Das Herz der Finsternis

Текст
Из серии: Minis bei Null Papier
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

Der alte Dok­tor fühl­te mei­nen Puls und dach­te of­fen­bar da­bei an et­was ganz an­de­res. ›Gut, gut ge­nug für dor­t‹, mur­mel­te er und frag­te dann, ob ich ihm er­lau­ben wür­de, mei­ne Schä­del­ma­ße zu neh­men. Ich be­jah­te ziem­lich über­rascht, wor­auf er ein Ding, ähn­lich ei­nem Zir­kel, her­vor­zog und die Maße rück­wärts, vor­ne, seit­lich und über­all nahm und sorg­fäl­tig auf­schrieb. Er war ein un­ra­sier­ter klei­ner Mann in ei­nem fa­den­schei­ni­gen Rock, mit Pan­tof­feln an den Fü­ßen, und ich hielt ihn für einen harm­lo­sen Nar­ren. ›Ich bit­te im­mer um die Er­laub­nis, der Wis­sen­schaft zu­lie­be, die Schä­del der Leu­te zu mes­sen, die dort hin­aus­ge­hen‹, sag­te er. – ›Auch wenn sie zu­rück­kom­men?‹ frag­te ich. – ›Oh, dann sehe ich sie nie­mals‹, mein­te er, ›und über­dies ge­hen ja die Ver­än­de­run­gen in­ner­lich vor sich, müs­sen Sie wis­sen.‹ Er lä­chel­te, als hät­te er einen klei­nen Scherz ge­macht. ›So, Sie ge­hen also dort hin­aus! Fa­mos! Auch in­ter­essant!‹ Er sah mich for­schend an und mach­te noch eine No­tiz. ›Kein Fall von Irr­sinn in Ih­rer Fa­mi­lie?‹ frag­te er in tro­ckenem Ge­schäftston. Ich war recht är­ger­lich: ›Ge­schieht auch die­se Fra­ge der Wis­sen­schaft zu­lie­be?‹ – ›Es wä­re‹, gab er zu­rück, ohne mei­ne Er­re­gung zu be­ach­ten, ›für die Wis­sen­schaft sehr wich­tig, an Ort und Stel­le die see­li­schen Ver­än­de­run­gen in den Leu­ten zu be­ob­ach­ten, aber …‹ – ›Sind Sie Ir­ren­arzt?‹ un­ter­brach ich ihn. – ›Je­der Dok­tor soll­te das sein – ein we­nig‹, gab der ori­gi­nel­le Kauz un­be­irrt zu­rück. ›Ich habe da eine klei­ne Theo­rie, die ihr Her­ren, die ihr dort hin­aus­geht, mir zu be­wei­sen hel­fen müsst. Das ist mein An­teil an den Vor­tei­len, die mein Land aus dem Be­sitz so herr­li­cher Län­de­rei­en zie­hen soll. Den blo­ßen Wohl­stand über­las­se ich an­de­ren. Ent­schul­di­gen Sie mei­ne Fra­gen, aber Sie sind der ers­te Eng­län­der, den ich be­ob­ach­ten kann …‹ Ich be­eil­te mich, ihm zu ver­si­chern, dass ich in kei­ner Wei­se ty­pisch wäre. ›Wä­re ich das‹, mein­te ich, ›dann un­ter­hiel­te ich mich nicht so mit Ih­nen‹. – ›Was Sie sa­gen, ist recht tief­sin­nig und wahr­schein­lich auch falsch‹, mein­te er la­chend. ›Ver­mei­den Sie jede Er­re­gung mehr noch als grel­le Son­ne. A­dieu! Wie sagt ihr Eng­län­der? Good-bye. Ach ja, good-bye. Adieu. In den Tro­pen muss man vor al­lem an­de­ren Ruhe be­wah­ren …‹ Er hob war­nend den Zei­ge­fin­ger ›Du cal­me, du cal­me. Adieu.‹

Es blieb noch ei­nes zu tun: mei­ner aus­ge­zeich­ne­ten Tan­te Le­be­wohl zu sa­gen. Ich fand sie frohlo­ckend. Sie bot mir eine Tas­se Tee an die letz­te an­stän­di­ge Tas­se Tee für vie­le Tage – in ei­nem Zim­mer, das äu­ßerst an­spre­chend, ge­ra­de so aus­sah, wie man es vom Wohn­zim­mer ei­ner Dame ger­ne er­war­tet, hat­ten wir am Feu­er einen gu­ten, lan­gen Plausch. Im Lau­fe die­ser Her­zenser­güs­se wur­de es mir of­fen­bar, dass ich der Ge­mah­lin des ho­hen Wür­den­trä­gers und Gott weiß wie vie­len Leu­ten sonst noch als ein be­gna­de­ter Aus­nah­me­mensch dar­ge­stellt wor­den war, ge­ra­de­zu als ein Haupt­tref­fer für die Ge­sell­schaft, als ein Mann kurz­um, wie er ei­nem nicht alle Tage in die Fin­ger läuft. Gro­ßer Gott im Him­mel! Und da­bei soll­te ich den Be­fehl über einen Fünf-Pfen­nig-Fluss­damp­fer über­neh­men, mit ei­nem Kin­der­pfeif­chen dar­an. Dar­über hin­aus soll­te ich schein­bar auch noch ein Ar­bei­ter sein, ihr ver­steht mich schon, vom Schla­ge der Ar­bei­ter im Wein­ber­ge, und et­was wie ein Send­bo­te des Lichts. Nicht viel we­ni­ger als ein Apos­tel. Gera­de da­mals war eine Un­men­ge sol­chen Zeugs in Druck und Rede los­ge­las­sen wor­den, und die aus­ge­zeich­ne­te Frau hat­te mit­ten im Strom des sie um­ge­ben­den Un­sinns den Bo­den un­ter den Fü­ßen ver­lo­ren. Sie sprach da­von, man müss­te ›die un­wis­sen­den Mil­lio­nen von ih­ren schlim­men We­gen ab­brin­gen‹, bis mir, Hand aufs Herz, ganz un­ge­müt­lich wur­de. Ich wag­te eine An­deu­tung, dass die Ge­sell­schaft ein rein ge­schäft­li­ches Un­ter­neh­men sei.

