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6.
Plötzlich war die Crew stocknüchtern. Alle die abfälligen, verächtlichen Kommentare wie „Wir haben schon ganz andere Stürme abgeritten“ blieben den Männern im Hals stecken. Denn daß dieses Wetter nicht mit alldem zu vergleichen war, was sie bisher erlebt hatten, wurde ihnen schnell klar. Illusionen schufen sie sich nicht, dazu waren sie zu erfahren. So schnell abklingen, wie es herangerast war, würde dieses Sturmtosen ganz gewiß nicht.
Dan O’Flynn auf seinem luftigen Posten hatte sich von der leeren Rumflasche getrennt, und jetzt schickte er sich an, den Großmars zu verlassen. Wild schwang der Hauptmast, Dan hatte Mühe, sich festzuklammern. Er kämpfte mit zusammengebissenen Zähnen darum, nicht in die See geschleudert zu werden.
Arwenack hatte ähnliche Schwierigkeiten. Er enterte klagend in den Leewanten ab. Dan hangelte dicht über ihm. Er war um die Nasenspitze herum bleich geworden. Fast hätte er den richtigen Augenblick, die letzte Chance versäumt, den Großmars zu verlassen. Jedes weitere Zögern hätte ihn den Kopf gekostet, denn im Taifun hielt sich höchstens noch ein Wunderwesen, das mit übernatürlichen Fähigkeiten ausgestattet war, in dem verdammten Großmars.
Aufatmend erreichte Dan die Kuhl. Er half mit, die Manntaue zu spannen. Carberrys Gebrüll klang in diesen Sekunden richtig anheimelnd. Dan war froh, mit heiler Haut davongekommen zu sein. Der Rum, der eben noch seinen Geist sanft umnebelt hatte, verflog wie ein Dunsthauch unter der Sonnenglut.
Der Seewolf hatte mitgeholfen, Pete Ballie im Ruderhaus festzubinden. Jetzt hangelte er an den Manntauen übers Quarterdeck.
Er stieg zu Dan auf die Kuhl hinunter und rief ihm zu: „Keine Insel in Sicht, nicht wahr, Dan?“
„Keine. Sonst hätte ich es dir gemeldet.“
„Natürlich. Wir müssen uns durchboxen!“
„Ja!“ rief Ben Brighton, der oben an der Five-Rail stand. „Etwas anderes bleibt uns nicht übrig. Himmel, was wird das bloß?“
Keiner gab ihm eine Antwort darauf. Er hatte sie auch nicht erwartet. Der Taifun peitschte sie voran, aber wer wußte schon, wie stark dieses Orgeln und Wüten sich noch entwikkelte?
Hasard hatte seemännische Bücher, in denen ein Taifun als ein „heftiger, in der Chinesischen See vorherrschender Drehsturm“ beschrieben wurde. Das war eine geradezu milde Bezeichnung. „Taifung“, dieses Wort stammte aus dem Chinesischen und bedeutete soviel wie „großer Wind“. Aber auch das war nicht ausreichend, um die Wucht und Ungeheuerlichkeit eines solchen Wetters wiederzugeben.
Ein Mann namens Coelius hatte es jüngst in einem schriftlichen Bericht bildhafter ausgedrückt: „Erschröckliche Ungestüme, die man Tifun nennt, die vierundzwanzig ganze Stunden währen.“
Jawohl – sie konnten auf etwas gefaßt sein.
Wie viele Minuten waren vergangen, fünf, zehn? Hasard wußte es nicht, und er grübelte auch nicht darüber nach. Taifun und Finsternis bildeten einen grausigen Verbund und fielen wie Monstren über das Schiff und seine Mannschaft her. Die Nacht war nicht mehr der traute Verbündete der Seewölfe, es war, als wäre man einem Verrat anheimgefallen.
Hasard hatte die Sturmsegel setzen lassen. Während das Deck unter ihm schlingerte und er Mühe hatte. sich zu halten, blickte er immer wieder zu den Masten auf. Sie knackten und knirschten bedrohlich, und wenn die schweren Brecher gegen die „Isabella“ krachten, tönte es bis in die tiefsten Verbände, als müsse die Galeone jeden Augenblick zerbersten.
