Die eiserne Ferse

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»Ihre Worte sind recht unklar«, brach Dr. Hammerfield das Schweigen. »Präzisieren Sie bitte, was Sie damit meinen, wenn Sie uns Metaphysiker nennen.«

»Ich nenne Sie Metaphysiker, weil Sie metaphysisch denken, fuhr Ernst fort. »Sie denken alles andere eher als wissenschaftlich. Ihre Folgerungen haben keine Gültigkeit. Sie können alles und nichts beweisen, ohne daß auch nur zwei von Ihnen einig wären. Jeder von Ihnen sucht sich und das All nach seiner eigenen Überzeugung zu erklären. Ebensogut können Sie sich an Ihren eigenen Stiefelstrippen hochheben, wie eine Überzeugung durch die andere erklären.«

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte Bischof Morehouse. »Mir scheint doch, daß alles Geistige metaphysisch ist. Die exakteste und überzeugendste aller Wissenschaften, die Mathematik, ist durch und durch metaphysisch. Jeder Denkprozeß eines Wissenschaftlers ist es. Geben Sie mir da nicht recht?«

»Ja, insofern Sie sagen, daß Sie mich nicht verstanden haben«, erwiderte Ernst. »Der Metaphysiker urteilt deduktiv aus seiner eigenen Subjektivität heraus. Der Wissenschaftler urteilt induktiv aus der Erfahrung heraus. Der Metaphysiker schließt von der Theorie auf die Tatsachen, der Wissenschaftler von den Tatsachen auf die Theorie. Der Metaphysiker erklärt das Universum aus sich, der Wissenschaftler sich aus dem Universum.«

»Gott sei Dank, daß wir keine Wissenschaftler sind«, murmelte Dr. Hammerfield selbstgefällig.

»Was sind Sie denn?« fragte Ernst.

»Philosophen.«

»Ach so!« lachte Ernst. »Sie haben den festen Boden verlassen und sich mit einer Nachricht für ein Flugzeug in die Luft begeben. Bitte, kommen Sie wieder zur Erde herab und sagen Sie mir kurz und bündig, was Sie unter Philosophie verstehen.«

»Philosophie ist –«, Dr. Hammerfield machte eine Pause und räusperte sich, »etwas, das nur denen verständlich gemacht werden kann, die selbst nach Geist und Temperament Philosophen sind. Der begrenzte Wissenschaftler, der seine Nase in ein Reagenzglas steckt, versteht von Philosophie nichts.«

Ernst überging den Stich. Es war stets seine Art, die Spitze gegen den Gegner zu kehren, und er tat es auch jetzt, wobei seine Miene seine Worte ausdrucksvoll unterstrich.

»Dann werden Sie aber zweifellos die Erklärung verstehen, die ich Ihnen jetzt von der Philosophie geben werde. Zuvor aber ersuche ich Sie, etwaige Irrtümer darin festzustellen oder schweigender Metaphysiker zu bleiben. Die Philosophie ist unbedingt die umfassendste aller Wissenschaften. Ihre Denkmethode ist dieselbe wie die irgendeiner Sonderwissenschaft, und wie die aller Sonderwissenschaften. Und durch eben diese Methode, die induktive, sammelt die Philosophie alle Sonderwissenschaften zu einer einzigen großen Wissenschaft. Wie Spencer sagt, sind die Grundzüge jeder Sonderwissenschaft teilweise gleichartige Erkenntnisse. Die Philosophie vereinigt das Wissen, das von allen andern Wissenschaften zusammengetragen ist. Die Philosophie ist die Wissenschaft der Wissenschaften, die Meisterwissenschaft, wenn Sie wollen. Wie gefällt Ihnen meine Erklärung?«

»Nicht schlecht, nicht schlecht«, murmelte Dr. Hammerfield zögernd.

Aber Ernst war unerbittlich.

»Vergessen Sie nicht,« warnte er ihn, »daß meine Erklärung für die Metaphysik verhängnisvoll ist. Wenn Sie jetzt keine Lücke in meiner Erklärung finden, sind Sie später nicht berechtigt, metaphysische Argumente vorzubringen. Sie müssen Ihr ganzes Leben nach dieser Lücke suchen und metaphysisch schweigen, bis Sie sie gefunden haben.«

Ernst hielt inne. Das Schweigen war peinlich. Dr. Hammerfield war verlegen und zugleich verblüfft. Der scharfe Angriff hatte ihn aus der Fassung gebracht. Diese einfache und direkte Kampfmethode war er nicht gewöhnt. Er sah sich flehend am Tische um, aber niemand sprang für ihn in die Bresche. Ich ertappte meinen Vater, wie er lachend in seine Serviette biß.