›Du ver­gisst, lie­ber Char­lie, dass der Ar­bei­ter sei­nes Loh­nes wert ist‹, er­wi­der­te sie strah­lend. Es ist merk­wür­dig, wie weit ent­fernt die Frau­en von der Wahr­heit sind. Sie le­ben in ei­ner Welt ih­rer ei­ge­nen Schöp­fung, der­glei­chen es nie ge­ge­ben hat und auch nie ge­ben kann. Denn die­se Welt wäre zu schön, und woll­ten sie sie wirk­lich in den Raum stel­len, so wür­de sie vor dem ers­ten Son­nen­un­ter­gang in Stücke ge­hen. Die eine oder die an­de­re der ver­wünsch­ten Tat­sa­chen, die wir Män­ner vom Tage der Schöp­fung an ru­hig in den Kauf ge­nom­men ha­ben, wür­de auf­ste­hen und al­les um­stür­zen.

Da­rauf­hin wur­de ich um­armt, ge­be­ten, Fla­nell zu tra­gen, ganz be­stimmt oft zu schrei­ben und so wei­ter; dann ging ich. In der Stra­ße ich weiß nicht, warum – über­kam mich das pein­li­che Ge­fühl, ich sei ein Hoch­stap­ler. Merk­wür­dig ge­nug war es, dass ich, der ich doch sonst ge­wohnt war, in­ner­halb ei­ner Frist von vier­und­zwan­zig Stun­den nach je­dem be­lie­bi­gen Punkt der Welt auf­zu­bre­chen, ohne mehr Hem­mun­gen als an­de­re Leu­te sie beim Über­que­ren ei­ner Stra­ße emp­fin­den – dass also ich vor die­ser doch recht all­täg­li­chen Ge­schich­te nicht ge­ra­de zau­der­te, aber doch ein ge­wis­ses Un­be­ha­gen emp­fand. Ich kann es euch nicht bes­ser er­klä­ren, als in­dem ich sage, ich hat­te ein oder zwei Se­kun­den lang das Ge­fühl, dass ich nicht ins In­ne­re ei­nes Kon­tin­ents, son­dern ge­ra­de­zu ins Er­din­ne­re auf­bre­chen soll­te.

