Klein-Doritt

Текст
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

Dreizehntes Kapitel. Patriarchalisch.

Die Erwähnung von Mr. Casby machte in Clennams Gedächtnis die rauchenden Kohlen der Neugierde und des Interesses wieder glühen, die Mrs. Flintwinch am Abend seiner Ankunft angefacht. Flora Casby war die Geliebte seiner Knabenzeit gewesen, und Flora war die Tochter und das einzige Kind des holzklotzköpfigen alten Christopher (so nannten ihn bisweilen einige unehrerbietige Geister, die Geschäfte mit ihm hatten, und bei denen die Vertraulichkeit vielleicht ihre sprichwörtlichen Resultate hatte); er genoß den Ruf eines Mannes von großen wöchentlichen Mieteinnahmen; und ferner, daß er eine gute Quantität Blut aus den Steinen verschiedener wenig versprechender Höfe und Gäßchen zu pressen wisse.

Nach mehrtägigem Forschen und Fragen gewann Arthur Clennam endlich die Überzeugung, daß die Sache des Vaters vom Marschallgefängnis wirklich eine hoffnungslose sei, und verzichtete mit großem Schmerz auf den Gedanken, ihm zu seiner Freiheit zu verhelfen. Er hatte im Augenblick auch wegen Klein-Dorrits keine Nachforschungen mit Aussicht auf Erfolg anzustellen; aber er dachte bei sich, wenn irgend etwas, werde es für das arme Kind dienlich sein, wenn er diese Bekanntschaft erneuere. Es ist kaum nötig, hinzuzufügen, daß er ohne allen Zweifel sich bei Mr. Casby eingefunden, auch wenn keine Klein-Dorrit vorhanden gewesen; denn wir wissen alle, wie wir uns täuschen – das heißt, wie die Leute im allgemeinen, unser tieferes Selbst ausgenommen, sich über die Beweggründe ihrer Handlungen täuschen.

Mit einem angenehmen und in seiner Art ehrlichen Gefühl, daß er Klein-Dorrit auch selbst dann in seinen Schutz nehme, wenn er tue, was gar keine Beziehung zu ihr habe, stand er eines Nachmittags an der Ecke der Straße von Mr. Casby. Mr. Casby wohnte in einer Straße in Gray's Inn Road, die mit der Absicht von dieser Durchfahrt sich abzweigt, in einem Lauf nach dem Tal hinab und wieder nach der Höhe von Pentonville Hill hinaufzurennen, die sich aber nach einer Strecke von zwanzig Ellen außer Atem gelaufen und seit jener Zeit stillgestanden. Es existiert jetzt kein solcher Platz in jenem Stadtteil mehr. Aber die stehengebliebene Straße war viele Jahre dort zu sehen, wie sie mit getäuschtem Gesicht nach der mit unfruchtbaren Gärten bepflasterten und mit finnenartig hervorbrechenden Sommerhäusern durchzogenen Wildnis hinabschaute, die sie im Nu zu überrennen gewillt gewesen.

»Das Haus«, dachte Clennam, als er über die Straße nach der Tür ging, »hat sich so wenig verändert wie das meiner Mutter und sieht beinahe ebenso düster aus. Aber die Ähnlichkeit hört schon außerhalb auf. Ich kenne seine stille Ruhe darinnen. Der Geruch seiner Vasen mit Rosenblättern und Lavendel scheint mir bereits entgegenzuduften.«

Als auf sein Klopfen mit dem glänzenden messingenen Türhammer von altväterischer Form eine Dienerin in der Tür erschien, begrüßten ihn wirklich diese welken Gerüche wie ein Winterhauch, der uns flüchtig an den vergangenen Frühling erinnert. Er trat in das nüchterne, stille, luftdichte Haus – man hätte glauben können, es sei von stummen Henkern nach orientalischer Methode erstickt worden –, und als die Tür wieder geschlossen wurde, schien sie Klang und Bewegung hinauszubannen. Das Hausgerät war feierlich, ernst und quäkerartig, aber gut gehalten, und machte einen so befangenen Eindruck, wie irgend etwas von einem menschlichen Geschöpf bis zu einem hölzernen Stuhl herab, das für vielen Gebrauch bestimmt, aber zu wenigem aufbewahrt ist, nur immer haben kann. Eine schwere Uhr tickte irgendwo auf der Treppe, und in derselben Gegend befand sich ein gesangloser Vogel, der an seinem Käfig pickte, als ob er gleichfalls tickte. Das Feuer im Parterrezimmer tickte auf dem Rost. Nur eine Person befand sich an dem Kamine des Parterrezimmers, und die laute Uhr in ihrer Tasche tickte hörbar.