»Es gibt noch eine Art, die Metaphysiker zu widerlegen«, sagte Ernst, als die Niederlage Dr. Hammerfields besiegelt war. »Beurteilen Sie sie nach ihren Werken. Was haben sie für die Menschheit getan, außer daß sie lästige Phantasiegebilde ersannen und ihre eigenen Schatten für Götter hielten. Sie haben zur Erheiterung der Menschheit beigetragen, das gebe ich zu; aber was haben Sie Greifbares für die Menschheit getan? Sie philosophierten, wenn Sie mir den Mißbrauch des Wortes verzeihen wollen, über das Herz als den Sitz der Regungen, während die Wissenschaftler den Kreislauf des Blutes feststellten. Sie redeten von Pest und Hungersnot als Geißeln Gottes, während die Wissenschaftler Kornspeicher bauten und Städte kanalisierten. Sie schufen Götter nach ihrem eigenen Bilde und ihren eigenen Wünschen, während die Wissenschaftler Straßen und Brücken bauten. Sie erklärten unsre Erde für den Mittelpunkt des Alls, während die Wissenschaftler Amerika entdeckten und den Himmelsraum nach den Sternen und ihren Gesetzen durchforschten. Kurz, die Metaphysiker haben nichts, absolut nichts für die Menschheit getan. Fuß um Fuß sind sie vor dem Fortschritt der Wissenschaft zurückgewichen. Ebenso schnell, wie die festgestellten wissenschaftlichen Tatsachen ihre subjektiven Erklärungen über den Haufen warfen, ebenso schnell stellten sie wieder neue subjektive Erklärungen auf, die die letzten wissenschaftlichen Tatsachen einbezogen. Und das werden sie zweifellos bis ans Ende der Dinge tun. Meine Herren, ein Metaphysiker ist ein Medizinmann. Der Unterschied zwischen ihm und dem Eskimo, der sich einen pelzbekleideten, walspeckfressenden Gott macht, besteht nur in einigen tausend Jahren festgestellter Tatsachen. Das ist alles.«

»Und doch haben die Gedanken des Aristoteles Europa zwölfhundert Jahre lang beherrscht«, verkündete Dr. Ballingford feierlich. »Und Aristoteles war Metaphysiker.«

Dr. Ballingford blickte sich um und erntete beifälliges Nicken und Lächeln.

»Ihr Beispiel ist sehr unglücklich gewählt«, erwiderte Ernst. »Sie beziehen sich auf eine sehr dunkle Periode der menschlichen Geschichte. Diese Periode nennen wir in der Tat das dunkle Mittelalter. Es war eine Periode, in der die Wissenschaft von den Metaphysikern vergewaltigt wurde, in der die Physik den Stein der Weisen suchte, die Chemie zur Alchemie und die Astronomie zur Astrologie wurde. Die Herrschaft der Gedanken des Aristoteles ist ein trauriges Kapitel.«

Doktor Ballingford sah verstimmt aus, dann aber erheiterte sich seine Miene, und er sagte:

»Wenn ich auch zugebe, daß das schreckliche Bild, das Sie gezeichnet haben, der Wirklichkeit entspricht, so müssen Sie doch gestehen, daß die Metaphysik insofern Gutes bewirkt hat, als sie die Menschen aus diesem dunklen Zeitalter heraus und in die Erleuchtung der glücklichen Jahrhunderte getrieben hatte.«

»Damit hatte die Metaphysik nichts zu tun«, entgegnete Ernst.

»Wie?« rief Dr. Hammerfield. »War es nicht ihr Denken und Grübeln, das zu den Entdeckungsreisen führte?«

»Ach, mein Lieber«, lächelte Ernst. »Ich dachte, Sie wären erledigt, denn bis jetzt haben Sie die Lücke in meiner Erklärung der Philosophie nicht gefunden. Sie stehen nicht auf dem Boden der Wirklichkeit. Aber das ist die Art der Metaphysiker, und ich verzeihe Ihnen. Nein, ich wiederhole: Die Metaphysik hat nichts damit zu tun. Brot und Butter, Seide und Juwelen, Dollars und Cents und, nebenbei, die Unterbindung des Verkehrs auf dem Landwege nach Indien, das waren die Ursachen der Entdeckungsreisen. Mit dem Fall Konstantinopels im Jahre 1453 blockierten die Türken den Karawanenweg nach Indien. Die Kaufleute Europas mußten einen andern Weg finden. Das war der eigentliche Anlaß zu den Entdeckungsreisen. Kolumbus schiffte sich ein, um einen neuen Weg nach Indien zu suchen. Das steht in jedem Geschichtsbuch. Zufällig erfuhr man dabei manches Neue über die Natur, die Form und Größe der Erde, und das ptomeläische System begann seinen Glanz zu verlieren.«

Doktor Hammerfield schnaufte.