„Hölle und Teufel!“ brüllte Ferris Tucker. „Gerade haben wir den Kahn so schön instand gesetzt — und jetzt das! Das nächste Mal rühren wir keinen Finger mehr für die Scheißlady, das kommt aufs selbe heraus.“
Keiner lachte darüber. Alle hatten begriffen, welchen Ernst die Lage hatte. Es fiel auch keinem der Männer ein, noch länger über Old Donegal Daniel O’Flynn und dessen Unkerei herzuziehen. Bei der Annäherung an die „Sao Fernao“ hatte der Alte recht gehabt – es war eine Falle gewesen. Diesmal hatte er wieder den Nagel auf den Kopf getroffen. Ja, hatten sie denn wirklich ernsthaft angenommen, er gehöre zum alten Eisen und leide unter Verkalkung?
„Ben!“ schrie der Seewolf. „Shane, Ferris, Ed!“
„Sir?“ meldete sich der Profos aus der Gischt über der Kuhl. Auch Brighton, Tucker und der ehemalige Schmied von Arwenack-Castle antworteten.
„Wir bringen achtern eine Trosse aus!“ brüllte Hasard gegen das Tosen des Taifuns an. „Alle verfügbaren Männer zu mir!“
Wenig später fierten sie die armdicke Trosse durchs Hennegat ab und befestigten ihre Enden in einem tiefliegenden Raum des Achterkastells. Die Trosse bildete im Kielwasser der „Isabella“ eine riesige Schleife. Diesen Trick hatte Hasard von seinem Pflegevater John Killigrew gelernt, und er wandte ihn nicht zum erstenmal an. Schon mehrfach hatte die Trosse im Sturm den gewünschten Erfolg gezeitigt und dem Schiff mehr Stabilität und eine ruhigere Lage in den aufgewühlten Fluten verliehen.
Nicht im Taifun.
Kaum hatten Hasard und seine Helfer die Trosse nach allen Regeln der Kunst um die Balken des Achterkastells belegt, da wurden sie von einer unsichtbaren Kraft gepackt und durcheinandergeschleudert. Sie stießen sich die Köpfe, Gliedmaßen und Leiber, sie fluchten, was das Zeug hielt, aber an der Situation vermochten sie auch nichts zu ändern.
Noch heftiger hatte der Taifun die große Galeone gepackt.
Hasard rappelte sich als erster wieder auf und stürmte nach oben. Er wurde nach rechts gerissen, glitt auf den Stufen eines Niederganges aus und stürzte. Hätte er sich nicht blitzschnell mit den Händen abgestützt, wären ihm mindestens ein paar Beulen und Abschürfungen sicher gewesen.
Er erhob sich wieder und taumelte nach oben. Der Weg glich dem Herumirren eines Stockbetrunkenen, eines Fallsüchtigen, der Seewolf konnte sich nicht dagegen wehren. Zu wild schlingerte die „Isabella“. Fast verzweifelt kämpfte er sich bis auf die Kuhl vor. Er hatte Glück, gleich eins der Manntaue zu fassen zu kriegen, sonst wäre er von einem eben über Deck rauschenden Brecher zweifellos erfaßt und außenbords gerissen worden.
Ein rascher Blick in die Höhe zeigte ihm, daß die Sturmsegel in Fetzen hingen. Bedrohlich bogen sich die Maststengen im Wind. Beten, dachte Hasard, hier nutzt nur noch beten … Im selben Moment erklang auf dem Quarterdeck ein Schrei. Hasard setzte sich wieder in Bewegung. Er klomm einen glitschigen, steilen Hang hoch und hatte kaum noch ein Empfinden dafür, daß dies das Kuhldeck, dies sein Schiff war. Es brüllte, dröhnte und donnerte, unter ihm schien die „Isabella“ ein diabolisches Eigenleben zu entwickeln, und der Hang verwandelte sich in eine gefährliche, abschüssige Landschaft.
Hasard klammerte sich wieder fest, rutschte am Manntau und erreichte mit den Füßen das Backbordschanzkleid. Hier und da sah er die Gestalten von Männern aus Schaum und Gischt auftauchen.
„Räumt das Deck!“ schrie er ihnen zu. „Bringt euch in Sicherheit, verdammt noch mal! Es hat alles keinen Zweck mehr!“
Mit verbissener Miene kletterte er den Niedergang zum Quarterdeck hoch. Im nachhinein war ihm später nicht mehr ganz klar, wie er das Ruderhaus erreicht hatte. Mehr kriechend als aufrecht dahinstolpernd gelangte er jedenfalls hin. Nur Pete Ballie konnte den Schrei ausgestoßen haben.
Hasard fühlte, wie eine eisige Hand nach seinem Herzen griff.
Das Ruderhaus war nur noch ein Trümmerhaufen. Ein besonders starker Brecher mußte es zermalmt haben, oder der elende, verfluchte Drehwind hatte an dieser Stelle solche Macht gehabt, daß er das Ruderhaus glatt zerfetzt hatte.