Die Dienerin hatte die beiden Worte »Mr. Clennam« so leise getickt, daß sie nicht gehört worden war. Er stand deshalb unbemerkt in der Tür, die sie geschlossen. Die Gestalt eines Mannes von vorgerücktem Alter, dessen glatte, weiße Augbrauen sich nach dem Ticken zu bewegen schienen, während der Feuerschein auf ihnen flackerte, saß in einem Armstuhl, die Lackschuhe auf dem Kaminteppich streckend und die Daumen langsam umeinander drehend. Es war der alte Christopher Casby – auf den ersten Blick zu erkennen –, seit zwanzig Jahren und noch länger so unverändert wie sein solides Hausgerät, – von dem Einfluß der verschiedenen Jahreszeiten so wenig berührt wie die alten Rosenblätter und der alte Lavendel in seinen Porzellantöpfen. Vielleicht gab es in dieser schwierigen Welt nichts für die Phantasie so Schwieriges, wie sich ihn als Knaben vorzustellen; und doch hatte er sich seit jener Zeit auf seinem Weg durchs Leben sehr wenig verändert. Ihm gegenüber, in dem Zimmer, in dem er saß, befand sich das Bild eines Knaben, das jeder beim ersten Blick als das von Mr. Christopher Casby in seinem zehnten Jahre bezeichnet haben würde. Obgleich er als kleiner Heumäher verkleidet und mit einem Rechen versehen war, für den er von je so viel Geschmack oder Gebrauch gehabt wie für eine Taucherglocke, und dabei (auf einem seiner Beine) auf einer Veilchenbank saß, durch eine Dorfkirchturmspitze in frühreife Betrachtungen versenkt. Es war dasselbe glatte Gesicht, dieselbe glatte Stirn, dasselbe ruhige, blaue Auge, dieselbe gelassene Miene. Der glänzende Glatzkopf, der so groß erschien, weil er so viel Glanz verbreitete, und das lange weiße Haar an den Seiten und hinten, wie Pflanzenseide oder gesponnenes Glas herabhängend, das so wohlwollend aussah, weil es nie geschnitten wurde – das war natürlich bei dem Knaben nicht zu finden wie bei dem Mann. Trotzdem konnte man in dem ätherischen Wesen mit dem Heurechen deutlich die Spuren des Patriarchen mit den Lackschuhen erkennen.

Patriarch war der Name, den ihm viele Leute zu geben beliebten. Verschiedene alte Frauen in der Nachbarschaft sprachen von ihm als von dem »Letzten Patriarchen«. Sein weißes Haar, sein sanftes, ruhiges, leidenschaftsloses, kugelköpfiges Wesen gaben ihm ein Recht auf den Namen des Patriarchen. Er war in den Straßen angeredet und höflich ersucht worden, ein Patriarch für Maler und Bildhauer zu werden: und zwar wirklich mit solcher Zudringlichkeit, daß es den Schein hätte haben können, als ob es gar nicht die Aufgabe der schönen Kunst wäre, sich der Wesenheiten eines Patriarchen zu entsinnen oder einen solchen zu erfinden. Menschenfreunde beiderlei Geschlechts hatten gefragt, wer er sei, und als man ihnen sagte: »Der alte Christopher Casby, früher Stadtagent von Lord Decimus Tite Barnacle«, in der Ekstase der Enttäuschung ausgerufen: »Oh! warum ist er mit diesem Kopf nicht ein Wohltäter für sein Geschlecht! Oh! warum ist er mit diesem Kopf nicht ein Vater der Waisen und ein Freund der Verlassenen!« Mit diesem Kopf blieb er jedoch der alte Christopher Casby, dem allgemeinen Gerüchte zufolge ein reicher Hauseigentümer; und mit diesem Kopf saß er nun in seinem stillen Parterrezimmer. Es wäre auch wirklich ganz unvernünftig zu erwarten, er werde ohne diesen Kopf dasitzen.

Arthur Clennam machte eine Bewegung, um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, und die weißen Augenbrauen wandten sich nach ihm um.

