder der

ändern Weise gutzutun, obgleich sich der eigentliche Grund nur

schwer angeben ließe. So waren Wind, Frost, Schnee und

vielleicht ein tüchtiger Hagel für Toby Veck die rotgedruckten

Tage im Kalender. Nasses Wetter war das Schlimmste - die

kalte, unfreundliche, klebrige Feuchtigkeit, die ihn wie ein nasser

Mantel einhüllte -

die einzige Art von Mantel, die Toby sein eigen nennen konnte,

die er aber um seiner Gemächlichkeit willen trotzdem gern

entbehrt hätte. Nasse Tage, wenn der Regen langsam, dicht und

hartnäckig niederfiel- wenn die Kehlen der Straßen, wie seine

eigene, von Nebel erstickt waren - wenn dampfende Schirme hin

und her gingen und wie ebensoviele Kreisel tanzten, sooft sie auf

dem gedrängt vollen Fußweg aneinanderstießen und einen

kleinen Sprühregen fataler Tröpfchen niederspritzen ließen -

wenn die Dachrinnen klatschten und die Regenabflüsse voll und

wenn die Dachrinnen klatschten und die Regenabflüsse voll und

lärmend waren - wenn das Naß von dem vorspringenden

Gestein der Kirche, tropf-tropf-tropf auf Toby niederrieselte und

den Strohwisch, auf dem er stand, im Nu in bloßen Schmutz

 

verwandelte - das waren für ihn Tage der Heimsuchung. Man

konnte dann unseren Toby ängstlich und mit trostlosem, langem

Gesicht unter seinem Schutzdach in einer Ecke der

Kirchenmauer hervorgucken sehen - einem so schmalen

Schutzdach freilich, daß es zur Sommerszeit nie einen breiteren

Schatten auf das sonnige Pflaster warf als ein dicker

Spazierstock. Bald aber kam er wieder heraus, um sich durch

Bewegung warm zu machen, und trabte ein paar dutzendmal auf

und ab, und da das schon genügte, um ihn

aufzuheitern, so kehrte er

dann wieder in besserer

Laune zu seiner Nische

zurück.

Man nannte ihn Trotty

wegen seines Ganges, der

Eile zumindest andeuten

sol te. Er wäre vielleicht

sol te. Er wäre vielleicht

schnel er vom Reck

gekommen, wenn er

einfach gegangen wäre;

aber würde man ihn seines

Trotts beraubt haben, so

hätte er sich zu Bett gelegt,

um zu sterben. Zwar

beschmutzte er sich

dadurch bei schlechtem

Wetter; sein Trab brachte

ihn in alle möglichen

Schwierigkeiten, und es

wäre unendlich bequemer

für ihn gewesen, zu gehen;

aber gerade das war der Grund dafür, daß er so hartnäk-kig

aber gerade das war der Grund dafür, daß er so hartnäk-kig

daran festhielt. Denn obgleich ein schwaches, schmächtiges,

kleines altes Männlein, war Toby doch 74

ein wahrer Herkules an guter Absicht. Er liebte es, sein Geld

wirklich zu verdienen. Der Gedanke, daß er seinen Lohn wert

sei, bereitete ihm Genuß, und bei seiner Armut konnte er nicht

leicht auf einen Genuß verzichten. Mit einem Auftrag, der ihm

einen Schil ing oder achtzehn Pence eintrug, oder mit einem

kleinen Päckchen in der Hand, steigerte sich sein Mut, an dem es

ihm nie gebrach, nur um so höher. Während er dahintrabte,

pflegte er schnel gehenden Briefträgern vor ihm zuzurufen, sie sol

ten ihm den Weg freigeben, weil er nicht anders glaubte, als daß

er im natürlichen Lauf der Dinge sie unausbleiblich einholen und

niederrennen müsse. Auch lebte er in der festen Überzeugung,

die freilich nicht oft auf die Probe gestellt wurde, daß er alles zu

tragen imstande sei, was ein Mensch zu heben vermöge.