Hasard räumte die Trümmer auseinander, er war wie besessen am Werk, riskierte, von Bord gespült zu werden, und bemerkte nicht, wie jetzt auch Ben, Ferris, Carberry und Smoky eintrafen, um ihm zu helfen.
Sie legten Pete Ballie frei.
Pete war immer noch festgebunden, das war sein Dilemma. Er lag unter dem zerborstenen Ruderrad begraben und stieß die unflätigsten Verwünschungen aus. Hasard zog sein Messer, zerschnitt das Haltetau und half seinem Rudergänger, aus der lebensgefährlichen Falle zu kriechen.
„Hast du dir was gebrochen?“ schrie Ben Brighton.
„Weiß ich nicht!“ brüllte Pete keuchend zurück.
„Das mußt du doch wissen!“ schrie der Profos.
„Ich hab mich noch nicht gefragt!“ rief Pete Ballie, und es klang verzweifelt.
Dann leuchtete ihm ein, was für einen Witz er losgelassen hatte, und er lachte mit Hasard und den anderen. Ja, sie lachten, im mörderischsten Taifun wollten sie sich plötzlich ausschütten vor Lachen. Es war ein wildes, fast irrsinniges Lachen, das ihre Gefühle freilegte. Die Seewölfe heulten gegen das Orgeln der entfesselten Naturgewalten an, aber sie hatten keine Hoffnung mehr, aus dem Chaos zu entkommen.
Sie arbeiteten sich auf Hasards Wink hin zum Niedergang und krochen auf die Kuhl hinunter. Das Quarterdeck war ein gefährlicher Platz, auf dem sie sich auf die Dauer nicht halten konnten. Die Kuhl bot kaum größere Chancen, den Hieben von Sturm und See zu trotzen, aber von dort aus gelangte man durchs Schott ins Achterkastell. Unter Deck lag die letzte Hoffnung. Sie hieß, nicht allein inmitten der Fluten zu ersaufen, sondern mit der „Isabella VIII.“, ihrer guten alten, vertrauten Lady mit dem verzierten Hintern.
„Schockschwerenot!“ röhrte Carberrys Organ. „Wenn ich das hier heil überstehe, saufe ich eine Pulle Rum ohne abzusetzen aus.“
„Und im Stehen!“ schrie Ferris Tucker.
„Worauf du einen lassen kannst!“
„Wie wär’s mit zwei Flaschen?“ rief Ben Brighton mit aller Macht – nur, um die aufsteigende Panik irgendwie zu bekämpfen. „Der Vorrat ist noch groß genug, wir brauchen ihn bloß zu plündern.“
„Mister Brighton!“ brüllte der Profos. „Das ist undiszipliniertes Verhalten, verstanden? Das ist ja schon fast ein Aufruf zur …“
Das Wort Meuterei blieb ihm in der Kehle stecken, denn er hatte einen Schwall Wasser in den Mund gekriegt. Prustend stieß er ihn wieder aus. Sie lagen auf Deck und Niedergang, klammerten sich an den Manntauen fest und warteten, bis der Brecher über sie hinweggerast war. Fluchend schoben sie sich weiter, rappelten sich auf und trachteten, das Achterdecksschott zu erreichen.
Die „Isabella“ krängte wieder nach Backbord. Ein Ächzen lief durch den Schiffskörper. Hasard registrierte als erster, was sich plötzlich auf der Kuhl abspielte, und er hatte das Gefühl, ein Hagel von Eispickeln ginge auf seinem Rücken nieder.
Eine der Culverinen auf der Backbordseite der Kuhl hatte sich halb gelöst. Sie wurde nur noch von der einen Brook gehalten, die ein Zurückrollen über Deck verhindern sollte. Im Vorwärtspoltern wurde sie nicht mehr gebremst. Sie donnerte voran und rammte sich mit ihrem vollen Gewicht in die Stückpforte des Oberdecks, daß der Lukensüll fast herausbrach.
Die ganze Zeit über hatte der Seewolf mit . etwas Derartigem bereits gerechnet. Er hielt sich mit aller Macht an den Manntauen fest und hangelte auf dem stark abschüssigen Deck auf den 17-Pfünder zu. Er konnte den Dingen nicht einfach ihren Lauf lassen. Wenn die „Isabella“ zur anderen Seite krängte, konnte auch das zweite Brooktau reißen. Dann raste die Culverine wie ein Riesengeschoß quer über die Kuhl und zerschmetterte an Steuerbord das Schanzkleid, und falls in diesem Augenblick ein Mann im Wege stand, mußte es ihn zermalmen.