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Clennam, »denn ich muß befürchten, daß Sie mich nicht melden hörten.«

»Nein, Sir, wirklich nicht. Wollten Sie mich sprechen, Sir?«

»Ich wollte Ihnen meinen Besuch machen.«

Mr. Casby schien durch diese Worte ein wenig enttäuscht, da er vielleicht auf einen andern wichtigeren Wunsch des Fremden gefaßt war. »Habe ich das Vergnügen, Sir?« – fuhr er fort, – »nehmen Sie sich einen Stuhl, wenn's gefällig – habe ich das Vergnügen, Sie zu kennen? Ah! wirklich, ja, ich denke wohl! Ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich annehme, daß ich mit diesen Gesichtszügen bekannt bin? Ich spreche doch wohl mit einem Gentleman, von dessen Heimkehr in das Vaterland mich Mr. Flintwinch unterrichtet?«

»Der bin ich.«

»Wirklich, Mr. Clennam?«

»Niemand anders, Mr. Casby.«

»Mr. Clennam, ich freue mich. Sie zu sehen. Wie ging es Ihnen, seit wir uns nicht mehr gesprochen?«

Ohne es der Mühe wert zu halten, zu erklären, daß er im Laufe eines Vierteljahrhunderts nach Körper und Geist manche kleine Veränderung durchgemacht, antwortete Clennam im allgemeinen, daß er sich nie wohler befunden, oder etwas der Art, und schüttelte die Hände des Besitzers des Kopfs, während dieser sein patriarchalisches Licht über ihn ergoß.

»Wir sind älter geworden, Mr. Clennam«, sagte Christopher Casby.

»Wir sind – nicht jünger", sagte Clennam. Nach dieser klugen Bemerkung merkte er, daß er keinen glänzenden Schein von sich gegeben, und er fühlte sich etwas unbehaglich.

»Und Ihr verehrter Vater«, sagte Mr. Casby, »ist nicht mehr! Es hat mich sehr geschmerzt, das zu hören, Mr. Clennam, sehr geschmerzt.«

Arthur gab ihm auf die übliche Weise zu erkennen, daß er ihm unendlich verbunden sei.

»Es gab eine Zeit«, sagte Mr. Casby, »wo Ihre Eltern und ich nicht auf freundschaftlichem Fuße standen. Es herrschte ein kleines Mißverständnis zwischen uns. Ihre verehrte Mutter war vielleicht etwas eifersüchtig auf ihren Sohn; wenn ich sage, ihren Sohn, so meine ich Ihre würdige Person, Ihre würdige Person.«

Sein glattes Gesicht hatte eine Röte wie reifes Spalierobst. Mit diesem blühenden Gesicht, diesem Kopf und seinen blauen Augen schien er Gefühle von seltener Weisheit und Kraft zu äußern. In gleicher Weise schien sein physiognomischer Ausdruck mit lauter Wohlwollen schwanger zu gehen. Niemand hätte sagen können, worin diese Weisheit, worin diese Kraft oder dieses Wohlwollen lag; aber sie schienen doch alle von ihm auszugehen.

»Diese Zeiten«, fuhr Mr. Casby fort, »sind jedoch vergangen und vorbei, vergangen und vorbei. Ich mache mir selbst das Vergnügen, Ihre verehrte Mutter bisweilen zu besuchen und den Mut und die Stärke zu bewundern, mit der sie ihre Prüfung trägt, Prüfung trägt.«

 

Wenn er diese kleinen Wiederholungen machte, die Hände ineinander gelegt vor sich, tat er es mit dem Kopf auf die eine Seite geneigt und einem freundlichen Lächeln, als ob er etwas im Sinne trüge, das zu gütig und inhaltsschwer, als daß es in Worte gebracht werden könnte: als ob er sich selbst das Vergnügen versagte, es auszusprechen, weil er sonst zu hoch fliegen müßte und seine bescheidene Natur es deshalb vorzöge, Nichtssagendes zu sprechen.

»Ich habe gehört, daß Sie so freundlich waren, bei einem dieser Besuche«, sagte Arthur, die Gelegenheit ergreifend, während sie an ihm vorbeigeführt wurde, »Klein-Dorrit bei meiner Mutter zu erwähnen.«

»Klein –? Dorrit? Das ist die Näherin, die mir von einem meiner geringeren Mieter genannt wurde? Ja, ja. Dorrit! Das ist der Name. Ach, ja, ja. Sie nennen sie Klein-Dorrit?«

Kein Weg in dieser Richtung. Nichts kam in die Quere. So ging es zum Ziel.

»Meine Tochter Flora«, sagte Mr. Casby, »wie Sie wahrscheinlich gehört, Mr. Clennam, heiratete vor mehreren Jahren. Sie hatte das Unglück, ihren Gatten wenige Monate nach der Hochzeit zu verlieren. Sie wohnt jetzt wieder bei mir und wird sich sehr freuen, Sie zu sehen, wenn Sie mir erlauben wollen, sie wissen zu lassen, daß Sie hier sind.«

»Ganz gewiß«, versetzte Clennam. »Ich hätte selbst darum gebeten, wenn Sie mir nicht zuvorgekommen wären.«

Mr. Casby erhob sich in seinen Lackschuhen und ging mit langsamem schwerem Tritt (er war von elefantenartiger Bauart) nach der Tür. Er hatte einen langen, weitschößigen, flaschengrünen Rock und ein Paar flaschengrüne Beinkleider und eine flaschengrüne Weste an. Die Patriarchen trugen kein flaschengrünes Tuch, und doch hatten seine Kleider etwas Patriarchalisches.

