Читать книгу: «Granate oder Granatapfel, was hat der Schwarze in der Hand», страница 4
EIN CARL LEWIS AUF DER SCHREIBMASCHINE
Ich wusste nicht, dass es so schwer werden würde. Von weitem sah ich die anderen oben auf dem Gipfel. Wo die Luft kühler ist. Schön cool. Wie Götter! Ich beneidete sie mit allem, was ich im Bauch hatte. Ich musste um jeden Preis dort hinauf. Wo die Früchte nie fade schmecken, wo das Gemüse grüner ist als anderswo (diese Information habe ich von Truman Capote, der lange mit den Reichen verkehrte), wo die Mädchen immer blutjung sind (jedes alte Ekel über sechzig mit einem sechsstelligen Bankkonto wird es dir bestätigen), wo alles zum Besten steht in der besten aller Welten. Sollen die anderen doch unten bleiben und schauen, wie sie durchkommen in dem Morast. Keine Reue. Keine Nostalgie. Die Armut hat es nie gut mit mir gemeint. Wenn Leute dort oben sind, kommt man irgendwie hinauf, warum also nicht auch ich? Das Einzige, was du wissen musst: Um dort hinaufzugelangen, muss man sehr leicht, sehr, sehr leicht werden. Oben schwimmen, Alter. Alles hinter dir lassen, was dich belastet: die Ängste, die falschen Probleme (vor allem die echten Probleme!), die Jugendträume, die Gewissensbisse, schlicht alles, was dich an den Füßen festhält und so hindert, mit frischem Mut die jüdisch-christliche Gesellschaftsleiter hinaufzuklettern. Vor allem musst du daran denken, dass du unbedingt mit der Form eines Profiathleten oben ankommst. Ein Carl Lewis auf der Schreibmaschine. Schlank, biegsam, mit Nerven wie Stahl und brennend vor Ehrgeiz. Der schnellste lebende Schriftsteller, wenn man schon nicht der beste sein kann. Ein Buch in weniger als zehn Sekunden. Das ist eine echte Herausforderung. Da musst du schuften wie ein Neger. Mit einer guten Stoppuhr. Genau wie die Champions, Bruder. Alle Berufe sind bemüht, bei unserer schnelllebigen Zeit mitzuhalten. Nur bei den Schriftstellern trifft das noch auf taube Ohren. Dann wundern sie sich, wenn die Rockmusiker oder die Hockeyspieler die Hitparaden erobern. Selbst Journalisten tun heutzutage, was sie können. Nur die Schriftsteller stricken weiter an ihren kleinen Intrigen aus dem letzten Jahrhundert, ohne sich um die Gegenwart zu kümmern. Sie hinken völlig hinterher, dicht gefolgt von den Bildhauern. Aber die Zeit rast, Bruder. Eigentlich hätten wir das als erste begreifen müssen, denn Schreiben bedeutet angeblich, über die Zeit zu herrschen. Dass ich nicht lache! Die Zeit steht auf unseren weißen Blättern ganz still. Eine tote Zeit. Denn die echte läuft weiter. Schaut euch die Athleten da draußen an. So selbstsicher, lebenslustig, fiebrig, das linke Auge immer auf die Stoppuhr geheftet. Sie wissen, was sie wollen und was sie wert sind, auf die Zehntelsekunde genau. Habt ihr den Kopf von Carl Lewis gesehen? Diesen Kopf eines Prinzen trüge ich gerne auf meinen Schultern. Lewis ist es gewohnt, an den Start zu gehen, um zu messen, was er wert ist. Ohne Wehleidigkeit. Die Stoppuhr in der Hand. So häufig wie du zum Wäschewaschen gehst. Die Schriftsteller schwimmen dagegen im künstlerischen Ungefähr. Manchmal löst das bei mir einen Brechreiz aus. Nur sehr wenige Schriftsteller können genau angeben, wo sie gerade stehen. Es ist der letzte Berufsstand, der so bedingungslos an der Bescheidenheit festhält, dieser tugendhaften Form der Heuchelei. Dazu die Behauptung, man schreibe, um sich selbst besser kennenzulernen. Natürlich würde keiner sagen, Carl Lewis und Hemingway übten denselben Beruf aus. Doch bin ich mir nicht mal sicher, ob Hemingway das auch so gesehen hätte. Denn er wollte den Sport und das Schreiben näher zusammenbringen. Kein schlechter Versuch, übrigens. Dabei verdienten die Sportler damals praktisch nichts. Heute verdient Carl Lewis Millionen, für nicht mal zehn Sekunden. Das ist ein Beruf, der es wirklich weit gebracht hat. Die Sprünge, die er macht! Warum meint man immer noch, die Energie des Hirns sei besser als die Energie der Muskeln? Was lässt uns glauben, ein Schriftsteller sei intelligenter als ein Athlet? Der eine benutzt sein Gehirn, sagen Sie. Welcher von beiden? Der sich drei Jahre mit einem Roman abmüht, der ihm alles in allem 5000 Dollar einbringt, oder dagegen Carl Lewis? Ja, aber … Aber was? Ein Schriftsteller hat mehr Prestige. Selbstverständlich, wenn dir das hilft, weiterzuschreiben, Bruder.