Ich reis­te auf ei­nem fran­zö­si­schen Damp­fer, der je­den ge­seg­ne­ten Ha­fen an­lief, den sie dort drau­ßen ha­ben, und zwar, so viel ich se­hen konn­te, zu dem ein­zi­gen Zweck, um Sol­da­ten und Zoll­be­am­te zu lan­den. Ich be­trach­te­te die Küs­te. Eine Küs­te be­trach­ten, wie sie am Schiff vor­beiglei­tet, kommt dem Nach­den­ken über ein Rät­sel gleich. Da liegt sie vor euch – la­chend, dro­hend, ein­la­dend, groß­ar­tig oder lang­wei­lig, häss­lich, wild viel­leicht, im­mer stumm, und doch lei­se lo­ckend: ›Komm und sieh selbst.‹ Die Küs­te dort war fast ohne Merk­mal, als wäre sie noch im Wach­sen, und wirk­te ein­tö­nig, öde. Der Rand ei­nes un­ge­heu­ren Dschun­gels von so dunklem Grün, dass es fast schwarz aus­sah, und von ei­nem Strei­fen wei­ßer Bran­dung um­säumt, lief ker­zen­ge­ra­de, wie mit dem Li­ne­al ge­zo­gen, weit, weit ei­nem grell­blau­en Meer ent­lang, des­sen Glit­zern ein krie­chen­der Dunst ver­schlei­er­te. Die Son­ne war un­er­bitt­lich, das Land schi­en von Was­ser­dampf zu trie­fen. Da und dort tauch­ten grau­wei­ße Fle­cken auf, jen­seits des Bran­dungs­strei­fens zu­sam­men­ge­drängt, mit ei­ner we­hen­den Flag­ge dar­über. An­sied­lun­gen, die viel­leicht ei­ni­ge Jahr­hun­der­te alt wa­ren und doch auf dem un­ge­heu­ren Hin­ter­grund kaum grö­ßer als Steck­na­del­köp­fe wirk­ten. Wir stampf­ten da­hin, hiel­ten an, lan­de­ten Trup­pen; fuh­ren wei­ter, lan­de­ten Be­am­te, die Zoll ein­he­ben soll­ten, in ei­nem Land­strich, der eine gott­ver­las­se­ne Wild­nis schi­en, mit ei­nem Well­blech­dach und ei­ner Flag­gen­stan­ge dar­in; lan­de­ten Trup­pen – wohl um die Zoll­wäch­ter zu schüt­zen. Wie ich hör­te, er­tran­ken ei­ni­ge da­von in der Bran­dung, – doch ob so oder so, nie­mand schi­en sich son­der­lich dar­um zu küm­mern. Die Leu­te wur­den ein­fach aus­ge­setzt, und wir fuh­ren wei­ter. Alle Tage sah die Küs­te gleich aus, als hät­ten wir uns nicht vom Fleck ge­rührt; doch ka­men wir an man­cher­lei Or­ten vor­bei, Han­dels­nie­der­las­sun­gen – mit Na­men wie Groß-Bas­sam, Klein-Popo, Na­men, wie aus ei­ner schmut­zi­gen Pos­se ent­lehnt, die vor ei­nem düs­te­ren Vor­hang in Sze­ne ging. Die trä­ge Muße ei­nes Pas­sa­giers, mei­ne Ein­sam­keit un­ter all den Leu­ten, mit de­nen ich kei­ner­lei Berüh­rungs­punk­te hat­te, die völ­lig lang­wei­li­ge See, das ein­tö­ni­ge Dun­kel der Küs­te schie­nen mich weit­ab von der wirk­li­chen Welt in ei­ner schwer­mü­ti­gen und sinn­lo­sen Selbst­täu­schung ge­fan­gen­zu­hal­ten. Die Stim­me der Bran­dung, die ich dann und wann hör­te, war mir eine rech­te Freu­de, wie die Rede ei­nes Bru­ders. Sie war et­was Na­tür­li­ches, das sei­nen Grund und sei­nen Sinn hat­te. Dann und wann gab ei­nem ein Boot vom Ufer her eine kurz­wäh­ren­de Berüh­rung mit der Wirk­lich­keit. Es wur­de von schwar­zen Ker­len ge­ru­dert, und man konn­te schon von wei­tem das Weiß in ih­ren Au­gen blit­zen se­hen. Sie brüll­ten und san­gen. Ihre Lei­ber wa­ren über­strömt von Schweiß, ihre Ge­sich­ter wa­ren wie gro­tes­ke Mas­ken; doch hat­ten sie Kno­chen und Mus­keln, eine wil­de Le­bens­kraft, eine un­ge­heu­re Be­we­gungs­ener­gie, das al­les wirk­te so na­tür­lich und wahr wie die Bran­dung längs der Küs­te. Sie brauch­ten kei­ne Ent­schul­di­gung für ihr Da­sein. Es war ein großer Trost, sie an­zu­se­hen. Für eine Zeit lang hat­te ich dann wie­der das Ge­fühl, in ei­ner Welt ker­ni­ger Tat­sa­chen zu le­ben; doch das Ge­fühl hielt nicht lan­ge an. Ir­gen­det­was tauch­te plötz­lich auf und ver­scheuch­te es. Ein­mal, er­in­ne­re ich mich, ka­men wir an ein Kriegs­schiff, das weit­ab der Küs­te vor An­ker lag. Es war nicht ein­mal eine Nie­der­las­sung zu se­hen, und der Pan­zer­kreu­zer be­schoss den Ur­wald. Es er­gab sich, dass die Fran­zo­sen an die­ser Stel­le ge­ra­de einen ih­rer Krie­ge im Gan­ge hat­ten. Die Flag­ge hing schlaff wie ein Fet­zen am Topp­mast. Die Mün­dun­gen der lan­gen Acht-Zoll-Ge­schüt­ze stan­den rings­her­um über den nied­ri­gen Rumpf hin­aus; die trä­ge, öli­ge Dü­nung4 hob und senk­te das Schiff lang­sam und ließ die dün­nen Mas­ten schwan­ken. In der lee­ren Unend­lich­keit von Land, Him­mel und Was­ser lag der Kreu­zer da, un­ver­ständ­lich, und feu­er­te in einen Erd­teil hin­ein. Bumm, ging ei­nes der acht­zöl­li­gen Ge­schüt­ze los; eine schma­le Stich­flam­me blitz­te auf und ver­ging, ein wei­ßes Rauch­wölk­chen ver­weh­te, ein schlan­kes Ge­schoss heul­te kurz auf – und nichts ge­sch­ah. Nichts konn­te ge­sche­hen. Es lag et­was wie Irr­sinn in dem Be­gin­nen, eine fürch­ter­li­che Ko­mik in dem An­blick; und es wur­de nicht bes­ser, als je­mand an Bord mir ernst­haft ver­si­cher­te, ir­gend­wo, au­ßer Sicht, be­fän­de sich ein La­ger der Ein­ge­bo­re­nen. Er nann­te sie Fein­de!

 

Wir über­ga­ben dem Kreu­zer sei­ne Post (ich hör­te, dass die Leu­te auf dem ein­sa­men Schiff zu zwei und drei am Tage an Fie­ber star­ben) und fuh­ren wei­ter. Wir lie­fen noch ei­ni­ge Orte mit lä­cher­li­chen Na­men an, wo der Braut­tanz von Tod und Ge­schäft in ei­ner reg­lo­sen, er­di­gen Luft, wie der ei­ner über­hitz­ten Ka­ta­kom­be, vor sich geht. Im­mer wei­ter ent­lang der ge­glie­der­ten Küs­te mit ih­rem Saum von ge­fähr­li­cher Bran­dung, als hät­te die Na­tur selbst Ein­dring­lin­ge fern­hal­ten wol­len, hin­ein und her­aus aus Flüs­sen, die vom Tod ins Le­ben ström­ten, de­ren Ufer fau­li­ger Mo­rast bil­de­te, de­ren Was­ser zu Schlamm ver­dickt wa­ren; ver­krümm­te Man­gro­ven rag­ten dar­aus her­vor, die uns wie im Über­maß hilflo­ser Verzweif­lung an­zu­fle­hen schie­nen. Wir hiel­ten nir­gends lan­ge ge­nug, um tiefe­re Ein­drücke ge­win­nen zu kön­nen, doch ein ziel­lo­ses, be­drücken­des Stau­nen er­füll­te mich mehr und mehr. Es war wie ein mü­des Wan­dern auf Spu­ren bö­ser Träu­me.