Er hatte kaum das Zimmer verlassen und das Ticken wieder hörbar werden lassen, als eine rasche Hand einen Schlüssel in der Haustür umdrehte, sie öffnete und schloß. Augenblicklich darauf kam ein lebhafter, eifriger, kurzer, finstrer Mann mit so viel Ungestüm in das Zimmer, daß er nur noch einen Fuß von Clennam entfernt war, ehe er halten konnte.

»Hallo!« sagte er.

Clennam sah keinen Grund, weshalb er nicht auch »Hallo!« sagen sollte.

»Was gibt es?« sagte der kurze, finstre Mann.

»Ich habe nicht gehört, daß es irgend etwas gibt«, versetzte Clennam.

»Wo ist Mr. Casby?« fragte der kurze, finstre Mann und sah sich um.

»Er wird augenblicklich wieder da sein, wenn Sie ihn erwarten wollen.«

»Ich ihn erwarten?« sagte der kurze, finstre Mann. »Erwarten Sie ihn?«

Dies veranlaßte ein bis zwei Worte der Erklärung seitens Clennams, während deren der kurze, finstre Mann seinen Atem anhielt und ihn ansah. Er war in Schwarz und in ein Grau wie rostiges Eisen gekleidet, hatte onyxschwarze Kügelchen von Augen, ein ruppiges, kleines, schwarzes Kinn, drahtartiges, schwarzes Haar, spitzig von seinem Kopf abstehend wie Gabeln oder Haarnadeln, und eine Farbe, die sehr dunkel von Natur und sehr schmutzig durch Kunst oder eine Mischung von Kunst und Natur war. Er hatte schmutzige Hände und schmutzige abgebrochene Nägel und sah aus, als ob er im Kohlenberg gewesen wäre. Er war in Schweiß geraten und schnaufte und pustete und schnaubte und blies, wie ein kleines arbeitendes Dampfschiff.

»Oh«, sagte er, als Arthur ihm gesagt, wie er hierhergekommen. »Ganz gut. Das ist recht. Wenn er nach Pancks fragen sollte, wollen Sie die Güte haben, ihm zu sagen, daß Pancks gekommen?« Und pustend und schnaufend schob er zu einer andern Tür hinaus.

Vor Zeiten, als er noch in der Heimat lebte, hatten gewisse kühne Zweifel an dem letzten Patriarchen, die in der Luft verbreitet waren, das Gemüt Arthurs berührt. Er wurde einzelner Punkte und Stäubchen in der Atmosphäre einer Zeit gewahr, durch deren Medium gesehen, Christopher Casby wie ein bloßes Wirtshausschild ohne Wirtshaus erschien – eine Einladung auszuruhen und dankbar zu sein, während es keinen Ort gab, wo man einkehren, und nichts, wofür man hätte dankbar sein können. Er wußte, daß einige dieser Stäubchen Christopher sogar als einen Mann, der in »diesem Kopf« Pläne beherberge, und als schlauen Betrüger bezeichneten. Andere Punkte zeigten ihn als einen schwerfälligen, eigensinnigen, aufbrausenden Einfaltspinsel, der, nachdem er bei seinem unbeholfenen Anrennen gegen andere Menschen auf die Entdeckung gestolpert, daß, um mit Leichtigkeit und Sicherheit durchs Leben zu kommen, man bloß den Mund halten, den kahlen Teil seines Kopfes gut polieren und sein Haar wachsen lassen müsse, List genug besessen, um solche Idee zu ergreifen und daran festzuhalten. Man sagte, seine Stellung als Stadtagent von Lord Decimus Tite Barnacle schreibe sich nicht davon her, daß er auch nur das geringste Geschäftstalent besessen, sondern davon, daß er so ausnehmend wohlwollend ausgesehen, daß niemand hätte annehmen können, das Eigentum werde unter einem solchen Manne mißbraucht oder verschachert. Aus ähnlichen Gründen gewann er sich unzweifelhaft mehr Geld durch seine nichtswürdigen Baracken, als irgend jemand mit einem minder harten und leuchtenden Schädel je imstande gewesen wäre. Mit einem Wort, man behauptete (Clennam erinnerte sich dessen jetzt in dem tickenden Parterrezimmer), daß viele Menschen ihre Modelle ziemlich wie die eben erwähnten Maler die ihren wählen und daß, während in der königlichen Akademie ein elender, alter Schuft von Hundedieb sich alle Jahre finden wird, der alle Kardinaltugenden in sich vereinigt, was seine Augenwimpern oder sein Kinn oder seine Beine betrifft (und dabei den Dorn der Verlegenheit in die Brust der scharfsichtigeren Naturforscher drückt), häufig in der großen sozialen Ausstellung Äußerlichkeiten statt des inneren Charakters angenommen werden.