Toby trabte daher auch, wenn er an einem nassen Tag aus

seinem Winkel hervorkam, um sich zu wärmen. Er trabte, wenn

er mit lecken Schuhen eine krumme Linie schlammiger

Fußstapfen in den Straßenschmutz drückte und, mit gebeugten

Knien und seinem Rohrstock unter dem Arm, in seine frostigen

Hände blies oder sie gegeneinander rieb, da sie gegen die

durchbohrende Kälte nur durch ärmliche und fadenscheinige

grauwollene Fäustlinge geschützt waren, in denen nur die

Daumen eine einzelne, die übrigen Finger aber eine

gemeinschaftliche Herberge hatten. Ebenso trabte er, wenn er in

gemeinschaftliche Herberge hatten. Ebenso trabte er, wenn er in

die Straße hinausging, um bei dem Klang der Glocken nach dem

Turm hinaufzusehen.

Diesen letzten Ausflug machte er mehrmals am Tag, denn die

Glocken gaben ihm Gesellschaft, und wenn er ihre Stimme hörte,

so blickte er gern nach ihrem Wohnplatz hinauf, sich dabei

Gedanken machend, wie sie sich bewegten und was für Hämmer

auf sie schlügen. Vielleicht hatten sie um so mehr Interesse für

ihn, weil zwischen ihnen und ihm selbst manche Übereinstimmung

bestand. Sie hingen da bei jedem Wetter, in Wind und Regen,

und betrachteten nur die Außenseite aller jener Häuser, ohne je

den lodernden Feuern nahe zu kommen, die durch die Fenster

leuchteten oder zu den Schornsteinen herauspusteten; auch

waren sie nicht imstande, an den guten Dingen teilzuhaben, die

ohne Unterlaß durch die Haustüren und Küchengeländer an

umfangreiche Köchinnen abgegeben wurden. Viele Gesichter

kamen an die Fenster und entfernten sich wieder- hübsche

Gesichter bisweilen, jugendliche Gesichter, angenehme

Gesichter, hin und wieder aber auch das Gegenteil. Doch Toby

wußte ebensowenig wie die Glocken ( wie oft er auch, wenn er

müßig in den Straßen stand, Betrachtungen über diese

Kleinigkeiten anstellte), woher sie kamen und wohin sie gingen,

oder ob im ganzen Jahr nur ein einziges freundliches Wort über

ihn gesprochen wurde, wenn sich die Lippen bewegten.

Toby war kein Kasuist — seinem Wissen nach wenigstens nicht

-, und ich will nicht behaupten, daß er derartige Betrachtungen

-, und ich will nicht behaupten, daß er derartige Betrachtungen

einzeln anstellte oder eine förmliche Heerschau über seine

Gedanken hielt, als er begann, eine Zuneigung zu den Glocken zu

fassen und seine erste oberflächliche Bekanntschaft mit ihnen zu

einem dichteren und feineren Gewebe zu verarbeiten.

Und wenn ich diese Empfindung sogar Liebe genannt hätte, so

würde ich das Wort nicht zurücknehmen, obgleich es kaum dem

vielfältigen Inhalt seines 75

Gefühls gerecht geworden wäre. Denn da er bloß ein einfacher

Mann war, so bekleidete er sie mit einem wundersamen und

feierlichen Charakter. Sie waren so geheimnisvoll - oft gehört

und doch nie gesehen -, so hoch oben, so weit weg und von so

tiefem, kräftigem Klang, daß er mit einer Art Ehrfurcht zu ihnen

aufblickte. Ja, wenn er die dunklen, gewölbten Fenster des

Turmes betrachtete, so erwartete er bisweilen halb und halb, es

werde ihm etwas zuwinken, was keine Glocke war und doch in

den Klängen ihm so oft ins Ohr getönt hatte.

Dennoch wies Toby mit Entrüstung ein unbestimmtes Gerücht

zurück, daß die Töne behext seien, weil das soviel hieß, als

ständen sie möglicherweise zu etwas Bösem in Beziehung. Mit

einem Wort, sie tönten sehr oft in seine Ohren, beschäftigten sehr

oft seine Gedanken und standen stets hoch in seiner Achtung;

auch bekam er nicht selten, wenn er lange mit weit offenem

Mund an dem Kirchturm hinaufgeschaut hatte, einen so steifen

Hals, daß er hinterdrein ein paar Extratrabe vollführen mußte, um

dieses unangenehme Übel wieder loszuwerden.

Mit dieser Tätigkeit war er eben, an einem kalten Tag

beschäftigt, als der letzte schläfrige Ton des Zwölfuhrschlages

wie eine ungeheure, melodische, wenn auch sehr träge Biene,

durch den ganzen Turm summte.

„Wie, Zeit zum Mittagessen?" sagte Toby, vor der Kirche auf

und ab trottend.