Hasard hatte den schweren 17-Pfünder erreicht. Immer noch lag die „Isabella“ auf ihrer Backbordseite, als müsse sie jeden Moment kentern.
Hasard arbeitete mit fliegenden Fingern und versuchte, das lose Brooktau wieder zu belegen. Aber das stieß auf unverhoffte Schwierigkeiten. Das Tauwerk war an zwei Stellen gebrochen. Es war unmöglich, es durch Knoten wiederherzustellen und sich gleichzeitig am Manntau festzuhalten. Hasard fluchte.
Eine Gestalt sauste plötzlich an ihm vorbei – die von Ben Brighton. Es sah so aus, als würde der eigene Schwung den Bootsmann und ersten Offizier über die Oberkante des Schanzkleides befördern. Hasard stieß einen Ruf aus und streckte die Hand aus.
Ben stand ohne Halt für zwei, drei Sekunden auf dem überfluteten Schanzkleid. Er ruderte mit den Armen. Ein Tau hatte er sich um die Hüften geschlungen. Zweifellos wollte er dem Seewolf helfen.
„Ben!“ brüllte der Seewolf.
Ben brachte seinen Oberkörper in Richtung Deck, packte Hasards Hand, zerrte daran – und konnte sich neben ihn befördern. Er atmete auf. Sie hingen in den Manntauen, rollten in aller Eile das von Ben mitgebrachte Tau auseinander und schlangen es um die Hinterpartie der Kanone zwischen Bodenstück und Lafette. Noch steckte der 17-Pfünder in der Stückpforte festgeklemmt. Noch!
Aber dann krängte die „Isabella“ nach Steuerbord. Als sich das Deck in der Waagerechten befand, begann das Geschütz sich aus dem Süll zu lösen. Hasard sprang auf das Schanzkleid zu, warf sich herum, stemmte sich mit den Füßen fest und packte das Brooktau, das die Rückwärtsbewegung der Culverine aufhalten sollte.
Er zerrte daran und verhinderte auf diese Weise, daß die Culverine in Schwung geriet. Sie rollte nur noch ein Stück auf den Hartholzrädern ihrer Lafette in Richtung Kuhlgräting. Dann stand sie.
Ben hatte den Augenblick ebenfalls genutzt und das neue Tau an der Deckshalterung belegt. Man hätte das Tauende in den soliden Augbolzen verspleißen sollen, um ganze Arbeit zu leisten, aber dazu war keine Zeit. Ben zurrte das Tau fest, so gut es ging, Hasard unterstützte ihn. Dann mußten sie von der Culverine ablassen und auf das Achterdecksschott zustürzen, um sich in Sicherheit zu bringen.
Ein Brecher, der alle bisherigen übertraf, wuchs so gigantisch wie eine Kathedrale neben der „Isabella“ hoch und fuhr auf sie zu. Querzuschlagen drohte das Schiff unter dem niederschmetternden Wasserberg, und doch geschah es nicht. Irgend etwas hielt die „Isabella“ immer noch, vielleicht die achtern ausgebrachte Trosse, vielleicht das, was man eine glückliche Fügung nennt. Stöhnend richtete sie sich wieder auf. Sie glitt auf einen schäumenden Wogenkamm hinauf und raste dann wieder in eine Schlucht hinunter, dem schwarzgähnenden Abgrund der Hölle entgegen.
Wie lange stand sie das noch durch?
Hasard stellte sich diese Frage nicht. Er wußte, daß es der Beginn der Kapitulation sein würde. Durchhalten, dachte er deshalb, nicht grübeln, durchhalten!
Er lag im finsteren Achterdecksgang und hatte das Gefühl, seine Knochen einzeln zusammensuchen zu müssen. Den Niedergang war er hinuntergestürzt, danach hatte ihn die Schiffsbewegung ein beträchtliches Stück schliddern lassen.
Ben Brighton – wo steckte er?
„Ben?“ schrie der Seewolf.
Keine Antwort gellte zurück. Hasard schaute zum Schott auf und sah, daß es offenstand. Ein Wasserschwall gischtete herein. Er zischte auf ihn nieder, konnte ihn aber nicht noch mehr durchweichen. Naß bis auf die Haut war der Seewolf, die Kleider klebten ihm am Leib.
Er kroch auf dem Gang entlang. Hin und her warf ihn die Sturmgewalt, aber er hielt nicht an, sondern kletterte die Stufen des Niederganges wieder hoch. Eine furchtbare Ahnung trieb ihn voran. Zweimal rief er Ben Brightons Namen noch. Eine Erwiderung hörte er nicht.