An diese Dinge dachte Arthur Clennam an jenem Tage, und Mr. Pancks in eine Reihe mit ihnen stellend, neigte er sich zu der Ansicht, ohne gerade sich entschieden für sie auszusprechen, daß der letzte der Patriarchen der oben besprochene, aufbrausende Einfaltspinsel sei, der den kahlen Teil seines Kopfes fein poliere. Wie man zuweilen auf der Themse ein schwerfälliges Schiff mit der Breitseite, das Hinterteil voran, in der Flut treiben sieht, sich selbst und allen andern im Wege – obgleich es große Parade mit seiner Schifffahrt macht, und dann plötzlich ein kleiner kohlenbeschmutzter Schleppdampfer darauf lossteuert, es ins Schlepptau nimmt und damit fortbraust, so schien auch der schwerfällige Patriarch von dem schnaubenden Pancks ins Schlepptau genommen worden zu sein, um nun dem Kielwasser dieses schmutzigen kleinen Schiffes zu folgen.

Die Rückkehr Mr Casbys mit seiner Tochter Flora machte diesen Gedanken ein Ende. Clennams Augen fielen kaum auf den Gegenstand seiner früheren Leidenschaft, als diese auch zusammenstürzte und in Stücke brach. Man wird die meisten Menschen so weit sich selbst treu finden, daß sie einem Ideal treu bleiben. Es ist kein Beweis eines unbeständigen Sinnes, sondern geradezu des Gegenteils, wenn dieses Ideal später nicht einen strengen Vergleich mit der Wirklichkeit aushalten kann und der Kontrast ein schlimmer Stoß für dasselbe ist. Das war auch Clennams Fall. In seiner Jugend hatte er dieses Weib glühend geliebt und auf sie all den verschlossenen Reichtum seiner Zuneigung und Liebe gehäuft. Dieser Reichtum war in seiner öden Heimat wie Robinson Crusoes Geld gewesen; bei niemandem auszuwechseln, unnütz im Dunkeln rostend, bis er ihn vor ihr ausschüttete. Seit jener denkwürdigen Zeit, obgleich er bis zu dem Abend seiner Ankunft sie von jeder Verbindung mit seiner Gegenwart oder Zukunft vollkommen ausgeschlossen, als wenn sie tot gewesen (was sie auch leicht sein konnte, da er nichts von ihr wußte), seit jener Zeit hatte er das alte Phantasiebild an seinem alten geheiligten Platz unverändert bewahrt. Und jetzt trat endlich der letzte der Patriarchen kalt in sein Zimmer und sagte gleichsam: "Haben Sie die Güte, es niederzuwerfen und darauf zu tanzen. Das ist Flora."

Flora, die immer groß gewesen, war nun auch breit und kurzatmig geworden; aber das war noch nichts. Flora, die er als eine Lilie verlassen, war eine Pfingstrose geworden; aber das war noch nichts. Flora, die in allem, was sie sagte, etwas Bezauberndes gehabt, war langweilig und albern geworden. Das war schon viel. Flora, die ehedem kindlich und ungekünstelt gewesen, war entschlossen, auch jetzt kindlich und ungekünstelt zu sein. Das war ein fataler Schlag.

Das ist Flora! »Ich bin überzeugt«, kicherte Flora, ihren Kopf mit einer Karikatur kindlichen Wesens hin- und herwerfend, wie das ein Vermummter bei ihrem Begräbnis hätte nachahmen können, wenn sie im klassischen Altertum gelebt hätte und gestorben wäre, »ich schäme mich, Mr. Clennam zu begegnen, ich fühle mich befangen; ich weiß, er wird mich schrecklich verändert finden, ich bin wirklich eine alte Frau. Es ist höchst unangenehm, ein solches Wiedersehen ist höchst unangenehm!«

Er versicherte sie, daß sie ganz so sei, wie er sie erwartet, und daß die Zeit bei ihm gleichfalls nicht stille gestanden.