Mehr als drei­ßig Tage ver­gin­gen, be­vor ich die Mün­dung des großen Stro­mes er­blick­te. Wir gin­gen vor dem Sitz der Re­gie­rung vor An­ker. Mei­ne Ar­beit aber soll­te erst etwa zwei­hun­dert Mei­len wei­ter strom­auf­wärts be­gin­nen. So mach­te ich mich also, so schnell es ging, nach ei­nem Ort drei­ßig Mei­len wei­ter oben auf den Weg.

Ich fuhr auf ei­nem klei­nen see­tüch­ti­gen Damp­fer. Der Ka­pi­tän war ein Schwe­de und lud mich, da er mich als See­mann er­kann­te, auf die Brücke ein. Er war ein jun­ger Mann, schlank, blond und mür­risch, mit schlich­tem Haar und schlep­pen­dem Gang. Als wir den elen­den klei­nen Lan­dungs­steg ver­lie­ßen, deu­te­te er mit dem Kopf ver­ächt­lich nach dem Ufer. ›Wa­ren Sie dort ge­we­sen?‹ frag­te er. Ich be­jah­te. ›Fei­ne Ge­sell­schaft, die­se Her­ren von der Re­gie­rung, nicht?‹ fuhr er fort und sprach sein Eng­lisch mit großer Ge­nau­ig­keit und er­heb­li­cher Ver­bit­te­rung. ›Es ist lus­tig, zu se­hen, was man­che Leu­te für ein paar Fran­ken im Mo­nat zu tun im­stan­de sind. Ich möch­te wohl wis­sen, was aus den Bur­schen wird, wenn sie ins In­ne­re kom­men.‹ – Ich sag­te, dass ich das bald selbst zu se­hen hoff­te. ›Soo!‹ rief er aus. Er schlurf­te bei­sei­te, späh­te aber da­bei mit ei­nem Auge wach­sam vor­aus. ›Sei­en Sie nicht all­zu si­cher‹, mein­te er. ›Letzthin habe ich einen Mann an Bord ge­habt, der sich dann un­ter­wegs auf­ge­hängt hat. Es war noch dazu ein Schwe­de.‹ – ›Sich auf­ge­hängt hat? Wa­rum, um Got­tes wil­len?‹ rief ich. Er späh­te im­mer noch scharf vor­aus. ›Wer weiß das? Vi­el­leicht ist ihm die Son­ne zu viel ge­wor­den, oder das Land.‹

Schließ­lich lie­fen wir in eine freie Strom­stre­cke ein. Eine Fel­sen­klip­pe tauch­te auf, auf­ge­wühl­te Erd­hau­fen am Ufer, ein paar Häu­ser auf ei­nem Hü­gel, an­de­re, mit Blech­dä­chern, in­mit­ten ei­ner Wild­nis von Aus­gra­bun­gen, oder schräg an den Hän­gen kle­bend. Der an­hal­ten­de Lärm der Strom­schnel­len wei­ter oben be­glei­te­te die­ses Bild un­be­wohn­ter Ver­wüs­tung. Ein paar Leu­te, meist schwarz und nackt, kro­chen wie Amei­sen um­her. Ein Quai rag­te in den Fluss hin­ein. Der blen­den­de Son­nen­schein er­tränk­te von Zeit zu Zeit al­les in ei­nem jä­hen Auf­wal­len von Licht. ›Da ist die Sta­ti­on Ih­rer Ge­sell­schaft‹, sag­te der Schwe­de und wies auf drei höl­zer­ne, ba­ra­cken­ar­ti­ge Ge­bäu­de an dem fel­si­gen Hang. ›Ich will Ihre Sa­chen hin­auf schi­cken; vier Kis­ten, sag­ten Sie? So. Le­ben Sie wohl!‹

Ich kam an ei­nem Kes­sel vor­bei, der im Gra­se lag, und fand dann einen Fuß­pfad, der den Hü­gel hin­an­führ­te, in ei­nem Bo­gen um die Fels­blö­cke her­um und des­glei­chen um eine klei­ne Bahn­lo­re, die, um­ge­kehrt, mit den Rä­dern in der Luft dalag. Ein Rad fehl­te. Das Ding sah tot aus wie ein Tier­ka­da­ver. Ich kam noch an ei­ni­gen ver­rot­te­ten Ma­schi­nen­tei­len vor­über, auch an ei­nem Hau­fen ros­ti­ger Schie­nen. Zur Lin­ken bot eine Grup­pe von Bäu­men ein we­nig Schat­ten, und schwar­ze Ge­stal­ten schie­nen sich lang­sam dar­in zu be­we­gen. Ich blin­zel­te hin­über; der Weg war steil. Rechts er­tön­te ein Horn­si­gnal, und ich sah die Schwar­zen da­von­ren­nen. Eine schwe­re und dump­fe De­to­na­ti­on er­schüt­ter­te den Grund, eine Rauch­wol­ke kam aus der Klip­pe her­aus, und das war al­les. Kei­ne Ver­än­de­rung zeig­te sich an der Ober­flä­che des Fel­sens. Sie wa­ren da­bei, eine Ei­sen­bahn zu bau­en. Die Klip­pe war nicht im Wege, noch sonst et­was; aber die­se ziel­lo­se Schie­ße­rei war die gan­ze Ar­beit, die über­haupt ge­tan wur­de.