»Sie pflichten mir nicht bei?« fragte Ernst. »Worin habe ich denn unrecht?«

»Ich kann meine Behauptung nur aufrechterhalten«, erwiderte Doktor Hammerfield mürrisch. »Es würde jetzt zu viel Zeit in Anspruch nehmen, wollte man sich in die Sache vertiefen.«

»Für den Wissenschaftler dauert nichts zu lange«, sagte Ernst liebenswürdig. »Daher erreicht der Wissenschaftler eben sein Ziel. Daher kam er nach Amerika.«

Ich will nicht den ganzen Abend schildern, obgleich es mir eine Freude ist, mir jeden Augenblick, jede Einzelheit dieser ersten Stunde meiner Bekanntschaft mit Ernst Everhard ins Gedächtnis zurückzurufen.

Ein prachtvoller Kampf entspann sich, die Geistlichen bekamen rote Köpfe und regten sich auf, namentlich, als Ernst sie romantische Philosophen, Schattenspieler und dergleichen mehr nannte. Und immer wieder wartete er ihnen mit Tatsachen auf.

»Tatsachen, Verehrtester, unwiderlegbare Tatsachen!« rief er triumphierend, sobald er einen von ihnen zu Fall gebracht hatte. Er strotzte von Tatsachen. Mit Tatsachen stellte er ihnen eine Falle, mit Tatsachen überfiel er sie, mit den Breitseiten von Tatsachen bombardierte er sie.

»Sie scheinen den Altar der Tatsachen anzubeten«, spöttelte Doktor Hammerfield.

»Es gibt keinen Gott außer der Tatsache, und Herr Everhard ist ihr Prophet«, zitierte Doktor Ballingford. Ernst lächelte zustimmend.

»Ich bin wie der Mann aus Texas«, sagte er, und um eine Erklärung gebeten, fuhr er fort: »Ja, der Mann aus Missouri sagt immer: ›Sie müssen es mir zeigen.‹ Der Mann aus Texas aber sagt: ›Sie müssen es mir in die Hand legen.‹ Was beweist, daß er kein Metaphysiker ist.«

Als Ernst einmal geradezu sagte, daß die metaphysischen Philosophen nie den Wahrheitsbeweis erbringen könnten, fragte Dr. Hammerfield hastig: »Was ist der Wahrheitsbeweis, junger Mann? Wollen Sie uns freundlichst erklären, worüber klügere Leute als Sie sich solange den Kopf zerbrochen haben?«

 

»Gern«, antwortete Ernst. Seine absolute Sicherheit irritierte die andern. »Die klugen Leute haben sich den Kopf so über der Wahrheit zerbrochen, weil sie auf der Suche nach ihr ins Blaue gerieten. Wären sie auf dem festen Boden geblieben, so würden sie sie leicht gefunden haben – ja, sie hätten entdeckt, daß sie selbst mit allem praktischen Tun und Denken ihres Lebens eben den Wahrheitsbeweis erbrachten.

»Den Beweis, den Beweis«, wiederholte Dr. Hammerfield ungeduldig, »ohne Umschweife. Geben Sie uns, was wir solange gesucht haben: den Wahrheitsbeweis. Geben Sie ihn uns, und wir werden Götter sein.«

Seine Worte und sein ganzes Benehmen zeigten einen unhöflichen, höhnischen Skeptizismus, an dem jedoch die meisten bei Tische heimliches Gefallen fanden. Nur Bischof Morehouse schien aufgebracht.

