Sein letzter Zug

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Und gefunden.

Hast diesen Dieb eingespannt. Hm. Gute Arbeit!

Danke! Und jetzt schau her!

Um 1348 Ein Dorf zwischen Straßburg und Köln zur Zeit der großen Pestseuche

»Es ist mir eine Freude«, sagte der vornehm gekleidete Herr, »dass Ihr bereit seid, mir die Wartezeit mit einem Schachspiel zu vertreiben … äh … Fräulein …«

»Theresa.«

»Fräulein Theresa. Bereit und fähig. Das muss betont werden, denn nicht viele Damen beherrschen dieses königliche Spiel. Achtet auf Euren Turm, Fräulein Theresa!«

»Oh ja, danke! Ich bin nicht sehr geübt in diesem Spiel, wie Ihr sicher schon bemerkt habt. Es hat kaum mal jemand Zeit, mit mir zu spielen.«

»Dafür beherrscht Ihr es aber recht ordentlich.«

»Ich danke Euch.«

Die beiden saßen nebeneinander auf einem kniehohen Holzstapel, das Spielbrett zwischen sich. Links war die Werkstatt des Wagners und rechts stand die Kutsche. Alles Gepäck, das oben auf dem Dach festgeschnallt gewesen war, stand nun auf dem Boden. Die Kutsche war mithilfe von Balken aufgebockt, das rechte Hinterrad war abgenommen worden und lag daneben.

»Kaltenbacher!«, rief der Mann.

Sein junger Kutscher, der sich mit den ausgespannten braunen Pferden beschäftigt hatte, schaute herüber.

»Herr?«

»Was machst du da? Die Pferde sind genug gestriegelt! Ich nehme an, dass wir hier übernachten müssen. Bring unser Gepäck in den Gasthof! Es gibt doch hier einen Gasthof, Fräulein Theresa?«

»Ja, etwa vier- oder fünfhundert Schritte die Straße hinauf«, antwortete das Mädchen.

»Mit einem Nachtlager ohne Läuse?«

»Dafür kann ich nicht meine Hand ins Feuer legen, mein Herr.«

»Nun, wenn es nicht anders geht …« Er wandte sich wieder an seinen Kutscher: »Bring mein Gepäck hin und bestelle ein Nachtlager für mich. Du kannst in der Kutsche schlafen.«

»Die große Kiste kann ich nicht allein tragen, Herr.«

Theresa mischte sich ein. »Unser Geselle kann helfen. Bartholomäus!«, rief sie.

Ein junger Mann kam aus der Werkstatt. Er war groß, blickte ein wenig finster und wischte sich die Hände an seiner ledernen Arbeitsschürze ab. »Was ist, Theresa?«

»Hilf doch mal eben dem Mann, die Kiste zum Gasthof zu tragen. Darf ich vorstellen: Unser Geselle Bartholomäus Aumann. Vor zwei Wochen war er noch der Lehrjunge, aber jetzt ist er Geselle.«

Der Kutscher kam heran.

»Mein Name ist Jörg. Jörg Kaltenbacher. Danke, wenn du mir helfen willst.«

»Mache ich doch gern.« Sein Gesichtsausdruck unterstrich die Worte nicht unbedingt.

Der Vornehme sagte: »Nimm die Pferde mit! Du kannst sie dort vermutlich unterstellen.«

»Dann brauche ich Geld für Hafer, Herr. Die Übernachtung lassen sich die Wirte oft erst am nächsten Morgen bezahlen. Aber ich fürchte, für Hafer …«

»Hier!« Der Herr warf ihm ein Geldstück zu.

Theresa meinte: »Verzeiht, Herr, aber das wird nicht reichen.«

Und der Junggeselle ergänzte: »Es ist alles furchtbar teuer geworden. Die Ernten in den letzten Jahren …«

»Wem sagst du das!«, knurrte der Mann und warf noch ein zweites Geldstück hinterher, das Jörg Kaltenbacher geschickt auffing. Dann machten sich die beiden mit der Kiste und den Pferden auf den Weg.

»Wer war am Zug?«, fragte der Vornehme.