Ein lei­ses Klir­ren hin­ter mir ließ mich den Kopf wen­den. Sechs Schwar­ze ka­men hin­ter­ein­an­der da­her und keuch­ten den Pfad her­auf. Sie gin­gen ge­ra­de und lang­sam, tru­gen klei­ne Kör­be mit Erde auf den Köp­fen, und das Klir­ren hielt mit ih­ren Schrit­ten Gleich­maß. Schwar­ze Fet­zen wa­ren um ihre Len­den ge­wi­ckelt, und die kur­z­en En­den wipp­ten hin­ter ih­nen her wie Schwän­ze. Ich konn­te jede Rip­pe se­hen, ihre Ge­len­ke wa­ren wie Kno­ten in ei­nem Tau; je­der trug ein ei­ser­nes Hals­band, und sie alle wa­ren un­ter­ein­an­der mit ei­ner Ket­te ver­bun­den, de­ren Glie­der gleich­mä­ßig klir­rend zwi­schen ih­nen nie­der­hin­gen. Ein neu­er Schuss von der Klip­pe her ließ mich plötz­lich an das Kriegs­schiff den­ken, das ich in einen Erd­teil hin­ein­feu­ern ge­se­hen hat­te. Es war der glei­che schick­sals­schwe­re Ton; nur konn­ten die­se Men­schen hier beim bes­ten Wil­len nicht als Fein­de be­zeich­net wer­den. Sie wur­den Ver­bre­cher ge­nannt, und das ver­letz­te Ge­setz war eben­so wie die plat­zen­den Schrap­nells von jen­seits des Mee­res als ein un­fass­ba­res Ge­heim­nis zu ih­nen ge­kom­men. Alle die ma­ge­ren Brust­kas­ten keuch­ten zu­sam­men, die hef­tig ge­bläh­ten Nüs­tern zit­ter­ten, die Au­gen stier­ten krampf­haft nach oben. Sie gin­gen haar­scharf an mir vor­bei, ohne einen Blick, mit der völ­lig apa­thi­schen Gleich­gül­tig­keit un­glück­li­cher Wil­der. Hin­ter dem Häuf­lein Elend kam ei­ner der Be­kehr­ten, die Frucht der neu­en Kräf­te, die am Wer­ke wa­ren, nach­läs­sig ein­her­ge­schlen­dert und hielt ein Ge­wehr an der Lauf­mit­te. Er trug eine Uni­formja­cke, an der ein Knopf fehl­te und schul­ter­te, als er einen wei­ßen Mann am Wege sah, has­tig sei­ne Waf­fe. Das war ein­fa­che Vor­sicht, da auf eine ge­wis­se Ent­fer­nung die wei­ßen Män­ner ein­an­der so ähn­lich sind, dass er nicht wis­sen konn­te, wer ich war. Er ver­ge­wis­ser­te sich als­bald und schi­en mich mit ei­nem brei­ten, zäh­ne­blit­zen­den, schuf­ti­gen Grin­sen und ei­nem Blick auf sei­ne Schutz­be­foh­le­nen als Ge­nos­sen sei­ner schö­nen Über­zeu­gung be­grü­ßen zu wol­len. Im Grun­de ge­nom­men hat­te ich ja auch mei­nen An­teil an der hei­li­gen Sa­che und den er­ha­be­nen und ge­rech­ten Vor­gän­gen.

An­statt wei­ter hin­auf­zu­ge­hen, wand­te ich mich um und ging nach links wie­der hin­un­ter. Ich woll­te die Grup­pe von Ge­fes­sel­ten au­ßer Sicht kom­men las­sen, be­vor ich den Hü­gel er­stieg. Ihr wisst ja, dass ich nicht be­son­ders zart be­sai­tet bin. Ich habe Schlä­ge aus­tei­len und ab­weh­ren müs­sen. Ich habe Wi­der­stand leis­ten und manch­mal auch an­grei­fen müs­sen – was ja eine Art des Wi­der­stan­des ist –, ohne all­zu ge­nau nach dem Preis zu fra­gen, nur den An­for­de­run­gen der Le­bens­wei­se ent­spre­chend, die ich mir er­wählt hat­te. Ich habe manch einen Teu­fel an Ge­walt­tä­tig­keit, Hab­sucht und hei­ßer Gier ge­se­hen, aber bei al­len Him­meln, das wa­ren star­ke, fri­sche, rot­äu­gi­ge Teu­fel, die ihre Leu­te – Män­ner, sage ich euch – rich­tig schüt­tel­ten und her­umjag­ten. Wäh­rend ich aber auf dem Hü­gel­hang stand, sah ich vor­aus, dass ich in dem blen­den­den Son­nen­schein die­ses Lan­des die Be­kannt­schaft des schlap­pen, an­ma­ßen­den, zwin­kern­den Teu­fels ei­ner ver­rück­ten und un­barm­her­zi­gen Gier ma­chen wür­de. Wie heim­tückisch er über­dies noch sein konn­te, das soll­te ich erst ei­ni­ge Mo­na­te spä­ter und rund tau­send Mei­len wei­ter weg er­fah­ren. Im Au­gen­blick stand ich be­stürzt da wie vor ei­ner War­nung. Schließ­lich ging ich den Hü­gel hin­un­ter, schräg auf die Bäu­me zu, die ich ge­se­hen hat­te.