„Ah!"

Tobys Nase und Augenlider waren sehr rot, er blinzelte gewaltig,

seine Schultern waren seinen Ohren ganz nahe, und aus seinen

Beinen wollte die Steifheit nicht weichen. Er machte deutlich den

Eindruck, daß er nicht bloß kühl, sondern schon tüchtig frostig

war.

„Zeit zum Mittagessen?" wiederholte Toby, wobei er den

Fäustling seiner rechten Hand wie einen Boxhandschuh

gebrauchte und gegen seine Brust schlug.

Danach gab er sich ein paar Minuten lang einem stummen Trab

hin.

„Es gibt nichts -" sagte Toby, aufs neue losbrechend; aber mit

einem Mal machte er in seinem Trott halt und betastete mit einem

Gesicht, in dem sich Interesse mit etwa Unruhe mischte, seine

Nase sorgfältig von unten bis oben. Er war bald damit fertig,

Nase sorgfältig von unten bis oben. Er war bald damit fertig,

denn er war mit Nase nicht al zu reichlich gesegnet und so war

der Weg nur kurz.

„Ich dachte, sie wäre fort", sagte Toby, während er seinen Trab

wieder aufnahm. „Es ist aber alles in Ordnung. Übrigens könnte

ich es ihr nicht einmal übel nehmen, wenn sie sich davonmachen

wol te. Sie hat einen harten Dienst bei diesem schlechten Wetter,

und dabei hat sie herzlich wenig zu erwarten, denn ich nehme nie

eine Prise. Und selbst zu den besten Zeiten wird das gute arme

Organ viel geprüft, denn wenn es wirklich einmal ein liebliches

Düftchen erfaßt, was nicht al zuoft geschieht, so kommt's

gewöhnlich von dem Mittagessen eines ändern, das von dem

Bäcker nach Hause getragen wird."

Diese Betrachtung erinnerte ihn an die andere, die er unbeendigt

gelassen hatte.

76

„Es gibt nichts Regelmäßigeres", fuhr er fort, „als die Wiederkehr

der Mittagessenszeit, und nichts Unregelmäßigeres als das

Kommen des Mittagessens selbst. Da besteht ein großer

Unterschied, und es hat mich viel Zeit gekostet, bis ich es

herausgefunden habe. Möchte doch wissen, ob sich's nicht für

einen Gentleman der Mühe lohnte, diese Bemerkung für die

Zeitungen oder für das Parlament zu kaufen!"

Toby meinte das bloß im Scherz, denn er schüttelte in

gravitätischer Selbstverneinung den Kopf.

„Du lieber Himmel!" sagte er, „die Zeitungen sind voller

Bemerkungen, und ebenso ist's auch mit dem Parlament. Da

habe ich eine Nummer von der letzten Woche"—er zog ein sehr

schmutziges Blatt aus seiner Tasche und hielt es auf Armlänge

vor sich hin — „nichts als Bemerkungen — nichts als

Bemerkungen!

Ich möchte so gern wie irgendjemand sonst Neuigkeiten

erfahren", fügte er langsam hinzu, während er den Bogen noch

ein wenig kleiner zusammenfaltete und ihn wieder in die Tasche

steckte; „aber es geht mir fast wider den Strich, jetzt Zeitung zu

lesen. Ich habe beinahe Angst davor. Was sol noch aus uns

armen Leuten werden! Got gebe, daß das herannahende

Neujahr uns etwas Besseres bringe!"

„Vater! Vater!" rief eine angenehme Stimme in der Nähe. Aber

Toby hörte sie nicht, sondern fuhr fort, vor und zurück zu traben,

während er sich in weiteren Gedanken erging und mit sich selbst

sprach.

„Es ist, als ob mit uns nichts Rechtes werden könne", sagte

Toby. „Als ich jung war, bin ich nicht eifrig in die Schule

geschickt worden, und ich kann nicht dahinterkommen, ob wir

auf der Erde etwas zu schaffen haben oder nicht.