MIT WUT IM HERZEN
AIDS kommt nicht vom Sex, sondern vom Ekel vor dem Sex im Westen. Und wer zahlt heute die Zeche? Wieder die Dritte Welt. Die Erkenntnis hat sich noch nicht durchgesetzt, dass Sex die einzige sinnvolle Freizeitbeschäftigung der Armen ist. Auch in Nordamerika gibt es die Dritte Welt. Es sind die Ghettos, wie Ameisenhaufen, wo es von armen, analphabetischen Schwarzen wimmelt und wo die schwangeren Teenager manchmal Kokain (oder eher Crack!) mit Milchpulver verwechseln. Das Kind kommt blind, drogenabhängig und krank auf die Welt. Doch das bringt es nicht um, sondern eine Kugel in seinem Kopf an der Ecke 125. Straße und Broadway. In diesen Verhältnissen ist der Rap entstanden.
„Aber Rap ist doch Scheiße!“, sagte mir Kunta am Telefon.
„Nicht so schnell, Bruder.“
„Was denn sonst?“
„Der Rap hat den Zeitgeschmack auf die Dichtung gebracht … Seitdem die Typen aus dem Ghetto rappen, haben alle Kids aus den Armenvierteln weltweit angefangen, Reime zu schmieden.“
„Das nennst du Dichtung! Das ist doch eine vorübergehende Mode …“
„Das hat man schon beim Jazz gesagt.“
„Jazz ist was anderes …“
„So heißt es immer … Sobald etwas zum Klassiker wird, vergisst man, wie weit der Weg dahin war.“
„Was findest du selbst denn am Rap?“
„Ich persönlich gar nichts. Aber ich frage mich, warum diese Kids plötzlich anfangen, mit den Wörtern zu spielen.“
Stille am Ende der Leitung. Ein Punkt für mich. Aber nur einer.
„Mit dieser Wut“, fügte ich hinzu.
„Aber die ist doch nur gespielt. Sobald sie eine Platte haben, sind sie raus aus dem Elend.“
Wir lachten beide.
„Ich meine nicht die, sondern die Kids, die in überhitzten Kellern auftreten, auf Autofriedhöfen oder unbebautem Gelände … Früher drückten sie sich eher darin aus, dass sie das Auto des Nachbarn kaputtschlugen, etwas in Brand steckten oder einen Überfall auf den Eckladen verübten (nie weit genug von ihrem Zuhause, die Deppen!). Heute brandstiften sie mit Worten … Vielleicht ist das kein Fortschritt, aber mir gefällt es zu sehen, wie sie nach der treffendsten Beleidigung suchen …“
„Das ist doch hauptsächlich frauenfeindlicher Mist“, hielt mir Kunta entgegen. „Klar, wollen sie alle Bullen umbringen, aber was bringt das für sie? Es kommen doch immer wieder neue … Außerdem sind wir nicht mehr in den Sechzigerjahren. Der echte Feind ist nicht mehr der Bulle, sondern es sind die Banker von der Wall Street, die von ihren Glastürmen aus ein Land der Dritten Welt ins Elend stürzen können.“
„Stopp, Kunta, was soll ich dir antworten, wenn du mir meine eigenen Argumente entgegenhältst? Als würde ich mit mir selbst diskutieren.“
„Vielleicht stimmt das sogar …“
Er legte lachend auf.