Ich wich ei­nem großen künst­li­chen Loch aus, das je­mand in den Hang ge­gra­ben hat­te, des­sen Zweck aber nicht zu er­ra­ten war. Es war we­der ein Stein­bruch, noch eine Sand­gru­be, so viel stand fest. Ein­fach ein Loch. Sei­ne Ent­ste­hung konn­te viel­leicht mit dem men­schen­freund­li­chen Wunsch in Ver­bin­dung sein, den Ver­bre­chern et­was zu tun zu ge­ben. Ich weiß es nicht. Dann stürz­te ich bei­na­he in eine ganz enge Schlucht, die kaum mehr war als eine Hieb­wun­de im Hü­gel. Ich ent­deck­te, dass eine Un­men­ge für die An­sied­lung ein­ge­führ­ter Drai­na­ge­röh­ren dar­in auf­ge­häuft wor­den wa­ren. Nicht eine da­von war un­zer­bro­chen. Als hät­te sich je­mand einen Scherz dar­aus ge­macht. End­lich kam ich un­ter die Bäu­me. Mei­ne Ab­sicht war, im Schat­ten ein we­nig zu ver­wei­len; doch kaum war ich dort, so schi­en es mir schon, als wäre ich in die Düs­ter­nis ir­gend­ei­nes In­fer­no ge­ra­ten. Die Strom­schnel­len wa­ren nahe, und ein un­un­ter­bro­che­nes, ein­tö­ni­ges, be­täu­ben­des Geräusch er­füll­te die trü­be Stil­le des Hai­nes, wo kein Atem­zug zu hö­ren war, kein Blatt sich rühr­te, mit ei­nem ge­heim­nis­vol­len Laut – als wäre das Da­hin­sau­sen des Erd­balls durch den Raum plötz­lich hör­bar ge­wor­den.

Schwar­ze Ge­stal­ten kau­er­ten, la­gen, sa­ßen zwi­schen den Bäu­men, lehn­ten sich ge­gen die Stäm­me, klam­mer­ten sich an die Erde, halb in dem trü­ben Licht, halb im Schat­ten ver­bor­gen, in al­len Stel­lun­gen des Schmer­zes, der Auf­lö­sung und Verzweif­lung. Wie­der er­dröhn­te ein Spreng­schuss von der Klip­pe her, von ei­nem leich­ten Er­zit­tern des Bo­dens un­ter mei­nen Fü­ßen ge­folgt. Die Ar­beit ging ih­ren Gang. Die Ar­beit! Und dies war der Ort, an den sich ei­ni­ge der Hel­fer zu­rück­ge­zo­gen hat­ten, um zu ster­ben.

Sie star­ben lang­sam – das war klar. Sie wa­ren kei­ne Fein­de, sie wa­ren kei­ne Ver­bre­cher, sie wa­ren nun nichts Ir­di­sches mehr – nichts als schwar­ze Schat­ten, krank und ver­hun­gert, die durch­ein­an­der in dem grü­nen Däm­mern la­gen. Man hat­te sie aus al­len Win­keln der Küs­te auf Grund ge­setz­lich ein­wand­frei­er Ar­beits­ver­trä­ge zu­sam­men­ge­holt; ver­lo­ren in der un­ge­wohn­ten Um­ge­bung, auf un­ge­wohn­te Nah­rung ge­setzt, siech­ten sie da­hin, wur­den un­taug­lich und er­hiel­ten schließ­lich die Er­laub­nis, bei­sei­te zu krie­chen und aus­zu­ru­hen. Die­se ster­ben­den Ge­stal­ten wa­ren frei wie die Luft – und fast auch so dünn. Ich be­gann das Glit­zern von Au­gen un­ter den Bäu­men wahr­zu­neh­men. Dann ent­deck­te ich beim Nie­der­bli­cken ein Ge­sicht nahe an mei­ner Hand. Die schwar­zen Ge­bei­ne lehn­ten der Län­ge nach mit ei­ner Schul­ter ge­gen einen Baum, die Au­gen­li­der ho­ben sich lang­sam, und die ein­ge­fal­le­nen Au­gen sa­hen zu mir auf, rie­sen­groß und leer, mit ei­nem blin­den, weiß­li­chen Fla­ckern in den Tie­fen der Au­gäp­fel, das lang­sam erstarb. Der Mann schi­en jung, fast ein Kna­be, – aber ihr wisst ja, wie schwer es bei den Leu­ten zu sa­gen ist. Mir fiel nichts an­de­res ein, als ihm einen der gu­ten schwe­di­schen Schiffs­zwie­ba­cke an­zu­bie­ten, die ich noch in der Ta­sche hat­te. Die Fin­ger schlos­sen sich lang­sam dar­um und hiel­ten fest – es er­folg­te kei­ne an­de­re Be­we­gung, kein an­de­rer Blick. Er hat­te sich ein Stück wei­ßes Docht­garn um den Hals ge­bun­den. Wa­rum? Wo hat­te er es her? War es ein Ab­zei­chen – ein Schmuck – ein Amu­lett – ein Ta­lis­man? Hat­te es über­haupt be­son­de­re Be­deu­tung; Es sah über­ra­schend ge­nug an dem schwar­zen Hals aus, das klei­ne Stück wei­ßen Fa­dens von jen­seits der See.

Nahe bei dem glei­chen Baum hock­ten noch zwei scharf­kan­ti­ge Men­schen­bün­del auf hoch­ge­zo­ge­nen Bei­nen. Der eine hielt das Kinn auf die Knie ge­stützt und starr­te ins Lee­re, in ei­ner un­er­träg­li­chen, quä­len­den Art; sein Un­glücks­ge­fähr­te stütz­te sich die Stirn wie in über­großer Mü­dig­keit, und rings­her­um la­gen an­de­re in al­len Stel­lun­gen jä­hen Zu­sam­men­bruchs, wie auf der Ab­bil­dung ei­nes Mas­sen­mor­des oder ei­ner Pest. Wäh­rend ich starr vor Ent­set­zen da­vor­stand, er­hob sich ei­nes der Ge­schöp­fe auf Hän­de und Knie und kroch auf al­len vie­ren zum Fluss, um zu trin­ken. Es schlabbte aus frei­er Hand, setz­te sich dann im Son­nen­licht auf, kreuz­te die Schien­bei­ne und ließ nach ei­ner Zeit den Woll­kopf auf das Brust­hein nie­der­sin­ken.