Dann kauerte er oben, in dem offenen Schott, und starrte erschüttert in das Inferno auf Deck. Schwarze Fluten, grau durchsetzt, brodelten auf ihn zu und hüllten ihn ein. Er stemmte sich in dem Viereck fest, brüllte noch einmal Bens Namen – und plötzlich, wie aus weiter Ferne, aus einer unbekannten Region, die weit hinter dem Wüten des Taifuns lag, schien die Stimme des Bootsmanns zu ertönen.
Hasard wußte, daß er sich nicht getäuscht hatte. Er wartete das Abrauschen des Brechers ab, beugte sich dann so weit wie irgend möglich vor – und gewahrte Ben, der sich draußen am offenen Schott festgeklammert hatte. Das Schott schwang hin und her. Ben krachte immer wieder mit der Schulter gegen die Querwand der Hütte, konnte aber nichts weiter tun, als sich an seinem Halt festzukrallen.
„Ben, hierher!“ Hasard hielt ihm die ausgestreckte Hand hin.
Dankbar packte der durchnäßte Mann zu. Seine Augen waren geweitet, in seinen Zügen stand deutlich zu lesen, daß er mit dem Schlimmsten gerechnet hatte.
Hasard riß ihn vom Schott weg, zerrte ihn zu sich in den Gang, kriegte dann das Schott zu fassen und rammte und riegelte es zu. Im Stockdunkeln polterten sie die Stufen hinunter, taumelten durch den Gang und stießen fast mit den Köpfen zusammen.
„Hölle, Mister Brighton!“ rief der Seewolf. „Du scheinst es ja darauf angelegt zu haben, heute nacht auf irgendeine Weise zu krepieren. Was dir lieber, außenbords zu gehen oder dir sämtliche Knochen zu brechen?“
„Die Wahl fällt mir schwer!“ schrie Ben zurück.
7.
Alles konnte man den Seewölfen nehmen, nur ihren Galgenhumor nicht. Auf der Suche nach den Kameraden hörten Hasard und Ben nicht auf, sich anzustänkern. Gab es denn eine andere Möglichkeit, die immer wieder aufsteigende Verzweiflung zu bezwingen?
Im Achterdeck waren die Kameraden nicht zu entdecken, weder in der Kapitänskammer noch in den anderen Kammern. Hasard und Ben mußten in die Frachträume hinunterklettern und unter Lebensgefahr zwischen den unsagbar wertvollen Ladegütern hindurchturnen, die im Begriff zu sein schienen, sich zu verselbständigen.
Es hatte wenig Sinn, die Schatztruhen, die Barren und kostbaren Einzelstücke zusätzlich festzurren zu wollen. In dieser Situation wäre es eine reine Idiotenarbeit gewesen.
Bis ins Vorschiff mußten Hasard und Ben vordringen. Hier, im Mannschaftslogis, stießen sie endlich auf die Männer. Carberry versuchte immer wieder, eine Öllampe in Betrieb zu setzen, aber länger als ein paar Sekunden hielt sich die Flamme nicht.
Die Männer waren dicht zusammengerückt. Ein bißchen Wasser war eingedrungen, es plätscherte hin und her, und draußen war das Brüllen der entfesselten See.
„Wir befinden uns im Zentrum des Taifuns!“ rief Shane.
„Die Spanier nennen es das Zyklonenauge“, erwiderte der Seewolf, während er nach Halt suchte. „Bildet euch bloß nicht ein, daß wir da ungeschoren wieder ’rauskommen.“
„Und das zu Weihnachten!“ brüllte der Profos. „Kutscher, zum Teufel mit deinem Kuchen!“
Der Kutscher war bemüht, nicht von der Koje losgerissen zu werden, an der er sich festhielt, er wäre sonst unweigerlich quer durchs Logis gerollt.
„Was kann denn mein Kuchen dafür?“ begehrte er auf.
„Er hat den Scheiß-Taifun ausgelöst …“
„Du hast ja nicht alle!“
„Wer war das?“ brüllte der Profos in die Tintenschwärze des Raumes.
„Ich!“ rief der Kutscher.
„Nein, das war O’Flynn!“ brüllte Carberry. „Ich hab die Stimme genau erkannt.“
„Laß mich bloß in Ruhe!“ fuhr ihn der alte O’Flynn an. „Ich bin auch so schon sauer genug.“
Carberry wollte entgegnen, daß er nicht den Alten, sondern dessen Sproß gemeint hatte, aber er ließ es bleiben, weil auch er genug damit zu tun hatte, sich Halt zu verschaffen.