Diskutiere ich mit mir selbst? Habe ich den Mann erfunden, um nicht allein zu sein? Der Scheck ist aber echt. Ehrlich gesagt, kommt mir die ganze Angelegenheit plötzlich verdächtig vor. Leute, von denen ich keine Ahnung hatte, rufen mich ausgerechnet in dem Moment an, als ich in einer schweren wirtschaftlichen Depression versinke, und bieten mir eine große Reportage über Amerika an. Ein Typ, den ich nicht kenne, hat meine Adressdaten an Leute gegeben, die ich noch weniger kenne. Norman Mailer haben sie auf Schritt und Tritt verfolgt. James Baldwin hing an der Abhöranlage. Die FBI-Akte von William Styron war ziemlich dick. Man muss aufpassen. Wie soll ich mich verhalten? Damit sie einen nicht erwischen, muss man unauffällig bleiben. Schlicht der sein, der man ist. Sie wollen immer deine Geheimnisse herausfinden. Schreib sie alle hin. Keine Geheimnisse, das ist mein intimstes Geheimnis. In jedem Fall haben wir in unserem Inneren einen verschlossenen Bereich, den auch der klügste Geheimagent (dieses Wort gefiel mir als Jugendlicher so sehr: Geheimagent!) niemals knacken wird. Und wenn ich beschließe, mich nicht in diese Höhle zu begeben? Sie unberührt zu lassen? Was ist mit einem Geheimnis, das keiner kennt? Wenn ich diesem Hang zum Zen weiter nachgebe, werde ich am Ende noch wie Salinger. Vielleicht lag eben darin seine Beziehung zu Amerika. In seiner Beziehung zum Geheimnis. Salinger enthüllt uns seine unsichtbare Seele und verbirgt das Sichtbare, den Körper. Im Grunde nur eine andere Art und Weise, seine Seele zu schützen. Er führt uns auf eine falsche Fährte. Und Amerika? Macht es vielleicht wie Salinger: zeigt eher den Körper als die Seele … Ich wehre mich gegen die Idee, diese Überlegungen kämen nur vom Bier. Ich halte sie für das Ergebnis einer langen, metaphysischen Suche.
NUR IM DUNKELN DENKT DER SCHWARZE WIRKLICH NACH
Du brauchst einen langen Atem, Alter. Das Gute ist, sobald du durch die Ozonschicht bist und den freien Raum erreichst, hast du ausgesorgt. Von da an läuft alles von selbst. Die Frauen kommen auf dich zu. Von sich aus. Ohne dass du sie begehrst. Aber bevor du diese Stufe erreichst, wirst du enorm hart schuften müssen! Immer wieder zeigt sich ein ziemlich schwieriger Knoten und du meinst, den wirst du nie aufkriegen. Gerade dann musst du dich mit aller Geduld wappnen und ihn ganz langsam, Äderchen für Äderchen, aufdröseln. Dann hast du es allerdings immer noch nicht geschafft. Ein weiterer, noch schwierigerer Knoten stellt sich ein und du brauchst noch mehr Geduld und so bist du über sechzig, bevor du alle Knoten gelöst hast, und musst zugeben, dass du gefickt bist. Alles auswischen, bitte. Noch mal von vorne, Bruder. Du musst einfach aufhören daran zu denken und es tritt von selbst ein, wie ein ununterbrochener Orgasmus. Einfach geil! Du stehst eines Morgens auf und fängst an, wie ein Verrückter den kurzen Roman zu schreiben, den die ganze Welt voll Ungeduld erwartet hat. Du sagst dir: „Das ist nicht wahr, das kann nicht so leicht sein, irgendwas stimmt nicht mit mir. Ich bin nicht ganz ich selbst. Wer ist der kleine Witzbold in mir, der mir diesen üblen Streich spielt?