»Dr. Jordan Ein bekannter Pädagoge vom Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts der christlichen Zeitrechnung. Er war Recktor der Stanforder Universität, ein Wohltäter der Menschheit seiner Zeit. hat es ganz klar ausgesprochen«, sagte Ernst. »Sein Wahrheitsbeweis ist: ›Wird es wirken? Willst du dein Leben daran wagen?‹«

»Pah!« höhnte Dr. Hammerfield. »Sie haben nicht mit Bischof Berkeley Idealistischer Monist, der lange die Philosophen seiner Zeit dadurch in Aufregung versetzte, daß er die Existenz der Materie leugnete, dessen einfache Argumente aber schließlich widerlegt wurden, als die neuen empirischen Tatsachen der Wissenschaft philosophisch verallgemeinert wurden. gerechnet. Er wurde nie widerlegt.«

»Der prächtigste Metaphysiker von allen«, lachte Ernst. »Aber Ihr Beispiel ist unglücklich gewählt. Berkeley bezeugt selbst, daß seine Metaphysik wirkungslos sei.«

Jetzt war Dr. Hammerfield zornig, rechtschaffen zornig. Es war, als hätte er Ernst bei einem Diebstahl oder einer Lüge ertappt.

»Junger Mann,« stieß er hervor, »diese Behauptung ist allen andern Äußerungen, die sie heute Abend getan haben, ebenbürtig. Sie ist eine niedrige, unverantwortliche Anmaßung.«

»Ich bin ganz zerschmettert«, murmelte Ernst demütig. »Nur weiß ich noch nicht, wodurch. Sie müssen es mir in die Hand legen, Herr Doktor.«

»Das will ich, das will ich«, sprudelte Doktor Hammerfield heraus. »Woher wissen Sie das? Woher wissen Sie, daß Bischof Berkeley bezeugte, seine Metaphysik sei wirkungslos. Sie haben keinen Beweis dafür, junger Mann, sie war immer wirksam.«

»Ich halte es für einen Beweis für die Unwirksamkeit von Berkeleys Metaphysik, daß« – Ernst hielt einen Augenblick inne – »daß Berkeley die unabänderliche Gewohnheit hatte, durch Türen statt durch Mauern zu gehen. Daß er sein Wohl Brot und Butter und gebratenem Fleisch anvertraute. Daß er sich mit einem Messer rasierte, welches wirkte, indem es die Haare aus seinem Gesicht entfernte.«

»Aber das sind wirkliche Dinge«, rief Doktor Hammerfield. »Metaphysik ist etwas Geistiges.«

»Und sie wirkt – geistig?« fragte Ernst ruhig.

Der andere nickte.

»Dann können also unzählige Engel auf einer Nadelspitze tanzen – geistig«, fuhr Ernst sinnend fort. »Und ein pelzgekleideter, speckfressender Gott kann existieren und wirken – geistig; und es gibt keine Gegenbeweise – geistig. Ich nehme an, Herr Doktor, daß Sie geistig leben?«

»Mein Geist ist mein Königreich«, lautete die Antwort.

»Mit andern Worten, Sie leben im Blauen. Aber ich bin überzeugt, daß Sie zur Erde herabkommen, wenn Essenszeit ist, oder wenn ein Erdbeben stattfinden sollte. Oder, sagen Sie, Herr Doktor, fürchten Sie beim Erdbeben nicht, daß Ihr unkörperlicher Leib von einem unkörperlichen Ziegelstein getroffen werden könnte?«

Im selben Augenblick fuhr Doktor Hammerfields Hand unbewußt nach dem Kopfe, wo er eine Narbe unter dem Haar hatte. Zufällig hatte Ernst ein passendes Bild gewählt. Doktor Hammerfield wäre bei dem Großen Erdbeben Das Große Erdbeben von 1906, das San Franzisco zerstörte. fast von einem herabstürzenden Schornstein erschlagen worden. Alles brach in schallendes Gelächter aus.

»Nun?« fragte Ernst, als sich die Heiterkeit gelegt hatte. »Ihre Gegenbeweise!«

Aber Doktor Hammerfield hatte für einen Augenblick genug bekommen, und der Kampf nahm eine andere Wendung. Punkt für Punkt forderte Ernst die Geistlichen heraus. Behaupteten sie, die arbeitende Klasse zu kennen, so sagte er ihnen gründlich die Wahrheit, bewies ihnen, daß sie die arbeitende Klasse gar nicht kannten, und forderte sie auf, ihn zu widerlegen. Er wartete ihnen mit Tatsachen auf, bremste ihre Ausflüge ins Blaue und holte sie mit seinen Tatsachen auf den festen Boden zurück.

Wie klar sehe ich die Szene vor mir! Noch jetzt kann ich ihn mit dem kriegerischen Ton in seiner Stimme hören, wie er seine Gegner mit seinen Tatsachen quälte, deren jede ein Peitschenhieb war, und er war unerbittlich. Er verlangte keinen Pardon und gab keinen Dieses Bild ist den Gewohnheiten jener Zeit entnommen. Wenn in den wilden tierischen Kämpfen auf Tod und Leben ein Getroffener die Waffe senkte, war es dem Sieger überlassen, ihn zu erschlagen oder zu schonen.. Nie vergesse ich den Hieb, den er ihnen zum Schlusse versetzte.