 

Ich hat­te kei­ne Lust mehr, im Schat­ten zu ver­wei­len, und ging has­tig der Sta­ti­on zu. In der Nähe der Ge­bäu­de traf ich einen Wei­ßen von so un­er­war­te­ter Ele­ganz, dass ich ihn im ers­ten Au­gen­blick für eine Er­schei­nung hielt. Ich be­merk­te einen ho­hen, ge­stärk­ten Kra­gen, wei­ße Man­schet­ten, eine Ja­cke aus leich­tem Woll­stoff, schnee­wei­ße Bein­klei­der, einen lich­ten Selbst­bin­der und Lack­schu­he. Kei­nen Hut. Das Haar ge­schei­telt, ge­bürs­tet, ge­ölt, un­ter ei­nem grün­ge­streif­ten Son­nen­schirm, den eine große, wei­ße Hand hielt. Er wirk­te ein­fach ver­blüf­fend und trug einen Fe­der­hal­ter hin­ter dem Ohr.

Ich wech­sel­te mit dem Got­tes­wun­der einen Hän­de­druck und er­fuhr, dass er der Ober­buch­hal­ter der Ge­sell­schaft sei und dass die ge­sam­te Buch­hal­tung auf die­ser Sta­ti­on er­fol­ge. Er sei, so sag­te er, für einen Au­gen­blick her­aus­ge­gan­gen, ›um ein we­nig fri­sche Luft zu schnap­pen.‹ Der Aus­druck mit sei­nem Hin­weis auf einen Stu­ben­hocker­be­ruf klang wun­der­lich ge­nug. Ich hät­te den Bur­schen vor euch gar nicht er­wähnt, hät­te ich nicht von sei­nen Lip­pen zu­erst den Na­men des Man­nes ge­hört, der für mich mit den Erin­ne­run­gen an jene Zeit un­lös­lich ver­bun­den ist. Über­dies emp­fand ich auch Hochach­tung vor dem Men­schen. Ja­wohl, ich ach­te­te sei­nen Kra­gen, sei­ne brei­ten Man­schet­ten, sein ge­bürs­te­tes Haar. Ge­wiss sah er wie die Pro­bier­pup­pe ei­nes Haar­künst­lers aus, aber er hielt doch in der all­ge­mei­nen Ver­wahr­lo­sung des Lan­des auf sein Äu­ße­res. Das nennt man Rück­grat. Sein ge­stärk­ter Kra­gen und die gut ge­bü­gel­te Hemd­brust wa­ren Ener­gieleis­tun­gen. Er war schon seit fast drei Jah­ren drau­ßen; und spä­ter ein­mal konn­te ich nicht um­hin, ihn zu fra­gen, wie er es fer­tig­brach­te, so gut­ge­pfleg­te Wä­sche zu ha­ben. Er er­rö­te­te ein ganz klein we­nig und sag­te be­schei­den: ›Ich habe mir ei­nes der ein­ge­bo­re­nen Wei­ber von der Sta­ti­on ab­ge­rich­tet. Es war nicht leicht. Sie hat­te eine Ab­nei­gung ge­gen die Ar­beit.‹ So hat­te also die­ser Mann tat­säch­lich et­was fer­tig­ge­bracht. Auch hat­te er eine Lei­den­schaft für sei­ne Bü­cher, die in pein­lichs­ter Ord­nung wa­ren.

Al­les an­de­re in der Sta­ti­on war ein großer Wirr­warr – Köp­fe, Din­ge, Ge­bäu­de. Scha­ren von stau­bi­gen Ne­gern mit schwie­li­gen Fü­ßen ka­men an und gin­gen weg; ein Strom von Wa­ren, elen­des Baum­woll­zeug, Glas­per­len und Kup­fer­draht er­goss sich in die Tie­fen der Fins­ter­nis, und von dort si­cker­te El­fen­bein in die Sta­ti­on her­ein. Ich muss­te in der Sta­ti­on zehn Tage war­ten – eine Ewig­keit. Ich leb­te in ei­ner Hüt­te im Gar­ten, um aber dem Cha­os zu ent­rin­nen, flüch­te­te ich mich manch­mal in das Kon­tor des Buch­hal­ters. Es war aus waag­rech­ten Bret­tern er­baut und so schlecht zu­sam­men­ge­fügt, dass er, wenn er sich über sei­nen ho­hen Tisch beug­te, von Kopf bis Fuß von schma­len Son­nen­strei­fen über­sät war. Es war un­nö­tig, den großen Fens­ter­la­den auf­zu­ma­chen, wenn man se­hen woll­te. Auch war es dort heiß; große Flie­gen surr­ten feind­se­lig und sta­chen nicht nur ein­fach, son­dern teil­ten Dolch­stö­ße aus. Ich saß ge­wöhn­lich auf dem Fuß­bo­den, wäh­rend der Buch­hal­ter ta­del­los ge­pflegt (und so­gar leicht par­fü­miert) auf ei­nem ho­hen Dreh­stuhl hock­te und dau­ernd schrieb. Mit­un­ter er­hob er sich, um ein paar Schrit­te zu ge­hen. Als ein Roll­bett mit ei­nem Kran­ken (ir­gend­ei­nem Agen­ten aus dem In­nern) her­ein­ge­scho­ben wur­de, zeig­te er höf­li­che Ab­leh­nung. ›Das Stöh­nen die­ses kran­ken In­di­vi­du­ums lenkt mei­ne Auf­merk­sam­keit ab. Und oh­ne­dies ist es in die­sem Kli­ma un­end­lich schwie­rig, Re­chen­feh­ler zu ver­mei­den.‹