Bisweilen denke ich, wir hätten es, wenn auch nur ein wenig,

dann aber meine ich wieder, wir wären bloß lästig. Mitunter weiß

ich gar nicht mehr, was ich denken soll, so daß ich nicht einmal

mit nur ins Reine kommen kann, ob überhaupt etwas Gutes an

uns ist oder ob wir böse geboren wurden. Es sieht aus, als täten

wir schreckliche Dinge und seien ungeheuer lästig; man beklagte

sich immer über uns und trifft Maßnahmen, um sich vor uns zu

schützen. Irgendwie sind die Zeitungen immer voll von uns. Da

spreche man nun vom Neujahr", fuhr Toby traurig fort. „Ich kann

zu den meisten Zeiten soviel aushalten wie ein anderer - mehr

sogar als die meisten, denn ich bin stark wie ein Löwe, was sich

nicht von allen Leuten sagen läßt; aber gesetzt den Fall, es wäre

wirklich wahr, daß wir kein Recht auf ein Neujahr habengesetzt,

wir" wären wirklich bloß lästig —"

„Vater! Vater!" ließ sich die liebliche Stimme abermals

vernehmen.

Toby hörte es diesmal; er stutzte, blieb stehen, wandte seine

Augen, die er in die Ferne hatte schweifen lassen, als suche er

mitten im Herzen des herannahenden Jahres nach einer

Erleuchtung, wieder seiner Umgebung zu und fand sich seinem

eigenen Kind gegenüber, das ihn anschaute.

Und es hatte ein Paar recht hel er Augen - Augen, in die eine

ganze Welt schauen mochte, ehe sie ihre Tiefe ergründen konnte.

Dunkle Augen, die die hineinblickenden Augen widerspiegelten,

Dunkle Augen, die die hineinblickenden Augen widerspiegelten,

nicht indem sie ihnen abs ichtlich 77

entgegenblitzten, sondern mit einem klaren, ruhigen, ehrlichen,

 

geduldigen Glanz. Augen, schön, wahr und hoffnungsstrahlend -

mit so junger und frischer, mit so zuversichtlicher und freudiger

Hoffnung, trotz der zwanzig Jahre voller Arbeit und Armut, die

sie gesehen hatten, daß sie Trotty Veck zu sagen schienen: „Ich

glaube, wir haben auf der Erde etwas zu schaffen - ein wenig!"

Trotty küßte die Lippen, die zu den Augen gehörten, und

drückte das blühende Gesicht zwischen seine Hände.

„Ei, Herzchen", sagte Trotty, „was gibt's? Ich habe dich heute

nicht erwartet, Meg."

„Auch ich habe nicht aufs Kommen gerechnet, Vater", rief das

Mädchen, indem es lächelnd mit dem Kopf nickte. „Aber da bin

ich - und obendrein nicht allein; nicht allein!"

„Wie, du willst doch nicht sagen", bemerkte Trotty, neugierig

nach einem bedeckten Korb blickend, den sie in der Hand trug,

„daß du -"

„Riecht daran, lieber Vater", versetzte Meg. „Riecht einmal!"

Trotty war eben im Begriff, hastig den Deckel abzuheben, als

das Mädchen scherzend mit der Hand dazwischenfuhr.

„Nein, nein, nein", sagte Meg mit der Freude eines Kindes. „So

„Nein, nein, nein", sagte Meg mit der Freude eines Kindes. „So

geschwind geht's nicht. Ich will nur den Deckekand ein klein

bißchen aufheben", fügte sie hinzu, indem sie ganz sacht den

Worten die Handlung folgen ließ und dabei so leise sprach, als

fürchte sie, etwas im Korb drinnen könnte sie hören. „So. Nun,

was ist es?"

Toby schnüffelte ein klein wenig an dem Rand des Korbes und

rief entzückt:

„Ei, es ist heiß!"

„Es ist brennend heiß", versetzte Meg. „Hahaha! Es ist siedend

heiß".

„Hahaha!" brüllte Toby mit einem Luftsprung. „Es ist siedend

heiß."

„Aber was ist es, Vater?" fragte Meg. „Ihr habt noch nicht

erraten, was es ist, und das müßt Ihr jetzt tun. Ich kann nicht

daran denken, es herauszunehmen, bis Ihr's erraten habt. Nicht

so hastig — wartet eine Minute. Ich will ein bißchen mehr von

dem Deckel zurückschieben. Jetzt ratet!"