»Sie haben mehrmals, teils offen, teils unbewußt, bewiesen, daß Sie die arbeitende Klasse gar nicht kennen. Aber daraus mache ich Ihnen keinen Vorwurf. Wie könnten Sie etwas von ihr wissen? Sie wohnen nicht mit ihr zusammen. Sie wohnen mit der kapitalistischen Klasse zusammen in andern Gegenden. Und warum nicht? Die kapitalistische Klasse bezahlt Sie, ernährt Sie, gibt Ihnen die Kleidung, die Sie tragen. Und dafür predigen Sie eben die Metaphysik, die Ihren Brotherren angenehm ist. Und diese Metaphysik ist Ihnen wiederum angenehm, weil sie die hergebrachte Gesellschaftsform nicht bedroht.«

Bei diesen Worten erhob sich lärmender Widerspruch am Tische.

»Oh, ich stelle Ihre Lauterkeit nicht in Frage«, fuhr Ernst fort. »Sie sind ehrlich. Sie predigen, was Sie glauben. Darin liegt eben Ihre Kraft und Ihr Wert – für die kapitalistische Klasse. Sollten Sie aber Ihrem Glauben irgendeine Richtung geben, die bedrohlich für die bestehende Ordnung wäre, so würde man Ihre Predigten unangenehm empfinden und Sie Ihres Amtes entheben. Hin und wieder geschieht das ja auch wohl, nicht wahr In jener Zeit wurden viele Geistliche aus der Kirche ausgeschlossen, weil sie unannehmbare Lehren predigten. Namentlich geschah das, wenn ihre Predigten einen sozialistischen Einschlag hatten.?«

Diesmal erhob sich kein Widerspruch. Die Geistlichen saßen stumm ergeben da, und nur Dr. Hammerfield sagte:

»Wenn ihre Anschauungen unrichtig sind, werden sie ersucht, ihren Abschied zu nehmen.«

»Mit andern Worten, wenn diese Anschauungen unbequem sind«, antwortete Ernst und fuhr dann fort: »Und darum sage ich Ihnen, machen Sie weiter, predigen Sie und verdienen Sie sich Ihr Geld damit, aber lassen Sie um Himmelswillen die arbeitende Klasse in Frieden. Sie stehen im Lager des Feindes. Sie haben keine Gemeinschaft mit der arbeitenden Klasse. Ihre Hände sind weich von der Arbeit, die andere für Sie getan haben. Sie essen so viel, daß Sie schon Bäuche haben. (Hier fuhr Doktor Ballingford zusammen, und alle Augen richteten sich auf seinen mächtigen Bauch. Man sagte von ihm, daß er seit Jahren seine eigenen Füße nicht mehr gesehen hätte.) Sie haben keine anderen Lehren im Kopfe als die, welche die mächtigen Grundpfeiler der herrschenden Ordnung sind. Sie sind Söldner (ehrliche Söldner, gebe ich zu) genau wie die Leute der Schweizer Garde Die aus fremden Söldnern bestehende Leibgarde Ludwigs XVI., eines Königs von Frankreich, der von seinem Volke enthauptet wurde.

Bleiben Sie Ihrem Salz und Sold treu. Behüten Sie mit Ihren Predigten die Interessen ihrer Brotherren, aber steigen Sie nicht zur arbeitenden Klasse hinab und dienen ihr als falsche Führer. Als ehrliche Menschen können Sie nicht in zwei Lagern auf einmal stehen. Die arbeitende Klasse ist ohne Sie ausgekommen. Glauben Sie mir, sie wird es auch ferner. Und mehr noch, sie wird besser ohne Sie auskommen.«

Anklagen

Als die Gäste gegangen waren, warf mein Vater sich auf einen Sessel und brach in ein schallendes Gelächter aus. Seit dem Tode meiner Mutter hatte ich ihn noch nie so lachen hören.