„Donegal!“ schrie Matt Davies. „Spuck bloß nicht so große Töne. Du hast es gerade nötig!“
Ein Grollen sprang gegen die „Isabella“ an, ein Beben schüttelte das Schiff von oben bis unten durch, und Matt schwieg entsetzt.
Dann aber, als das scheußliche Zittern wieder aufgehört hatte, fuhr er fort: „Eigentlich habe ich es ja immer gesagt, daß du ein Jonas bist. Einer, der hinter den Horizont schauen kann. Einer, der uns Unglück bringt, nichts als Unglück.“
„Matt Davies, wenn das dein Ernst ist …“
„Mein voller Ernst, was denn sonst?“
„Warte, ich kriege dich zu fassen und schlag dir mit dem Holzbein den verdammten Schädel ein, daß das ganze Stroh ’rauskommt!“ brüllte Old Donegal.
„Dazu mußt du mich erst mal gefunden haben!“ rief Matt im Orgeln des Sturmes.
Hasard zwang seine Männer nicht zum Schweigen, damit hätte er alles nur noch verschlimmert. Die „Isabella“ trieb ruder- und führungslos, mit zerfetzten Segeln und berstenden Masten in der wirbelnden See, und da konnte man nur noch beten, fluchen oder reden, reden, reden, um den Ernst der Stunde zu überspielen.
Eine Rauferei, dachte Matt Davies, eine richtig schöne Keilerei, das wäre genau das richtige, bevor wir pünktlich zu Weihnachten mit unsrer liederlichen Lady absaufen …
Das Wetter tobte nicht vierundzwanzig Stunden, wie es der Chronist Coelius über einen anderen Taifun zu berichten gewußt hatte – nein, fast vierzig Stunden dauerte er an, bis zum zweiten Weihnachtstag 1584.
Hasards Männer glaubten ernsthaft daran, den langen Sprung über die dunkle Schwelle bereits vollführt zu haben. Sie waren ein ramponierter, zerschundener Haufen geworden, der sogar den Geschmack am Meckern und Höhnen verloren hatte. Nein, diesmal war es ganz und gar ausgeschlossen, dem Leibhaftigen ein Schnippchen zu schlagen. Sie befanden sich in seiner Gewalt.
Der Seewolf war es dann, der als erster eine gewisse Veränderung feststellte. Immer noch schienen Giganten an dem Schiff zu rütteln, aber das Abschwächen des Heulens und Tosens schien nicht nur in Hasards Einbildung, zu existieren.
Er wägte es, sich an Oberdeck zu begeben. Nach ungezählten Stunden des Dahindämmerns unter Deck drückte er das Querschott des Vordecks auf und schob sich ins Freie. Sofort peitschte ihm Wasser entgegen, sofort mußte er sich wieder festklammern.
Aber er brachte es doch fertig, bis auf die Back zu klettern. Unter den schwersten Bedingungen im Zentrum des Taifuns war dies schier unmöglich gewesen. Jetzt aber konnte er sich halten und nach allen Seiten Ausschau halten.
Rundum kochte und brodelte es, als wolle es nie wieder aufhören. Hasard wollte entmutigt wieder zu den Kameraden zurückkehren, da sah er noch einmal voraus – und stieß einen Schrei aus.
Blasse Formationen wuchsen aus dem Sturm hervor. Überkommende Seen raubten dem Seewolf die Sicht, aber er harrte aus und stellte schließlich fest, daß er keiner Halluzination erlegen war. Das da – das war wirklich Land!
Festland? Wer konnte darauf schon antworten? Jedenfalls drückte der Wind die „Isabella“ genau auf das flache Ufer zu. Noch nie war der Seewolf froh darüber gewesen, in Richtung Legerwall befördert zu werden – jetzt lachte er vor Begeisterung. Wahrscheinlich würde sein Schiff stranden, vielleicht auf ein Riff laufen und sich den Rumpf aufschlitzen, aber was bedeutete das schon? Land, eine Insel vielleicht, das hieß Rettung vor der endgültigen Vernichtung, das war fast zu unglaublich, um wahr zu sein!
Tatsächlich lief die „Isabella“ eine Viertelstunde später auf Grund.
Aber sie holte sich kein Leck weg, ihr Vorsteven und Kiel hatten sich in sandigen Meeresboden gebohrt.
Später, sehr viel später stellte der Seewolf anhand einiger Berechnungen fest, daß sie die Insel Babuyan nördlich von Luzon erreicht hatten.