“ Trotzdem geht es weiter und du tippst wie ein Verrückter. Du hast keinen Hunger, keinen Durst, nicht mal Lust zu vögeln. Du bist schlicht in einem anderen Zustand und überzeugt, wenn du jetzt aufhörst, kommt das nie wieder. Deshalb machst du weiter. Du weißt nicht mehr genau, was du schreibst, aber du spürst, es geht über deine Kräfte, es ist noch jemand anderes im Zimmer, gleich hinter dir. Der Hauch des Bösen in deinem Nacken. Am Ende senkst du den Kopf und murmelst etwas dir völlig Unverständliches. Du bist besessen, Alter. Das Böse wohnt in dir. Leider passiert so etwas nie im normalen Leben. Jedenfalls nicht in meinem. Du irrst dich, Alter, das ist schon vorgekommen. Bei wem? Schau dich um. Nein, nicht aus dem Fenster. Auf dein kleines Bücherregal. Genau, Der kleine Prinz. Was! Gerade mal fünfzig Schreibmaschinenseiten. Und hopp! Für die Ewigkeit! Mir nichts dir nichts. Nur um die Amerikaner zu ärgern, mit ihren dicken Wälzern von nicht unter 600 eng bedruckten Schreibmaschinenseiten. Jede Seite vollgestopft mit genauen Angaben über die Figuren (was sie essen, trinken, anhaben und wo sie hingehen, auch der Name der Bar, wo sie was trinken, dazu der Name des Getränks, mit dem Rezept für den Cocktail et cetera). Auf diese Weise schafft man 600 Seiten in weniger als einem Monat. Warum keine 10 000 Seiten? Es ist nie genug, bis die ganze Erde damit zugemüllt ist. Diese Leute haben nichts zu sagen und um das auszudrücken, brauchen sie drei Bände. Und das Publikum? Mein Herr, das Publikum ist beeindruckt von dem Gewicht (fünf Kilo) und kauft sich den Wälzer mit gut verpacktem Quark, ohne auf die Qualität zu achten: „Geben Sie mir noch zwei dazu, Madame, auch den dicken, der sich klammheimlich hinter dem Michener versteckt, nein nein, auf keinen Fall Stephen King, den kann ich wirklich nicht ausstehen. Offenbar lässt er seine Bücher von Außerirdischen schreiben, seine Neger kommen vom Mars. Das habe ich in World News gelesen. Wenn er aber diese dicken Bücher selbst schreibt, tut er das eindeutig zu oft, das gefällt mir nicht. Dahinter muss sich etwas verbergen, irgendein Laster, wissen Sie, der Typ schreibt so schnell, kaum habe ich eines von ihm angefangen, kommt bereits ein neues heraus. Finden Sie das normal? Nein, ich nehme noch eins von Irving, ich mag Bären und hoffe, dass in dem wieder einer vorkommt … Für heute ist es genug, wissen Sie, es ist ein langes Wochenende und wir fahren alle nach Disneyland …“ Dabei hat jeder von diesen Typen, Bruder, ich meine Irving, Michener und King (ich lasse absichtlich die unter den Tisch fallen, die unlesbar und unbekannt sind) einen Abschluss von einer der ältesten amerikanischen Universitäten. Sie sind es gewohnt, schwer zu schuften, detailreiche Studien anzufertigen, ausufernde Aufsätze zu verfassen, das passt auch gut zu dem Stil ihrer Kleidung, wie sie tanzen, sich lieben … Dieser Glaube … dieses Durchhaltevermögen … dieser Sinn für das Arbeiten mit langem Atem … dieser schlechte Atem … All das brauchen sie, um Tonnen von Papier mit sinnentleerten Wörtern vollzuschreiben. Eine Geschichte ohne Inhalt und Perspektive. Währenddessen liegt Der kleine Prinz da, schläft stehend im Regal, wartet geduldig wie ein braves Kind auf die künftigen Jahrhunderte. Was für eine süße Rache wäre es, so etwas gegen diese Umweltverschmutzer zu Papier zu bringen, etwas so Sanftes, so Rundes, so Reines wie dieses Meisterwerk von Saint-Exupéry und sich vom Erlös einen Jaguar zu kaufen. Wenn der Heilige Geist existiert, wäre jetzt der Moment, in dem er sich zeigen müsste. Es ist seine letzte Chance. Warum rege ich mich derart auf? Was soll ich denn sonst tun, während ich im Dunkeln liege unter dem offenen Fenster und diesem riesigen amerikanischen Himmel?
DIE ABREISE
Ich glaube, es ist Zeit für die Abreise. Ich hole die alte braune Ledertasche hervor, stopfe ein paar T-Shirts, drei Jeans, Unterwäsche, ein Paar Tennisschuhe, zwei Paar Sandalen, einen Elektrorasierer, einen billigen Fotoapparat, Trockenfrüchte, Seife, eine Zahnbürste, Zahnpasta, ein paar Bücher (Dostojewski, Naipaul, Salinger, Kerouac und vor allem Walt Whitman), Stifte, einen Anspitzer und ein Dutzend bei Pilon gekaufte Hefte hinein.