»Ach! aber bei einem Herrn ist das etwas ganz anderes, und dann sehen Sie auch so erstaunlich gut aus, daß Sie wirklich kein Recht haben, etwas der Art zu sagen, während ich. Sie wissen – ach!« rief Flora mit einem leichten Schrei, »schrecklich aussehe.«

Der Patriarch, der offenbar seine eigne Rolle in dem Drama, das gerade aufgeführt wurde, noch nicht verstand, glühte vor leerer Heiterkeit.

»Aber wenn wir von nicht verändert sprechen«, sagte Flora, die, was sie auch sagen mochte, nie zu einem vollen Abschluß kam, »sehen Sie Papa an, ist Papa nicht genau so, wie er war, als Sie fortreisten, ist es nicht grausam und unnatürlich von Papa, ein solcher Vorwurf für sein eignes Kind zu sein, daß die Leute, die uns nicht kennen, wenn es auf diese Weise fortgeht, am Ende glauben werden, ich sei Papas Mama?"

»Das würde noch lange dauern«, bemerkte Arthur.

»Oh, Mr. Clennam, Sie unlauterstes von allen Wesen«, sagte Flora, »ich sehe schon, daß Sie Ihre alte Art, Komplimente zu machen, noch nicht verloren haben, wie damals, als Sie behaupteten, sentimental verliebt zu sein. Sie wissen – ich meine es eigentlich nicht – o, ich weiß nicht, was ich meine!« Hier kicherte Flora verlegen und warf ihm einen ihrer alten Blicke zu.

Der Patriarch, als ob er nun zu merken begänne, daß es seine Rolle in dem Stücke sei, sobald wie möglich von der Szene abzutreten, stand auf und ging nach der Tür, durch die Pancks hinausgestürmt, und rief diesen Schleppdampfer beim Namen. Er erhielt von einem kleinen Dock im andern Zimmer eine Antwort und wurde alsbald außer Sicht bugsiert.

»Sie dürfen noch nicht ans Gehen denken«, sagte Flora,– Arthur hatte nach seinem Hut gesehen, da er in einer komischen Verlegenheit war und nicht wußte, was er tun sollte; »Sie können nicht so unfreundlich sein, ans Gehen zu denken, Arthur – ich wollte sagen Mr. Arthur – oder Mr. Clennam wäre, glaube ich, weit passender – aber ich weiß wirklich nicht, was ich sage –, ohne mit einem Worte die schönen alten Zeiten, die für immer dahin sind, berührt zu haben. Obgleich, wenn ich daran denke, ich sagen muß, es wäre weit besser, nicht davon zu sprechen, und es ist sehr wahrscheinlich, daß Sie irgendeine weit angenehmere Beschäftigung haben, und ich bitte, lasten Sie mich die letzte Person in der Welt sein, die Sie daran hindern sollte, obgleich es eine Zeit gab, – aber ich schwatze schon wieder Unsinn.«

Hatte Flora in den Tagen, an die sie erinnerte, wohl auch so viel geschwatzt? War in dem Zauber, der ihn einst gefangennahm, eine Spur von ihrer gegenwärtigen unzusammenhängenden Geschwätzigkeit?

"Wirklich«, sagte Flora, mit erstaunlicher Eile fortfahrend und ihren Redefluß nur mit Kommas und auch damit nur sehr sparsam unterbrechend, "ich bin etwas zweifelhaft, ob Sie nicht eine Chinesin geheiratet, da Sie solange in China gewesen und Geschäfte trieben und natürlich wünschen mußten sich häuslich niederzulassen und Verbindungen anzuknüpfen, so war nichts einfacher, als daß Sie einer Chinesin einen Heiratsantrag machten und nichts war meiner Ansicht nach natürlicher, als daß die Chinesin einwilligte und sich nun sehr glücklich fühlt, ich hoffe nur, daß sie keine Heidin ist, die in den Pagoden betet.«

»Ich bin mit gar niemandem verheiratet, Flora«, versetzte Arthur, wider Willen lächelnd.

»O gütiger Himmel, ich hoffe, Sie blieben doch nicht meinetwegen so lange Junggeselle!« kicherte Flora; »natürlich nicht, warum sollten Sie auch, bitte, sagen Sie nichts, ich weiß nicht, was ich da alles schwatze. Oh, sagen Sie mir etwas von den chinesischen Damen, ob ihre Augen wirklich so lang und schmal sind, sie erinnern mich immer an Perlmutterfische beim Kartenspiel. Und tragen sie wirklich Zöpfe hinten hinunter und zusammengeflochten oder sind es nur die Männer? Und wenn sie ihr Haar so straff von der Stirn zurückziehen, tun sie sich nicht weh? Und warum hängen sie kleine Glöckchen über all ihre Brücken und Tempel und Hüte und sonstige Dinge oder tun sie das nicht wirklich?« Flora warf ihm wieder einen von ihren alten Blicken zu. Sie fuhr alsbald fort, als ob er eine Zeitlang ihre Fragen beantwortend gesprochen.