»Ihr, Herr.«

Sie spielten einige Zeit weiter. Der Mann wippte nervös mit dem Fuß, der in einem kostbaren Schuh steckte, wenn seine Partnerin für sein Empfinden zu lange vor jedem Zug überlegte.

»Wie weit ist es denn zu dem Schmied, bei dem Euer Herr Vater das zerbrochene Teil neu machen lassen will?«

»Nicht weit. Ein paar Meilen. Aber vielleicht hatte er gerade eine andere wichtige Arbeit zu tun, die er nicht unterbrechen konnte, weil das Eisen gerade heiß war. Oder er ist unterwegs, um irgendwo Hufeisen …«

»Wichtig, wichtig! Meine Sache ist auch wichtig. Ich habe es sehr eilig.«

Theresa zuckte nur die Achseln und bedrohte mit ihrem Läufer den Springer ihres Gegenübers.

»Darf ich Euch mal etwas fragen, Herr?«

»Bitte. Aber erst, wenn ich meinen Springer in Sicherheit gebracht habe.«

»Woher kommt Ihr, und wohin seid Ihr unterwegs?«

»Ich komme aus Straßburg und bin auf dem Weg nach Köln, zu einem Geschäftspartner.«

»Aber Ihr seid nicht als Händler unterwegs. Ihr habt keine Handelsware in Eurer Kutsche.« Sie lächelte ihn an. »Soweit man sehen kann.«

»Ein wenig neugierig, mein Fräulein, wie?«

Für einige Zeit schwiegen beide. Dann schien sich der Kaufmann dazu durchgerungen zu haben, eine Antwort zu geben. »Ich bin auf der Flucht.«

»Ach – ist ein Feind hinter Euch her?«

»Warum sollte ich‘s Euch nicht sagen, Theresa. Der Feind heißt Pest.«

»Die Pest? Ich habe davon gehört. Aber Genaues weiß ich nicht darüber. Nur, dass es schrecklich sein muss. Wenn Durchreisende davon berichten, sieht man die Furcht in ihren Augen und hört das Zittern in ihren Stimmen. Sehr viele sollen schon an dieser schrecklichen Krankheit gestorben sein.«

»So ist es. Sie kommt von Süden. Wenn sie über eine Stadt herfällt, gibt es kaum eine Möglichkeit, vor ihr geschützt zu bleiben. Darum fliehe ich nach Norden. Vielleicht hört diese Gottesgeißel auf, ehe sie Köln erreicht.«

Theresa blickte ihn mit großen Augen an.

»Dann kann es auch uns treffen!«

»Das ist gut möglich.«

»Aber wir können nicht fliehen.«

»Nein, viele können nicht fliehen. Aber soll ich, der ich die Möglichkeit habe, darauf verzichten? Nur weil andere die Möglichkeit nicht haben? Ihr seid wohl an diesen Ort gebunden. Und es bleibt Euch nur, Euch der Barmherzigkeit des Allmächtigen anzubefehlen. Aber ich bin ja ohnehin viel unterwegs. Fernreisen sind für mich nichts Ungewöhnliches.«

»Ihr müsst Euch nicht für Eure Flucht rechtfertigen, Herr.«

»Warum sollte ich in Straßburg bleiben und mich damit in Gefahr bringen? Die Leute sagen, man solle da bleiben, wo Gott einen hingestellt habe. Aber das ist doch Unsinn! Der Papst sollte auch in Rom sein, aber er lebt in Frankreich. Und unser deutscher Kaiser sollte in Deutschland sein, aber er lebt in Böhmen, in Prag. Warum sollten alle …«

Er hielt inne und machte eine heftige Bewegung mit der Hand. »Genug davon! Verzeiht meine Erregung! Ihr macht mir ja auch keinen Vorwurf. Spielen wir weiter! Bin ich am Zug?«

»Nein, ich.«

Theresa musste einen Bauern opfern, um die Dame zu retten. Zurückziehen wollte sie die Dame nicht, weil die in ihrem Plan noch eine wichtige Rolle spielen sollte. Es ist wie bei der Pest – fliehen oder Opfer bringen, dachte sie.