Ei­nes Ta­ges be­merk­te er, ohne den Kopf zu he­ben: ›Im In­nern wer­den Sie zwei­fel­los auch Herrn Kurtz tref­fen!‹ Auf mei­ne Fra­ge, wer Herr Kurtz sei, mein­te er, er sei ein ganz erst­klas­si­ger Agent; und an­ge­sichts mei­ner Ent­täu­schung über die­se Aus­kunft füg­te er lang­sam, wäh­rend er sei­ne Fe­der hin­leg­te, hin­zu: ›Er ist eine au­ßer­ge­wöhn­li­che Per­sön­lich­keit.‹ Durch wei­te­re Fra­gen brach­te ich aus ihm her­aus, dass Herr Kurtz au­gen­blick­lich an der Spit­ze ei­ner Nie­der­las­sung stän­de, und zwar ei­ner äu­ßerst wich­ti­gen im wah­ren El­fen­bein­land, ›mit­ten im Speck‹. ›Schickt al­lein so viel El­fen­bein her­ein wie alle die an­de­ren zu­sam­men …‹ Er mach­te sich wie­der ans Schrei­ben. Dem Kran­ken ging es zu schlecht, als dass er noch hät­te stöh­nen kön­nen. Die großen Flie­gen surr­ten un­ge­stört.

Plötz­lich gab es ein wach­sen­des Stim­men­ge­summ und großes Fuß­ge­tram­pel. Eine Ka­ra­wa­ne war her­ein­ge­kom­men. Ein wüs­tes Durchein­an­der un­ge­fü­ger Lau­te brach jen­seits der Plan­ken­wand los. Alle die Trä­ger spra­chen auf ein­mal, und in­mit­ten des Aufruhrs hör­te man die kläg­li­che Stim­me des Haupt­agen­ten, der es in Jam­mer­tö­nen ›auf­gab‹, zum zwan­zigs­ten Male an je­nem Tage … Der Buch­hal­ter stand lang­sam auf. ›Was für ein schau­er­li­cher Lär­m‹, sag­te er. Er über­quer­te lei­se das Zim­mer, um nach dem Kran­ken zu se­hen, und sag­te mir beim Zu­rück­kom­men: ›Er hört nichts!‹ – ›Was! Tot?‹ frag­te ich be­stürzt. ›Nein, noch nicht‹, ant­wor­te­te er mit größ­ter See­len­ru­he. Dann wies er mit ei­ner Kopf­be­we­gung auf das Ge­tö­se im Sta­ti­ons­gar­ten und mein­te: ›Wenn man rich­ti­ge Ein­tra­gun­gen zu ma­chen hat, dann fängt man an, die­se Wil­den zu has­sen – sie bis auf den Tod zu has­sen.‹ Er blieb einen Au­gen­blick nach­denk­lich und fuhr dann fort: ›Wenn Sie Herrn Kurtz se­hen, rich­ten Sie ihm von mir aus, dass al­les hier‹ – dies mit ei­nem Blick über den Tisch weg – ›zu al­ler Zufrie­den­heit ver­läuft. Ich möch­te ihm nicht ger­ne schrei­ben – denn bei den Bo­ten, die wir hier ha­ben, weiß man nie, wer dort auf der Sta­ti­on den Brief in die Hän­de be­kommt.‹ Er starr­te mich eine Wei­le aus sei­nen mil­den, vor­quel­len­den Au­gen an. ›Oh, er wird es weit, sehr weit brin­gen‹, be­gann er dann wie­der. ›Er wird in nicht all­zu lan­ger Zeit in der Ver­wal­tung sein Wört­lein mit­zu­re­den ha­ben. Die dort oben – der Auf­sichts­rat in Eu­ro­pa, Sie ver­ste­hen schon – ha­ben man­ches mit ihm vor.‹

Er wen­de­te sich wie­der sei­ner Ar­beit zu. Der Lärm drau­ßen hat­te auf­ge­hört, und als ich nun hin­aus­ging, blieb ich an der Tür ste­hen. Mit­ten in dem ste­ti­gen Flie­gen­ge­summ lag der nach Eu­ro­pa be­stimm­te Agent be­wusst­los, mit ro­tem Ge­sicht; der an­de­re, über sei­ne Bü­cher ge­beugt, trug ein­wand­freie Ge­schäf­te ein­wand­frei in sei­ne Bü­cher ein; und fünf­zig Fuß un­ter­halb der Schwel­le konn­te ich die stil­len Baum­wip­fel des To­ten­hai­nes se­hen.

Am nächs­ten Tag ver­ließ ich end­lich an der Spit­ze ei­ner Ka­ra­wa­ne von sech­zig Mann die Sta­ti­on, zu ei­nem Marsch von zwan­zig Mei­len.

Бесплатный фрагмент закончился. Хотите читать дальше?
Купите 3 книги одновременно и выберите четвёртую в подарок!

Чтобы воспользоваться акцией, добавьте нужные книги в корзину. Сделать это можно на странице каждой книги, либо в общем списке:

  1. Нажмите на многоточие
    рядом с книгой
  2. Выберите пункт
    «Добавить в корзину»