»Ich wette, Doktor Hammerfield ist noch nie in seinem Leben so aufgebracht gewesen«, lachte er. »›Die Höflichkeit geistlicher Unterhaltung‹! Hast du es bemerkt, wie er sanft wie ein Lamm anfing – Everhard, meine ich –, und wie schnell er zum brüllenden Löwen wurde? Er hat einen glänzend geschulten Geist. Er hätte einen vorzüglichen Wissenschaftler abgegeben, wenn seine Energie in die Richtung gelenkt worden wäre.«

Ich brauche kaum zu sagen, daß Ernst Everhard mich ungeheuer interessierte. Es war nicht allein das, was er gesagt, und wie er es gesagt hatte, sondern der Mann an sich. Nie war ich einem solchen Manne begegnet. Ich glaube, es kam daher, daß ich trotz meiner vierundzwanzig Jahre noch nicht verheiratet war. Er gefiel mir, das gestand ich mir selber. Und mein Gefallen an ihm beruhte auf Dingen, die jenseits von Intellekt und Argument lagen. Ungeachtet seiner schwellenden Muskeln und seines Preisboxer-Halses machte er auf mich den Eindruck eines geistreichen jungen Mannes. Ich hatte das Gefühl, daß unter der Maske eines intelligenten Eisenfressers ein zarter, empfindsamer Geist lebte. Woher dies Gefühl kam, weiß ich nicht, aber es muß wohl meine weibliche Intuition gewesen sein.

In dieser tönenden Stimme lag etwas, das mir zu Herzen ging. Sie klang mir noch in den Ohren und ich fühlte, daß ich sie gern wiederhören – und ebensogern das Lachen in seinen Augen wiedersehen würde – dieses Lachen, das den leidenschaftlichen Ernst seines Antlitzes Lügen strafte.

Und eine ganze Reihe wirrer, unbestimmter Gefühle regten sich in mir. Schon damals liebte ich ihn, wenn ich auch überzeugt bin, daß, hätte ich ihn nie wiedergesehen, diese unklaren Gefühle vergangen wären, und ich ihn mit Leichtigkeit vergessen hätte.

Aber ich sollte ihn wiedersehen. Das neu erwachte Interesse meines Vaters für Soziologie, die Gesellschaften, die er gab, waren die Ursache. Mein Vater war nicht Soziologe. Seine Ehe mit meiner Mutter war sehr glücklich gewesen, und in den Forschungen, die er in seiner eigentlichen Wissenschaft, der Physik, anstellte, hatte er ebenfalls Glück gehabt. Als aber meine Mutter starb, konnte seine Arbeit nicht die entstandene Leere ausfüllen. Zuerst befaßte er sich ein wenig mit Philosophie, dann ließ er sich, als das Interesse wach wurde, in das Studium der Nationalökonomie und der Soziologie hineintreiben. Er hatte einen starken Gerechtigkeitssinn und faßte bald eine wahre Leidenschaft, geschehenes Unrecht wieder gutzumachen. Diese Zeichen neuerwachten Lebensmutes nahm ich dankbar wahr, wenn ich mir auch nicht träumen ließ, was dabei herauskommen sollte. Mit der Leidenschaft eines Jünglings stürzte er sich in diese neuen Studien, unbekümmert, wohin sie ihn führten.

Er war stets gewohnt gewesen, im Laboratorium zu arbeiten, und so wurde unser Eßzimmer bald zu einem soziologischen Laboratorium. Hierher kamen zum Essen Männer aller Art und Klassen – Gelehrte, Politiker, Bankleute, Kaufleute, Professoren, Arbeiterführer, Sozialisten und Anarchisten. Er reizte sie zur Diskussion und analysierte ihre Gedanken über Leben und Gesellschaft.

Ernst hatte er kurz vor dem »Pastoren-Abend« kennengelernt. Und als die Gäste gegangen waren, erfuhr ich, wie er seine Bekanntschaft gemacht hatte. Beim Passieren einer Straße war er eines Abends stehengeblieben, um einem Manne zuzuhören, der auf einer Seifenkiste stand und zu einer Schar von Arbeitern redete. Der Mann auf der Kiste war Ernst. Aber er war kein gewöhnlicher Seifenkistenredner. Er stand in hohem Ansehen bei der sozialistischen Parteileitung, war einer der Führer, und zwar der anerkannte Führer in der sozialistischen Philosophie. Aber er hatte eine klare bestimmte Art, Schwerverständliches in einfachen Worten auszudrücken, er war der geborene Erklärer und Lehrer und verschmähte die Seifenkiste nicht als ein Mittel, den Arbeitern seine Parteilehren darzulegen.