»Warum kommt so eine Krankheit von Süden und breitet sich nach Norden aus?«

»Was da geschieht, wissen die Ärzte auch nicht. Man spricht von giftigen Dämpfen. Es ist nur bekannt, dass die Pest in den Häfen von Marseille und Genua angefangen hat. Wahrscheinlich kam sie mit Schiffen vom Schwarzen Meer. Das war im vorigen Jahr, anno domini 1347 nach der Geburt des Herrn.«

»Und bis wohin ist sie bis heute gekommen?«

»Das kann ich nicht genau sagen. Es gibt ja auch keine scharfe Grenze wie am Meeresufer, wo man sagen kann: Hier ist Wasser und hier ist Land.«

»Schon gut! Wenn Ihr mir eine Grenze nennen könntet, würde mir das auch nicht viel sagen, da meine Vorstellung von den deutschen Landen begrenzt ist. Es interessierte mich nur, wie weit die Pest von uns entfernt ist.«

»Ich fürchte, Fräulein Theresa, jetzt habt Ihr vor lauter Aufregung über die Pest vergessen, was Ihr mit Eurer Dame anfangen wolltet.«

»Oh – Ihr habt Recht. Und Ihr habt offenbar meinen Plan durchschaut. Ich muss aufgeben.«

»Nein, nein! Man gibt erst auf, wenn alles verloren ist.«

Theresa überlegte eine Weile und entschloss sich zu einem Verlegenheitszug, der weder nutzen noch schaden konnte.

»Ah – der Meister kommt zurück!«

Theresas Vater trat zu ihnen. »Ich muss Euch enttäuschen, mein Herr. Die Reparatur wird länger dauern als angenommen.«

»Kann der Schmied das Teil nicht fertigen?«

»Nein. Er ist krank.«

Erschrocken blickte der Kaufmann auf. »Hat er etwa …« Er sprach nicht weiter. Theresa ergänzte: »Die Pest?«

Der Wagner nickte. »Es sieht so aus.«

»Ich muss weiter! Unbedingt! Schnell!«

»Es gibt einen Schmied im nächsten Dorf. Er arbeitet auch gut. Ich habe mir schon einige Male bei ihm Radreifen machen lassen. Aber es ist über eine Stunde Fußweg. Und ob er sich sofort an die Arbeit an unserem Achslager machen kann, weiß ich nicht. Auf keinen Fall könnt Ihr, selbst wenn alles gut geht, vor morgen Abend weiterreisen.«

»Das geht nicht! Das dauert zu lange! Wenn die Pest schon hier …«

Die zwei jungen Männer, die beim Gasthof gewesen waren, kamen eben heran.

»Kaltenbacher!«

»Ja, Herr?«, meldete sich der Kutscher.

»Wir müssen unseren Plan ändern. Die Reparatur dauert länger. Ich muss aber weiter. Ich … wir … ach, Meister, kann man hier ein Reitpferd kaufen?«

»Es gibt nicht wenige Bauern, die Euch gern ihr Pferd verkaufen, weil sie es in diesen Notzeiten kaum durchbringen können. Aber das sind alles keine Reitpferde. Schwere Ackergäule sind es.«

»Dann machen wir es so: Ich besorge mir Sattelzeug und nehme eines von den Kutschpferden. Kaltenbacher, du bleibst hier, bis unsere Kutsche fertig ist. Inzwischen versuchst du, ein Pferd zu kaufen. Geld lasse ich dir da. Dann kommst du nach Köln. Du weißt ja, wo mein Geschäftsfreund Klausner wohnt.«

 

***

Am nächsten Tag saßen Jörg Kaltenbacher, der Kutscher, und Bartholomäus Aumann, der Wagnergeselle, in der Küche am Tisch, während Theresa Milch auf dem Herd erwärmte. Sie versah den Dienst in der Küche, seit ihre Mutter vor drei Jahren gestorben war.