Mit dieser Ausrüstung habe ich vor, die Durchquerung Amerikas zu unternehmen.
UNTER WASSER
Am Busbahnhof traf ich Bouba, in der Nähe der Greyhounds, die viele Ziele in den USA ansteuern. Bouba ist mein alter Gefährte in guten, vor allem aber schlechten Tagen. Der einzige Mensch, mit dem ich Stunden verbringen kann, ohne zu reden. Bei Bouba brauche ich keine Worte. Sein Inneres erfasst alles. Ich glaube, es gibt niemanden, der freier ist als Bouba. Er macht einfach genau das, was er will. Er schläft zu jeder Tageszeit, isst was er will, kleidet sich, wie er will. Seine Gedanken sind wirklich frei. Oft ändert er seine Meinung mitten im Satz. Ich hatte ihn seit drei Wochen nicht gesehen. Mitunter verschwindet er einfach spurlos.
„Ja“, sagte er, „ich gehe wieder unter Wasser.“
„Für wie lange?“
„Ich weiß nicht.“
„Verstehe.“
„Ich habe Lust zu verschwinden … Und du?“
„Ich mache eine Reportage. Ich muss durch die ganzen Vereinigten Staaten reisen.“
„Verstehe“, sagte er mit einem dünnen Lächeln.
Eine Pause.
„Hast du eine Adresse?“, fragte ich.
„Nein … ich muss los …“
Bouba von hinten. Die junge Frau, die ich gerade in einer Bar getroffen hatte, ist von diesem Bouba bereits schwer beeindruckt. Schon ist er weg und wieder hängt an meinem Arm eine leblose Frau. Er hat es noch nicht einmal bemerkt.
*Walt Whitman: Grashalme. Nachdichtung von Hans Reisiger, Zürich (Diogenes) 1985, S. 71.
II. TEIL
DIE REISE
EIN REISEGEFÄHRTE
Abends schlüpfe ich in mein Hotelbett (ein Day’s Inn in der Nähe der Autobahn), darauf liegt aufgeschlagen wie eine Generalstabskarte das großartige Buch von Walt Whitman: Leaves of Grass*.
Gerade bin ich mitten in der Nacht aufgewacht und weiß nicht, wo ich bin. Vollkommen verloren in dieser mir so fremden Banalität. Oh nimm meine Hand, Walt Whitman!
Er schreibt Worte, die ich gerne an ihn richten würde. Das tut er, damit ich nicht meine, ich bäte ihn um Hilfe. Ich möchte nur seine Gegenwart in diesem Zimmer. Was suche ich hier? Was geschieht mit mir? Was hat dieses Spiel für einen Sinn? Ich weiß es nicht. Da schenkt mir Whitman diese überzeugende Betrachtung der Zeit. Einfach so, aus Großmut. Wie stets hat er den Preis von seinem Geschenk entfernt.
Voll Leben jetzt, greifbar, sichtbar,
Vierzig Jahre alt im dreiundzwanzigsten Jahr der Staaten,
Sende ich einem, der ein Jahrhundert oder viele Jahrhunderte später lebt,
Sende ich dir diese Gedichte, und suche dich.
Wenn du sie liest, bin ich, der sichtbar war, unsichtbar geworden, Du bist es nun, der, greifbar, sichtbar, meine Gedichte lebendig macht, und der mich sucht.**
DIE FAHRT IN DEN SÜDEN
Gestern Abend bin ich in den Greyhoundbus gestiegen. Wir fuhren die ganze Nacht. Ich las ein wenig. Schließlich hat der Bus in einer winzigen Stadt in den Südstaaten angehalten, die den Namen einer europäischen Hauptstadt (Rom, Paris oder Berlin) hat.
Ich werfe einen Blick aus dem Fenster. Die Tankstelle erfasst einen großen Bereich mit ihrer seltsam farblosen Beleuchtung. Ein Hund heult durch die Nacht. Diese Szene kenne ich aus schlechten deutschen expressionistischen Filmen. Dies muss Berlin, USA, sein. Plötzlich geht die Bustür auf. Der Fahrer hat dafür einen Hebel neben dem Lenkrad. Alles stürzt nach draußen, um sich die Beine zu vertreten. Ich bleibe auf meinem Sitz, blättere in dem Buch von Naipaul (In den alten Sklavenstaaten), das ich schon seit einiger Zeit mitschleppe. Meine Meinung zu Naipaul ist gespalten. Ich halte ihn für einen Meister der ruhigen, gediegenen, ausgewogenen Prosa, durchaus mit dem Feuerchen der Ironie, das er zwischen den Zeilen der Erzählung unterhält, und gleichzeitig kann ich mich gegen das Gas der Langeweile nicht wehren, die seine bedeutungsschwangeren Sätze unaufhörlich abgeben. Um ihn zu lesen, braucht man manchmal eine Gasmaske.