Meg war geradezu in Angst, er könnte zu bald das Richtige

erraten, und wich deshalb ein wenig zurück, während sie ihm den

Korb hinhielt. Zugleich zog sie ihre hübschen Schultern in die

Höhe und hielt s ich die Ohren mit der Hand zu, als könnte sie so

das rechte Wort von Tobys Lippen fernhalten. Dabei lachte sie

die ganze Zeit über leise vor sich hin. Toby hatte mittlerweile die

Hände auf die Knie gelegt und seine Nase zu dem Korb

niedergebeugt und sog nun den Duft, , der da herausströmte, tief

ein. Während er das tat, wurde das Grinsen auf seinem welken

Gesicht immer breiter, als atme er Lachgas ein.

„Ah, das riecht prächtig", sagte Toby. „Ist es nicht - es wer- .

den doch keine Bratwürste sein?"

„Nein, nein, nein!" rief Meg entzückt. „Nichts da von

Bratwürsten!"

Nein", fuhr Toby nach einem abermaligen Schnüffeln fort, es ist -

es ist feiner als Bratwürste. Es riecht recht gut und mit jedem

Augenblick besser. Der Geruch ist zu stark für Schweinsfüße -

nicht wahr?"

78

Meg war außer sich vor Freude. Er hätte nicht weiter vom Ziel

abschießen können als mit Schweinsfüßen - die Bratwürste

ausgenommen.

„Leber?" sagte Toby zu sich selber. „Nein. Der Geruch hat eine

Milde, die nicht zu Leber paßt. Eisbein? Nein. Er ist zu stark für

Eisbein. Auch fehlt ihm der Beigeschmack der Hahnenköpfe. Ich

will dir sagen, was drinnen ist -

will dir sagen, was drinnen ist -

Kuttemecke!" „Nein, nein", erwiderte Meg mit einem Ausbruch

des Entzückens.

„Nicht erraten!"

„Ei, an was denke ich auch!" entgegnete Toby, plötzlich eine so

aufrechte Stellung einnehmend, wie ihm möglich war. „Ich werde

zuletzt noch meinen eigenen Namen vergessen. Es ist Gekröse!"

Es war Gekröse, und Meg beteuerte in Freude, er werde gleich

sagen, es sei das beste Gekröse, das je geschmort wurde.

„Und so will ich jetzt gleich den Tisch decken, Vater", fuhr Meg

fort, indem sie sich jubelnd mit dem Korb beschäftigte; „denn ich

habe das Gekröse in einer Schüssel gebracht und die Schüssel in

ein Tuch eingebunden. Wenn ich nun einmal stolz sein und es als

Tischtuch ausbreiten will, so kann mich kein Gesetz hindern, es

Tischtuch zu nennen. Ist's nicht so, Vater?"

„Nicht daß ich wüßte, meine Liebe", sagte Toby. „Aber sie

bringen jeden Augenblick ein neues Gesetz heraus."

„Und nach dem, was ich Euch neulich aus der Zeitung vorlas,

Vater - Ihr wißt, was der Richter sagte -, glaubt man, wir armen

Leute kennten sie alle.

Haha! Welch ein Irrtum! Du meine Güte, sie halten uns für

gewaltig gescheit!"

gewaltig gescheit!"

„Ja, meine Liebe", rief Trotty, „und sie würden eine gewaltige

Freude an einem von uns haben, der sie wirklich alle wüßte. Er

würde fett werden von der Arbeit, die er kriegte, dieser Mann,

und er hätte einen Stein im Brett bei allen vornehmen Leuten in

seiner Nachbarschaft. Gewiß und wahrhaftig!"

„Wer er auch sei, er würde sein Mittagessen mit Appetit

verzehren, wenn es so gut röche wie dieses", sagte Meg heiter.

„Tummelt Euch, Vater, denn da sind außerdem auch noch ein

paar heiße Kartoffeln und eine halbe Kanne Bier frisch vom Faß.

Wo wol t Ihr essen, Vater? Auf dem Pfosten oder auf den

Stufen?

Lieber Himmel, wie gut wir's haben -zwei Plätze, zwischen

denen man wählen kann!"

„Heute auf den Stufen, mein Kind", versetzte Trot y. „Bei

trockenem Wetter auf den Stufen, bei nassem auf dem Pfosten.

Die Stufen sind immer bequemer, weil man dabei sitzen kann;

aber wenn's naß ist, kriegt man Rheumatismus."

„Hier also", sagte Meg, und klatschte bald darauf einladend in

die Hände.

„Hier ist es - al es bereit. Und wie schön es aussieht! Kommt,

Vater, kommt!"