»Ich war heute früh im Gasthof«, berichtete der Kutscher. »Mein Herr war schon fort. Er hat mir durch den Wirt berichten lassen, er habe jemanden gefunden, der ihn ein Stück mitnehmen könne. Die Pferde sind noch beide da.«

»Hat‘s anscheinend ziemlich eilig, dein Herr.«

»Er redet nicht darüber, aber ich glaube, er wollte aus Straßburg fliehen, ehe die Pest dorthin kommt.«

Theresa stellte die Milch auf den Tisch. »Wo Vater bleibt! Um diese Zeit! Ich sehe mal nach.«

Die beiden jungen Männer schnitten sich dicke Brotscheiben ab und strichen Gänseschmalz darauf, dicker als sie es getan hätten, wenn Theresa dabei gewesen wäre.

Die stand plötzlich im Türrahmen, bleich im Gesicht, und sagte nichts.

»Was ist?«, fragte Bartholomäus.

»Ist was?«, erkundigte sich Jörg.

Einige weitere Augenblicke vergingen, ehe der Junggeselle nachforschte: »Ist er krank? Doch nicht etwa …?«

»Pest«, hauchte Theresa.

Jörg, der Kutscher, sprang auf. »Bist du sicher? Woran erkennst du es? Ich habe einige Pestkranke gesehen und viel darüber gehört. Soll ich mal mitkommen?«

Da die Tochter des Hauses nicht antwortete, ging er an ihr vorbei und stieg die Treppe hinauf. Oben sah er sich um, weil er nicht wusste, welche Tür er öffnen musste. Inzwischen kam aber auch der Geselle nach, der etwas träge war, und Theresa folgte. Bartholomäus öffnete eine Tür, ging aber nicht hinein. Jörg trat vorsichtig über die Schwelle.

Der Meister lag im Bett und blickte an die Decke, wendete sich auch den drei jungen Leuten nicht zu, als sie vorsichtig nähertraten.

»Kommt mir nicht zu nah! Ihr dürft euch nicht anstecken!«, sagte er leise mit rauer Stimme.

Theresas Stimme war auch belegt, als sie sagte: »Dieser Kutscher, der Jörg Kaltenbacher … er kommt aus dem Süden, wo die Pest wütet …« Sie wusste nicht weiter.

Jörg ergänzte: »Ich traue mir zu, unterscheiden zu können, ob Ihr diese Krankheit habt oder nicht, Meister. Habt Ihr Geschwüre am Körper?«

»Knoten. Beulen. Hauptsächlich hier unter den Armen.«

Der Kutscher sah Theresa an und nickte nur.

Nach einer Weile entsetzten und verlegenen Schweigens ergriff der Kranke wieder das Wort. »Bartholomäus!«

»Ja, Meister?«

»Du traust dir doch zu, die Kutsche fertigzumachen?«

»Selbstverständlich, Meister.«

»Mach es ordentlich! Ich will nicht, dass alles den Bach runtergeht, wenn ich mal ausfalle.«

Bartholomäus nickte, obwohl der Kranke das nicht sehen konnte, weil er weiter nur an die Zimmerdecke starrte.

»Dann geht an die Arbeit! Theresa, mit dir will ich noch sprechen.«

Die Männer gingen, bedrückt zwar, aber wenigstens etwas erleichtert, dass sie die Krankenstube verlassen konnten.

Als Theresa mit ihrem Vater allein war, sagte der leise: »Es sieht so aus, als müsste ich dich verlassen, meine Tochter.«

»Ach, Papa …«

»Tu mir den Gefallen, und bitte den Priester zu mir. Er wird in diesen Tagen viel zu tun haben. Die Frau des Schmieds hat mir von fünf Personen erzählt, die außer ihrem Mann erkrankt sind. Allein die, von denen sie weiß.«

Er machte eine Pause und wandte sich nun doch seiner Tochter zu.

»Es kann dich auch treffen, mein Kind.«

Sie konnte die Tränen nicht zurückhalten und wollte näher herantreten. Aber ihr Vater hob den Arm, die Handfläche zu ihr hin. Da blieb sie stehen.