Mein Vater war stehengeblieben, um zuzuhören, hatte Interesse gefaßt, ihn angeredet und ihn, nachdem die Bekanntschaft gemacht war, zum »Pastoren-Abend« eingeladen. Nach der Gesellschaft erzählte mir mein Vater das wenige, was er von ihm wußte. Er stammte aus der Arbeiterklasse, wenn er auch zu den Everhards gehörte, die schon vor mehr als zweihundert Jahren in Amerika ansässig gewesen waren In jenen Tagen machte man einen scharfen Unterschied zwischen Eingeborenen und Eingewanderten.. Im Alter von zehn Jahren mußte er schon in der Mühle arbeiten, und später kam er in die Lehre und wurde Hufschmied. Er war Autodidakt, hatte sich selbst Deutsch und Französisch beigebracht, und fristete nun sein Leben durch das Übersetzen wissenschaftlicher und philosophischer Werke für einen schwer kämpfenden sozialistischen Verlag in Chicago. Seine Einnahmen wurden vermehrt durch das geringe Honorar, das seine eigenen volkswirtschaftlichen und philosophischen Schriften ihm eintrugen.

 

Soviel erfuhr ich, ehe ich zu Bett ging, und lange lag ich wach und hörte im Geist noch den Klang seiner Stimme. Ich erschrak vor meinen eigenen Gedanken. Er war so anders als die Männer meiner Klasse, so fremdartig und so stark. Seine Überlegenheit entzückte und erschreckte mich zugleich, denn meine phantastischen Gedanken trieben ihr mutwilliges Spiel soweit, bis ich mich dabei ertappte, daß ich ihn mir als meinen Geliebten, als meinen Gatten vorstellte. Ich hatte stets gehört, daß die Stärke eines Mannes eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf Frauen ausübte; aber er war zu stark. »Nein! Nein!« rief ich. »Es ist unmöglich, unsinnig!« Und am Morgen erwachte ich mit der Sehnsucht, ihn wiederzusehen. Ich wollte ihn sehen, wie er andere Männer mit dem kriegerischen Klang seiner Stimme in der Diskussion abtat; ihn sehen, in all seiner Sicherheit und Kraft, wie er sie aus ihrer Behaglichkeit herausriß und aus ihren ausgetretenen Gedankenbahnen rüttelte. Warum er seine Klopffechterei betrieb? Um seinen eigenen Ausdruck zu gebrauchen, weil es »zog«, Effekt machte. Und zudem war seine Klopffechterei ein prachtvolles Schauspiel. Sie erregte einen wie der Angriff zur Schlacht.

Mehrere Tage vergingen, in denen ich Ernsts Bücher las, die mein Vater mir lieh. Er schrieb, wie er sprach, knapp, klar und überzeugend. Eben diese klare Schlichtheit war es, die selbst dann überzeugte, wenn man noch zweifelte. Er hatte die Gabe, Klarheit um sich zu verbreiten. Er war der vollendete Erklärer. Und doch war ich trotz seinem Stil in vielem nicht mit ihm einverstanden. Er legte zuviel Gewicht auf das, was er Klassenkampf nannte – den Gegensatz zwischen Arbeit und Kapital, den Streit der Interessen. Vater erzählte mir mit großem Vergnügen das Urteil, das Doktor Hammerfield über Ernst gefällt hatte, und das in der Behauptung gipfelte, Ernst sei »ein frecher junger Laffe, den sein bißchen sehr unzureichendes Wissen aufgeblasen hätte«. Doktor Hammerfield wünschte auch nicht wieder mit ihm zusammenzutreffen.

Dagegen erklärte Bischof Morehouse, daß Ernst ihn interessiere, und daß er ihn gern wiedersehen wolle. »Ein starker junger Mann«, sagte er. »Und lebhaft, sehr lebhaft. Aber er ist zu sicher, zu sicher.«

Eines Nachmittags kam Ernst mit Vater. Der Bischof war bereits anwesend, und wir tranken Tee auf der Veranda. Daß Ernst so oft in Berkeley war, erklärte sich aus der Tatsache, daß er an der Universität Vorlesungen über Biologie hörte, und daß er ferner stark an seinem neuen Buche »Philosophie und Revolution Dieses Buch wurde in den dreihundert Jahren der Herrschaft der Eisernen Ferse immer wieder heimlich gedruckt. In der Nationalbibliothek von Ardis befinden sich eine ganze Reihe von Ausgaben verschiedener Verleger.« arbeitete.