Nach einer halben Stunde sind sie wieder zurück, ich höre etwas erfrischte Körper, endende Gespräche, etwas lebhaftere Schritte. Die Herde ist wieder im Stall. Der Fahrer hat zehn neue Fahrgäste aufgenommen, die er hier und dort platziert. In dieser Finsternis bringt das recht viel Bewegung mit sich. Außer der grell erleuchteten Tankstelle liegt der Ort in tiefschwarzer Nacht. Mit Mühe erkenne ich ein paar Häuser mit einem schwachen Lichtschein. Die Leute schlafen bei eingeschaltetem Fernseher. Der Fahrer weist einem jungen Mädchen den freien Platz neben mir zu. Auf dem Rückweg nach vorn schickt er mir ein Augenzwinkern. Sie verstaut in aller Ruhe ihren Koffer unter dem Sitz. Ich schaue ihr dabei zu. Sie lächelt mich an, während sie ein Buch aus ihrer Tasche holt. Einen dieser entsetzlichen Bestseller. Nach dem Titelbild zu schließen handelt es sich ein weiteres Mal um eine dieser Südstaaten-Romanzen. Wenn man Vom Winde verweht gelesen hat, kennt man sie alle. Ich greife wieder zu meinem Heft und beginne mit ein paar raschen Notizen. Der Bus, die Nacht. Der Süden. Ich denke an Styron, der die schrecklichen Südstaaten von Amerika recht gut verteidigt hat. Styron ist aufrichtig und ein bewundernswerter Autor. Ich respektiere seine Angst. Ich denke auch an Faulkner. Er träumt immer noch von der Farm seiner Vorväter. Von der gesegneten Zeit der Sklaverei im guten alten Süden. Der arme Faulkner ist in dieser Zeit stecken geblieben. Schwarze, die auf den Baumwollfeldern schwitzen. Ich sehe Baldwins Zorn. Ich kann Baldwin verstehen. Baldwin gegen Faulkner. Dieser Faulkner meinte, die Schwarzen sollten sich weiter in Geduld üben, um die angeschlagene Psyche der Weißen aus dem Süden nicht noch mehr aufzuwühlen. Baldwin dagegen spürte, dass alles direkt vor den Augen dieses unbekümmerten Amerika explodieren würde. Faulkner und Baldwin, Auge in Auge. Der große Autor des Südens, Nobelpreisträger, Gentleman-Farmer mit seinen ungehobelten Manieren, daneben dieses geniale Bürschchen aus Harlem. Faulkner ist ein großartiger Schriftsteller, aber er konnte sich nicht in die Haut eines Schwarzen aus dem Süden versetzen. Er blieb blind gegenüber dem allergrößten Skandal: der Sklaverei. Blind, taub und stumm. Amerikas größter Dichter. Wir alle haben unsere Grenzen. Baldwin ist der junge Prophet, der die Apokalypse vorhersagt. Das nächste Mal kommt das Feuer. Was empfinde ich dabei, neben einem Mädchen aus dem Süden zu sitzen? Nur die Ruhe, wir sind schließlich nicht in Südafrika. Ich mag Leute nicht leiden, die außer sich geraten, wenn von der kleinsten rassistischen Geste die Rede ist, oder denen bei jedem Provinzdiktator gleich Hitler einfällt. Immer mit Maß, Bruder. Genau in diesem Moment spricht meine Nachbarin mich an. Sie möchte wissen, ob es mich stören würde, ihr meinen Platz am Fenster zu überlassen. Sie hat ein bisschen Platzangst. Was soll ich von so einem empfindlichen jungen Mädchen halten? Dazu muss man nur die Schwarzen aus dem Süden befragen. Da ist dieses nette, unpässliche Mädchen, es hat sicher sympathische Eltern, aufmerksame Freunde, warmherzige Nachbarn (nach der guten alten Sitte der Südstaaten). Alle gehen jeden Sonntag zur Kirche, mühen sich für eine Wohltätigkeitseinrichtung, arbeiten ehrenamtlich in einem Krankenhaus, Waisenhaus oder Hospiz. Ich bin ehrlich überzeugt, im Süden leben sehr viele