»Ich bin bereit, zu gehen. Dahin, wo meine Luise schon ist. Aber du sollst noch bleiben. Das ist mein letzter Wunsch, den ich dem Herrgott sage. Und sollte mein Wunsch und Gebet erhört werden … Ich habe eine letzte Bitte an dich, mein Kind.«

»Sag mir, was ich tun kann!«

»Heirate Bartholomäus! Und führt gemeinsam meine Werkstatt weiter!«

»Aber … heiraten? Ich … ich weiß nicht, ob meine Zuneigung dafür reicht, Vater.«

»Sie wird wachsen und dann reichen. Bitte, Theresa, schwöre es mir!«

»Aber … ich weiß doch gar nicht, ob er das will! Er müsste mich doch bitten, und nicht ich ihn.«

»Das wird er tun. Ganz bestimmt. Und nun schwöre es!«

»Ich kann nicht, Vater!«

»Erfülle deinem sterbenden Vater den letzten Wunsch! Bitte!«

Theresa senkte den Blick. Ihre Augen schwammen in Tränen. Leise sagte sie: »Ich schwöre es.«

***

Zwei Tage später half Jörg dem Gesellen. Er hebelte die Kutsche mit einem Balken hoch, sodass Bartholomäus die untergelegten Hölzer herausziehen konnte. Nun stand das Gefährt wieder auf vier Rädern. Jörg schirrte die Pferde an, die er schon aus dem Stall des Gasthofs geholt hatte. Er schnalzte mit der Zunge und ließ die Kutsche im Kreis fahren. Dann hielt er an, rüttelte am rechten Hinterrad, und warf einen kontrollierenden Blick auf die Achse.

»Alles fest.«

»Was denkst du denn? Klar ist alles in Ordnung.«

»Dann mache ich mich auch gleich auf den Weg. Reichst du mir das Gepäck an?« Er kletterte auf das Dach und verstaute die Kisten und Körbe, die Bartholomäus hoch wuchtete. Bei der großen Kiste musste Jörg sich hinunterbeugen und mitziehen. Als alles mit Stricken gesichert war, sprang er herunter.

»Wo ist Theresa? Ich will mich verabschieden.«

»Sie wird bei ihrem Vater sein.«

»Dann grüße sie von mir! Und den Meister auch. Ich wünsche ihnen alles Gute. Und dir natürlich auch.«

Sie reichten sich die Hände und Jörg stieg auf den Bock. Ein kurzes Schlagen mit den Zügeln – dann zogen die Pferde an.

Vor der Biegung der Straße wandte er sich noch einmal um und hob grüßend die Hand. Bartholomäus stand still da und schaute ihm nach, ohne den Gruß zu erwidern. Er wird mich beneiden, dachte Jörg, dass ich der Pest den Rücken kehren kann, und er bleiben muss.

Es war noch früh am Tag. Die Sonne stand erst eine Handbreit über dem Horizont. Die Straße führte durch Felder und Wiesen, über denen eine Lerche trällerte, ganz unbekümmert von dem Verderben, das die Menschen traf. Einige Zeit schwankte die Gemütslage des jungen Kutschers. Dann aber löste sich seine Seele von dem Elend hinter ihm, wie er sich ja nun auch räumlich davon entfernte, und er wurde frei, sich mit den Vögeln an der sonnigen Welt zu freuen.

»Jörg!«

Wer rief denn da? Der Kutscher sah sich um – da war niemand. Auf den Feldern wurde nicht gearbeitet, und vor und hinter ihm auf der holprigen Straße war auch kein Mensch.

»Jörg! Halte doch mal an!« Das war Theresas Stimme.

»Brrr!«

Die Kutsche stand. Die seitliche Tür öffnete sich, und Theresa stieg aus. Sie schaute verlegen.

»Nimmst du mich mit? Bitte!«

»Theresa!« Mehr wusste Jörg im ersten Moment nicht zu sagen.