Ein Wunder schien geschehen zu sein. Die Männer der „Isabella“ bekreuzigten sich immer wieder und dankten dem Himmel für diese Fügung. Sie schämten sich nicht einzugestehen, daß der Taifun eine Nummer zu groß für sie gewesen war – beziehungsweise eine halbe Nummer, wie Carberry ziemlich großspurig verkündete.
Babuyan – hier leckten die Seewölfe im Abklingen des Taifuns ihre Wunden. Hier begannen sie vor Jahreswende, ihr Schiff wieder flottzumachen und in eine geschützte Bucht zwischen seichten, sandigen Ufern zu verholen.
Sie konnten wieder einmal mit dem Instandsetzen der „Isabella“ beginnen.
Die „Bahia Blanca“ hatte den Taifun nicht überstanden. Lucio do Velho hatte von Bord der „Santa Luzia“ aus noch gesehen, wie die Galeone in Seenot geraten war, doch Braga de Sor und er sowie die Mannschaft der „Santa Luzia“ hatten nichts mehr für die andere Besatzung unternehmen können.
Sie hatten selbst alle Hände voll zu tun gehabt, um die „Santa Luzia“ im Wetter zu halten.
Die „Bahia Blanca“ war verschwunden – von der wahnwitzigen, gefräßigen See vertilgt worden. Mit ihr hatte es den Kommandanten Silvan da Odemira, den Kapitän Vincenzo Cunhal, den Kapitän Nuno Goncalves sowie gut vierzig Mann getroffen.
Auf der „Santa Luzia“ befanden sich außer Lucio do Velho und Braga de Sor die Stamm-Mannschaft des Schiffes und einige Seeleute und Soldaten, die zu den Überlebenden der „Bartolomeu Diaz“, der „Vasco da Gama“ und der „Sao Paolo“ zählten. Ignazio, der Mann aus Porto, stand treu do Velho zur Seite.
Im wildesten Taifun hatte dann ein Brecher den Kapitän Braga de Sor von Bord gespült – und mit ihm ein paar Decksleute. Lucio do Velho hatte das Kommando übernommen. Viel Chancen hatte er sich auch nicht mehr ausgerechnet. Doch dann hatte er geradezu sagenhaftes Glück gehabt.
Er hatte den Dreimaster „Santa Luzia“ nach Y’ami steuern können, zu einer Insel der Batan-Gruppe. Mit einigen Schäden am Schiff und erschöpften, teils verletzten Männern an Bord war er in eine kleine, geschützt liegende Bucht eingelaufen.
So war er glimpflich davongekommen.
Als der Taifun in seinen letzten Zügen lag, trat Ignazio ergriffen zu seinem Kapitän aufs Achterdeck und sagte: „Das hätte ich nie gedacht. Wir haben dem Tod ins Antlitz gesehen, aber dank Euch hat er uns nicht gepackt. Mi capitán, das wird man Euch in Manila hoch anrechnen.“
Do Velho nickte gnädig. „Ja, ich schätze auch, daß man mich zumindest belobigen wird. Ignazio, wir haben wieder ein Schiff. Wir reparieren es und laufen aus, sobald die See es zuläßt.“
„Was mag aus den anderen geworden sein?“
„Von wem sprichst du? Von de Sor und den armen Teufeln, die mit ihm in die Fluten gerissen worden sind?“
„Auch. Und von dem Comandante, der ‚Bahia Blanca‘ …“
Do Velho räusperte sich. Er holte zu einer theaterreifen Geste aus, seinem Auftreten mangelte es nicht an der notwendigen Grandezza. „Mein lieber Ignazio, man muß im Leben beweglich sein, sich auf neue Situationen rasch einzustellen wissen. Kannst du mir folgen?“
„Ich glaube, Capitán.“
„Welchen Sinn hat es, wenn wir uns unnötigen Gedanken um die bedauernswerten Verblichenen hingeben? Dadurch retten wir sie nicht mehr.“
„Ihr meint …“
„Natürlich sind sie alle ertrunken.“
„Seid Ihr da ganz sicher?“
Do Velho hob den Kopf etwas an, sein tadelnder Blick bohrte sich in Ignazios Augen. „Zweifelst du etwa an mir? Dios, das hätte ich nach allen Beteuerungen nicht von dir erwartet.“
„Verzeiht“, beeilte sich der Mann aus Porto zu sagen. „Selbstverständlich kann keiner von ihnen dem Taifun entgangen sein. Es “gibt kein Boot, kein Stück Treibholz, das einem Schiffbrüchigen in so einem Höllensturm hilft.“
„Jetzt denkst du endlich in den richtigen Bahnen“, erwiderte der Kapitän milde. „Vielleicht ernenne ich dich zu meinem ersten Offizier und persönlichen Berater, obwohl dir die nötige Bildung fehlt. Aber ich muß mir das noch genau überlegen.“
Ignazio holte ein paarmal kräftig Luft. Das alles war für ihn zuviel auf einmal.