Heilige. Doch was läuft schief? Wie ist es möglich, dass die gleichen Leute Mitglied im Ku-Klux-Klan sind, demonstrativ den Gedenktag von Martin Luther King nicht feiern, die Integration der Schwarzen in den Schulen bekämpfen (das ist noch nicht so lange her, Bruder) und die Flucht ergreifen, sobald eine anständige schwarze Familie in ihre Nachbarschaft zieht? Natürlich lässt es sich aus der Historie erklären, zusammengesetzt aus einer Vielzahl von kleinen, individuellen Geschichten, die sich in ihren großen Strom ergießen wie Bäche … Die Mehrheit der Leute in den Südstaaten sind keine Rassisten und doch ist der Süden weiterhin zutiefst rassistisch. Wie soll man das verstehen? Ein rassistisches Land, wo keiner Rassist ist, das ist für mich ein bleibendes Mysterium. Wenn ich jemanden aus den Südstaaten begegne, ist es mir schlicht unmöglich, in ihm ein Individuum wie jedes andere zu sehen. Die Geschichte läuft jedes Mal im Zeitraffer vor mir ab. Diese Übung finde ich ermüdend. Was bringt es, immer an diese Dinge zu denken? Nichts wird dadurch besser, dass ich mir böses Blut mache. Ich schlafe ein wenig. Ich kann in jeder beliebigen Situation schlafen und sogar träumen. Eine echte Gabe, Bruder. Ich erwache, als der Bus in einer Stadt hält, die genauso aussieht wie die vorige und wahrscheinlich ähnlich wie die folgende. Die Menge stürzt sich wieder aus dem Bus hinaus, giert erneut nach frischer Luft. Noch eine grell erleuchtete Tankstelle. Der Hintergrund für einen Albtraum. Millers Albtraum, nur klimatisiert. Ich rühre mich wieder nicht von meinem Sitz. Die amerikanischen Kleinstädte bekommen mir nicht. Jedes Mal dieselbe dumme Frage: Wie ist es möglich, dass jemand freiwillig in diesem Loch lebt? Doch in Afrika oder Südamerika drängt sich mir die Frage nie auf. Diese kleinen Städte in Amerika sind geruch- und farblos, es fehlen sogar die Krankheitserreger (außer die der Dummheit). Die Kleinstädte sind ein einziger an mich gerichteter Vorwurf. Sie sagen: „In einer Viertelstunde fahren Sie wieder weg und ich weiß, Sie kommen nie wieder.“ Wie recht sie haben! Genau das bricht mir das Herz. In Amerika besuche ich nur die Großstädte. Ich kann einfach nicht akzeptieren, dass Leute nicht den geringsten Anspruch haben. Was die Intellektuellen von Harvard Americana nennen, löst bei mir Brechreiz aus. Nur bei Erskine Caldwell kann man dafür ein gewisses Interesse aufbringen. Aber Erskine Caldwell ist nicht unbedarft, sein Universum ist weder folkloristisch noch touristisch. Schau an, sie steigt zusammen mit den anderen aus. Der Bus ist mit einem Schlag leer. Sie ist streng gekleidet, aber ein geübtes Auge (also meines, Bruder) könnte leicht ihren Körper unter dem geblümten Kleid erraten. Ein an strenge Regeln gewöhnter Körper. Der Körper einer jungen WASP, deren Inneres vom schlimmsten Ungeziefer zerfressen ist: der sexuellen Heuchelei. Ich stelle mir vor, wie sie im gemischten Chor singt (im Süden bezeichnet „gemischt“ die Mischung der Rassen). Fast augenblicklich wird mein Glied steif. Die Menge steigt wieder ein. Kaum zehn Minuten, um sich die Beine zu vertreten und ein völlig belangloses Gespräch zu beginnen. Die Leute setzen sich. Ihr Platz bleibt leer. Der Autobus braust durch die Nacht bis zur nächsten schäbigen Kleinstadt der Südstaaten. Ich nehme das Buch von Naipaul wieder auf und schlafe nach etwa zehn Sätzen ein.