 

»So ist alles wahr und sie tun das wirklich! Gott im Himmel, Arthur! –bitte, entschuldigen Sie – eine alte Gewohnheit – Mr. Clennam wäre weit passender – welch ein Land, um so lange darin zu leben und mit so vielen Laternen und Schirmen! Wie finster und feucht muß das Klima sein und ist es ohne Zweifel, und die Summen Geldes, die von den beiden Geschäften gemacht werden müssen, wo jeder Mensch solche trägt und aufhängt, die kleinen Schuhe und die Füße, die schon in der Jugend verkrüppelt werden. Es ist erstaunlich, was Sie für ein Reisender sind!"

In seiner komischen Verlegenheit empfing Clennam wieder einen von den ehemaligen Blicken, ohne daß er im geringsten wußte, was er damit anfangen sollte.

»Ja, ja«, sagte Flora, »wenn ich an die Veränderungen in der Heimat denke, Arthur – ich kann es nicht überwinden, scheint mir so natürlich, Mr. Clennam wäre weit passender – seit Sie mit chinesischer Sitte und Sprache vertraut wurden, die Sie, ich bin's überzeugt, wie ein Eingeborener sprechen, wenn nicht besser. Sie waren ja immer geschickt und gewandt, obgleich die Sprache ohne Zweifel sehr schwer ist, ich weiß gewiß, die Teekisten allein würden mich töten, wenn ich's versuchte, – die Veränderungen, Arthur – ich sage schon wieder so, scheint so natürlich, höchst unpassend – die sich niemand hätte einfallen lassen, wer hätte sich je eingebildet, daß ich Mrs. Finching würde, da ich's selber mir nicht denken kann.«

»Ist das Ihr Name als Frau?« fragte Arthur, mitten in all diesem Geplauder durch einen gewissen warmen, herzlichen Ausdruck betroffen, der in ihrem Ton lag, sobald sie, wenn auch höchst wunderlich, auf das jugendliche Verhältnis anspielte, in dem sie früher zueinander gestanden. »Finching?«

»Finching. O ja, ist es nicht ein schrecklicher Name? Jedoch Mr. Finching sagte, als er mir seinen Heiratsantrag machte, was er siebenmal tat, und sich ganz hübsch drein fügte, nach zwölf Monaten wieder anzuklopfen, wie er's nannte, er sei nicht verantwortlich dafür und könnte nichts daran ändern, nicht wahr, ein exzellenter Mann, gar nicht wie Sie, aber doch ein exzellenter Mann!«

Flora hatte sich endlich doch für einen Augenblick außer Atem gesprochen. Einen Augenblick; denn sie erholte sich, während sie eine kleine Ecke ihres Taschentuchs ans Auge brachte, einen Tribut für den Geist des geschiedenen Mr. Finching, und begann dann wieder.

»Niemand kann bestreiten, Arthur – Mr. Clennam – daß es ganz recht ist, wenn Sie unter so veränderten Umständen förmlich freundlich gegen mich sind, und wirklich, Sie könnten nichts anderes sein, wenigstens kann ich nicht annehmen, daß Sie es wissen sollten, aber ich kann nicht umhin, daran zu erinnern, daß es eine Zeit gab, wo die Dinge ganz anders standen.«

»Meine liebe Mrs. Finching«, begann Arthur, durch den weichen Ton wieder betroffen.

»O, nicht diesen häßlichen, garstigen Namen, sagen Sie Flora!«

»Flora, ich versichere Sie, Flora, ich bin glücklich, Sie wiederzusehen und zu finden, daß Sie wie ich die alten, törichten Träume nicht vergessen haben, als wir alles im Lichte unserer Jugend und Hoffnung sahen.«

»Es scheint denn doch nicht so«, schmollte Flora, »Sie nehmen es sehr kalt auf, aber ich weiß freilich, Sie sind in mir enttäuscht. Ich vermute, die Chinesinnen – Mandarininnen, wenn Sie sie so nennen wollen – sind, schuld daran, oder vielleicht bin ich schuld daran, es kann ebensogut sein.«

»Nein, nein«, bat Clennam, »sagen Sie das nicht.«

»O, ich sollte Sie kennen«, sagte Flora in einem bestimmten Ton, »welcher Unsinn auch, ich weiß, ich bin nicht, was Sie erwarteten, ich weiß das ganz wohl.«