„Mich interessiert jetzt nur noch eins“, fuhr Lucio do Velho fort. „Wie ist es der verfluchten ‚Isabella‘ ergangen? Hat der Taifun ihr und ihrer Besatzung zugesetzt wie der ‚Bahia Blanca‘ – oder hat sie sich verholen können wie wir?“
„Ich wünsche mir, daß diese Bastarde allesamt kläglich ersoffen sind“, sagte Ignazio pflichtschuldigst. Sein Blick huschte zu do Velho, seine Miene verlangte förmlich nach Beifall.
„Das hoffe ich auch. Von ganzem Herzen“, versetzte der Kapitän. „Aber auf Hoffnungen, auf bloße Theorien über das Schicksal der Korsaren dürfen wir uns nicht verlassen.“
„Das heißt – Ihr glaubt, die Hunde sind noch am Leben?“
„Das müssen wir herausfinden.“
„Wie?“
„Wir warten ab, bis es ruhiger wird. Solange bleiben wir hier in der Bucht und bessern unsere Galeone aus. Ich will ein tadellos wiederhergestelltes, seetüchtiges Kriegsschiff unter den Füßen haben, wenn wir die Insel verlassen.“
„Und dann?“ erkundigte sich der Mann aus Porto begriffsstutzig.
„Dann suchen wir wieder nach dem Seewolf, du Narr. Nichts kann mich davon abbringen.“ Do Velho ließ seinen Blick über die Kuhl und die Back der „Santa Luzia“ schweifen. Genug Männer hatte er noch, er konnte sich, falls er den Seewolf tatsächlich stellte, auf offener See in ein Gefecht begeben, ohne sich von vornherein unterlegen fühlen zu müssen.
„Ich stelle den Hund, ich schwöre es dir, Ignazio“, murmelte er. „Am vorteilhaftesten wäre es, ihn in Manila zu erwischen. Dort könnte ich unseren Landsleuten und den Spaniern, die sich soviel auf ihr Können einbilden, eine Demonstration dessen liefern, was ich unter der totalen Vernichtung eines Staatsfeindes verstehe.“
Er wünschte sich ein Publikum herbei, das seinen Worten die richtige Bedeutung beimaß und ihm entsprechend Applaus zollte. Statt dessen war da nur das törichte Schiffsvolk, ein Haufen wilder, zerzauster, völlig heruntergekommener Kerle. Lucio do Velho beschloß, diesen Burschen innerhalb der nächsten Tage den nötigen Respekt und Schliff beizubringen.
Er hieß nicht Braga de Sor. De Sor, dieser Versager, lag auf dem Grund des Chinesischen Meeres und war nur noch einem Zweck dienlich. Wahrscheinlich würden sich die
Haie an ihm gütlich tun.
Noch vor Jahresbeginn 1585 war die „Isabella VIII.“ soweit ausgebessert und hatte die Crew sich so gut erholt, daß die große Galeone die Bucht von Babuyan verlassen konnte.
Bei fast ruhiger See, die nur durch eine leichte Dünung gekräuselt wurde, und mit raumem Wind segelte sie nach Süden.
Ein neues Ruderhaus war von Ferris Tucker auf dem Quarterdeck errichtet worden. An der Ruderanlage selbst hatte der findige Schiffszimmermann einige Veränderungen vorgenommen – Verbesserungen, die von Hasard begutachtet und als hervorragend befunden worden waren. So etwas erfüllte den Rothaarigen mit Stolz, er hatte daraufhin ein Ruderrad gebastelt, das größer und schöner als das vorherige war. Obwohl Ferris sonst nicht viel für Schnörkelkram übrig hatte, hatte er das Rad mit einigen kunstvollen Intarsien versehen.
Einige der Seekarten waren im Taifun verlorengegangen. Hasard war aber froh, die hundert Jahre alte Karte des Sun Lo gerettet zu haben. Ein bißchen mitgenommen sah sie zwar aus, aber er hatte sie sorgsam getrocknet und geglättet und heftete sie nun wieder an der Innenwand des Ruderhauses fest.