Seit Trotty endeckt hatte, was in dem Körbchen war, stand er

da und blickte sie fortwährend, auch wenn er mit ihr sprach, in

einer merkwürdig zerstreuten Weise an. Es ließ s ich daraus

entnehmen, daß er, mochte sie auch der ausschließliche

Gegenstand seiner Gedanken und Augen sein, sogar das

Gekröse nicht ausgenommen, nicht entfernt an sie dachte, wie sie

in diesem Augenblick war, sondern irgendeinen geträumten

Entwurf ihres künftigen Lebens vor sich hatte. Durch ihre heitere

Aufforderung geweckt, unterdrückte er jetzt ein 79

melancholisches Kopfschütteln, und trabte an ihre Seite. In dem

Augenblick, in dem er sich zum Sitzen niederbeugte, erklangen

die Glocken. „Amen !"sagte Trotty, seinen Hut abnehmend und

zu ihnen raufblickend. „Amen den Glocken, Vater? rief Meg.

„Sie fielen ein wie ein Tischgebet, mein Liebes ", sagte Trotty,

während er Platz nahm. „Ich bin überzeugt, sie würden ein

schönes sprechen, wenn sie könnten. Überhaupt sagen sie mir

manche angenehmen Dinge."

„Die Glocken, Vater?" lachte Meg, während sie die Schüssel

hinstellte und Messer und Gabel dazulegte. „Ei, der Tausend!"

„Sie scheinen's zu tun, mein Herz", versetzte Trotty, während er

hungrig über das Essen herfiel. „Und wo ist da der Unterschied?

Wenn ich sie nur höre, was macht es aus, ob sie sprechen oder

nicht? Gott behüte dich, mein Kind", fügte er hinzu, indem er mit

der Gabel zum Turm deutete und unter dem Einfluß seines Mahls

der Gabel zum Turm deutete und unter dem Einfluß seines Mahls

lebhafter wurde, „wie oft habe ich jene Glocken sagen hören:

,Toby Veck, Toby Veck, sei guten Muts, Toby! Toby Veck,

Toby Veck, sei guten Muts, Toby!' Millionen Mal? Reicht nicht -

noch öfter!" „Ei, ich nie!" rief Meg.

Dennoch hatte sie es schon oft und oft gehört, denn es war

Tobys beständiger Gesprächsgegenstand. „Wenn es recht

schlecht geht", fuhr Trotty fort „ich meine, wenn es recht schlecht

geht — fast am schlechtesten, dann rufen sie:

,Toby Veck, Toby Veck, bald kommt Arbeit, Toby! Toby

Veck, Toby Veck, bald kommt Arbeit, Toby!'" „Und sie kommt

dann auch - wirklich, Vater", versetzte Meg mit einem Anflug

von Trauer in ihrer Stimme. „Immer", erwiderte der arglose

Toby. „Bleibt nie aus." Während dieses Gesprächs machte

Trotty keine Pause in seinen Angriffen auf das gute Essen vor

ihm, sondern schnitt ab und aß, schnitt ab und trank, schnitt ab

und kaute, kam von dem Gekröse zu den heißen Kartoffeln und

von den heißen Kartoffeln wieder zu dem Gekröse zurück - al es

mit einem glücklichen Wohlbehagen. Als er jedoch einmal um die

Straßenecke sah, um sich zu überzeugen, ob man nicht von

irgendeiner Tür oder einem Fenster nach einem Dienstmann

winke, begegneten seine Augen auf dem Rückweg dem

Mädchen, das mit verschlungenen Armen ihm gegenübersaß und

mit glücklichem Lächeln seiner emsigen Tätigkeit zusah.

„Ach, Gott!" rief Trotty, indem er Messer und Gabel fallen ließ.

„Ach, Gott!" rief Trotty, indem er Messer und Gabel fallen ließ.

„Meg, mein Täubchen, warum sagst du mir nicht, was ich für ein

selbstsüchtiger Kerl bin?"

„Vater!"

„Sitze ich da", fuhr Trotty in reuiger Erklärung fort, „und stopfe

mich voll, während du vor mir bist, ohne auch nur einen Bissen

zu nehmen."

„Ach, Vater, ich habe mein Mittagessen schon gehabt",

unterbrach ihn seine Tochter lachend.

„Rede keinen Unsinn", versetzte Trot y. „Zwei Mittagessen an

einem Tag?

Nicht möglich! Du könntest mir ebensogut sagen, daß zwei

Neujahrstage auf einmal kommen, oder daß ich mein ganzes

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