Mitten in ihrem Ungestüm hatte sie das mit der raschen Beobachtungsgabe einer klügeren Frau herausgefunden. Die ungereimte und ganz unvernünftige Art, wie sie plötzlich ihre lange abgebrochene Knaben- und Mädchenfreundschaft mit dieser Begegnung verwob, machte den Eindruck auf Clennam, als ob er verrückt wäre. »Eine Bemerkung«, sagte Flora, indem sie ihrer Unterhaltung, ohne die geringste Notiz von Clennam zu nehmen, zu seinem großen Schrecken den Ton eines Liebesstreites verlieh, »eine Bemerkung wünschte ich zu machen, eine Erklärung möchte ich abgeben: als Ihre Mama kam und deshalb eine Szene mit meinem Papa spielte, und als ich in das kleine Frühstückszimmer hinabgerufen wurde, wo sie, Ihrer Mama Sonnenschirm zwischen sich, einander ansahen und dasaßen auf zwei Stühlen wie zwei tolle Stiere, was sollte ich da tun!«

»Meine liebe Mrs. Finching«, bat Arthur, – »alles, was so lange vorbei und so lange erledigt, verdient ernstlich –«

»Ich kann mich nicht, Arthur«, entgegnete Flora, »von der ganzen chinesischen Gesellschaft der Herzlosigkeit anklagen lassen, ohne mich zu rechtfertigen, wenn mir die Gelegenheit geboten ist. Sie mußten ganz gut wissen, daß es ein ›Paul und Virginie‹ zurückzugeben galt, welches auch zurückgegeben wurde, aber ohne Bemerkung oder Erklärung. Nicht daß ich damit sagen wollte, Sie hätten an mich schreiben sollen, bewacht wie ich war, aber wenn Sie das Buch nur wenigstens mit einer roten Oblate auf dem Umschlag versehen, so würde ich gewußt haben, daß es sagen wollte: Komm barfuß nach Peking, Nanking, und wie heißt doch noch gleich der dritte Ort?«

»Meine liebe Mrs. Finching, Sie waren nicht zu tadeln, und ich tadelte Sie nie. Wir waren beide zu jung, zu abhängig und hilflos, um in irgend etwas zu willigen, als unsre Trennung. – Bitte, bedenken Sie, wie lange das her ist«, warf Arthur freundlich ein.

»Noch eine Bemerkung möchte ich machen«, fuhr Flora mit ungeschwächter Redekraft fort, »nur noch eine Erklärung abgeben. Fünf Tage hatte ich einen Schnupfen vom Weinen, während dessen ich beständig in dem hinteren Empfangszimmer blieb. – Das hintere Empfangszimmer ist noch immer in dem ersten Stock und immer noch hinten hinaus, um meine Worte zu bekräftigen. – Als diese traurige Periode vorüber war, folgte ein Dämmerzustand. Jahre verflossen und Mr. Finching wurde uns bei gemeinschaftlichen Freunden vorgestellt. Er war lauter Aufmerksamkeit; er kam den folgenden Tag zu uns, er kam bald in der Woche dreimal abends und schickte Kleinigkeiten zum Nachtessen. Es war nicht Liebe auf Mr. Finchings Seite, es war Anbetung; Mr. Finching machte seinen Antrag mit der vollen Zustimmung Papas und was konnte ich tun?«

»Nichts, gar nichts andres«, sagte Arthur mit der freundlichsten Bereitwilligkeit, »als was Sie taten. Gestatten Sie einem alten Freund, Ihnen zu versichern, daß er vollständig davon überzeugt ist, wie Sie recht getan.«

»Eine letzte Bemerkung wollen Sie mir erlauben«, fuhr Flora fort, das Alltagsleben mit der Hand abwehrend, »eine letzte Erklärung wünschte ich abzugeben. Es war eine Zeit, ehe Mr. Finching mir seine ersten unmißdeutbaren Beweise von Aufmerksamkeit gab; aber sie ist vorbei und sollte nicht sein, lieber Mr. Clennam. Sie tragen keine goldene Kette mehr, Sie sind frei: Sie werden glücklich sein: hier ist Papa, der immer überflüssig ist und überall seine Nase hineinsteckt, wo man ihn nicht haben will.«

Купите 3 книги одновременно и выберите четвёртую в подарок!

Чтобы воспользоваться акцией, добавьте нужные книги в корзину. Сделать это можно на странице каждой книги, либо в общем списке:

  1. Нажмите на многоточие
    рядом с книгой
  2. Выберите пункт
    «Добавить в корзину»