Die Veranda schien plötzlich zu eng geworden, als Ernst kam. Nicht, daß er außergewöhnlich groß gewesen wäre – er maß nur ein Meter fünfundsiebzig –, aber er schien eine Atmosphäre von Größe auszustrahlen. Als er mich begrüßte, verriet er eine leichte Verlegenheit, die befremdend wirkte und nicht im Einklang stand mit seinem kühnen Blick und seiner festen, sicheren Hand, die die meine im Augenblick der Begrüßung drückte. Und eben in diesem Augenblick waren seine Augen ruhig und sicher. Er betrachtete mich lange, und eine Frage schien in seinem Blick zu liegen.

»Ich habe gerade in Ihrer ›Philosophie der arbeitenden Klasse‹ gelesen«, sagte ich und sah seine Augen zufrieden aufleuchten.

»Sie haben doch natürlich das Publikum in Betracht gezogen, an das das Buch sich richtet«, antwortete er.

»Ja, und eben deshalb muß ich ein Wörtchen mit Ihnen reden«, sagte ich herausfordernd.

»Ich habe auch einen Strauß mit Ihnen auszufechten, Herr Everhard«, sagte Bischof Morehouse.

Ernst hob die Schultern und nahm eine Tasse Tee, die ich ihm reichte.

Der Bischof ließ mir mit einer Verbeugung den Vortritt.

»Sie schüren den Klassenhaß«, sagte ich. »Ich halte es für unrecht und sträflich, all die niedrigen und rohen Instinkte der arbeitenden Klasse wachzurufen. Klassenhaß ist unsozial, und, wie mir scheint, antisozialistisch.«

»Falsch«, erwiderte er. »Weder im Wortlaut noch im Geist irgendeiner meiner Schriften ist Klassenhaß.«

»Oho!« rief ich vorwurfsvoll, nahm sein Buch und schlug es auf.

Er nippte lächelnd an seinem Tee, während ich die Seiten überflog.

»Seite hundertzweiunddreißig«, las ich laut. »›Daher gibt es im jetzigen Stadium der sozialen Entwicklung als einziges Mittel den Klassenkampf zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.‹«

Ich blickte ihn triumphierend an.

»Keine Spur von Klassenhaß«, gab er lachend zurück.

»Aber Sie sprechen doch von Klassenkampf«, sagte ich.

»Etwas ganz anderes als Klassenhaß«, erwiderte er.

»Und glauben Sie mir, wir schüren den Haß nicht. Wir sagen, daß der Klassenkampf eine Folge der sozialen Entwicklung ist. Wir sind nicht dafür verantwortlich. Wir schaffen den Klassenkampf nicht. Wir erklären ihn nur, wie Newton das Gesetz der Gravitation erklärt hat. Wir erklären lediglich das Wesen des Interessenkonflikts, der den Klassenkampf hervorruft.«

»Aber es sollte keinen Interessenkonflikt geben!« rief ich.

»Da bin ich völlig mit Ihnen einig«, antwortete er. »Das ist es ja, was wir Sozialisten erstreben – die Beendigung des Interessenkonflikts. Entschuldigen Sie bitte einen Augenblick; lassen Sie mich vorlesen.« Er nahm das Buch und blätterte darin. »Seite hundertsechsundzwanzig: ›Die Periode der Klassenkämpfe, die mit der Zersetzung der ursprünglichen Gütergemeinschaft und der Entstehung des Privateigentums begann, wird mit dem Aufhören des Privateigentums im Sinne des Sozialismus endigen.‹«

»Aber da stimme ich nicht mit Ihnen überein«, fiel der Bischof ein, dessen blasses, asketisches Gesicht durch schwaches Erröten seine Erregung verriet. »Ihre Voraussetzung ist falsch. Es gibt nichts derartiges wie einen Interessenkonflikt zwischen Arbeit und Kapital – oder, vielmehr, es sollte ihn nicht geben.«

»Danke«, sagte Ernst mit Nachdruck. »Durch diese Behauptung haben Sie mir meine Voraussetzung wiedergegeben.«

»Aber warum muß es einen Konflikt geben?« fragte der Bischof eifrig.

Ernst zuckte die Achsel. »Weil wir einmal so geschaffen sind, denke ich.«

»Aber das sind wir ja gar nicht!« rief der andere.

»Sprechen Sie vom Idealmenschen?« fragte Ernst, »– von dem selbstlosen, gottähnlichen Idealmenschen, der so selten ist, daß er praktisch gar nicht in Frage kommt, oder sprechen Sie vom gewöhnlichen Durchschnittsmenschen?«

»Vom gewöhnlichen Durchschnittsmenschen«, lautete die Antwort.

»Der schwach und fehlbar und Irrtümern verfallen ist?«

Bischof Morehouse nickte.

»Und kleinlich und selbstsüchtig?«

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