»Ich will weg. Ich will nicht an der Pest sterben! Das verstehst du doch, oder?«

»Ja, sicher verstehe ich das. Aber … aber …«

»Ich weiß. Es ist nicht recht, dass ich meinen Vater allein lasse. Das sollte eine Tochter nicht tun. Ich … ich habe auch keine Entschuldigung dafür. Außer der Angst. Außer dem Wunsch, zu leben. Gestern Abend sagte mir die Nachbarin, dass fast jeder zweite im Dorf krank ist. Es wäre doch nur eine Frage der Zeit, bis es mich auch getroffen hätte.«

»Trotzdem …«

»Sag es nicht! Ich weiß, was du sagen willst. Ich weiß auch, dass ich mich schuldig mache. Die Schuld ist sogar noch größer, als du weißt, weil ich geschworen habe … Ich will nicht darüber sprechen!«

»Ich verurteile dich doch gar nicht, Theresa!«

»Nicht? Ehrlich?«

»Ich finde, dass du überlebst und vielleicht noch drei oder vier oder noch mehr Jahrzehnte vor dir hast, das ist ein höheres Gut als der Trost für deinen Vater, wenn du noch die letzten zwei oder drei Tage bei ihm geblieben wärst.«

»Meinst du?«

»Meine ich!«

»Nimmst du mich mit?«

»Natürlich! Komm mit auf den Kutschbock, dann bin ich nicht so alleine. Und du auch nicht. Wo hast du dich denn versteckt?«

»Unter den kostbaren Mänteln deines Herrn. Ich musste mich sehr zusammenkrümmen, und die Beine sind mir eingeschlafen.«

»Aber jetzt sind sie wieder wach, oder? Soll ich dir heraufhelfen?« Er reichte ihr die Hand.

Dann saßen sie nebeneinander. Jörg ließ die Pferde leicht traben. Sie sahen sich um, genossen die Aussicht, die Fahrt und die Sonne, vergaßen – wenigstens immer wieder mal für einige Minuten – was hinter ihnen lag, und waren sich der Nähe des jeweils anderen bewusst.

***

Obwohl es sowieso dunkel war in diesem hölzernen Kasten, schloss Theresa die nassen Augen, wodurch der Tränenstrom aber nicht versiegte.

»In nomine patris, et filii, et spiritus sancti«, murmelte der Priester hinter dem Gitter.

»Du musst schon sagen, was du zu sagen hast, meine Tochter! Weinen reicht nicht.«

Als er nur Schluchzen und Gemurmel hörte, fuhr er fort: »Sprich lauter, mein Kind! Und deutlich bitte, damit ich dich verstehe!«

Theresa riss sich zusammen. »Ich habe Schuld auf mich geladen, Pater.«

»Dachte ich mir. Du bist ja sicher hier, um sie loszuwerden. Welche Schuld? Nur Mut, meine Tochter!«

»Es sind drei Sünden, Pater.«

»Drei Sünden? Wenn es dich tröstet: Es gibt Menschen, die haben mehr zu beichten. Drei Sünden, das kann wenig sein, es kann aber auch viel sein. Beginnen wir mit der Sünde Nummer eins.«

»Ja. Also in meinem Heimatort ist die Pest ausgebrochen. Auch mein Vater ist krank geworden. Und viele andere. Ich aber nicht. Ich bin geflohen. Ich habe meinen Vater auf seinem Sterbelager allein gelassen. Ihr müsst dazu wissen, er hatte nur mich, weil meine Mutter nicht mehr lebt.«

»Das war nicht gut! Ist er inzwischen gestorben?«

»Das weiß ich nicht.«

»Hm. Du hast dich nicht erkundigt?«

»Nein, Pater. Ich weiß, das ist …«

»Nun, was meinst du, was es ist?«

»Eine Sünde.«

»Richtig. Du hast gegen das Gebot gehandelt, Vater und Mutter zu ehren. Außerdem gegen das Gebot der Liebe.«

»Ich weiß, Pater.«

»Und die zweite Sünde?«

»Ich habe einen Eid gebrochen.«

»Und zwar? Ich höre.«

»Ich habe meinem Vater geschworen, auf seinen letzten Wunsch hin, dass ich unseren Gesellen heirate.«

»Und dazu kam es nicht, weil du geflohen bist?«

»Ja. Weil ich Angst hatte und am Leben bleiben wollte. Außerdem – aber das ist nicht der Hauptgrund – ich mag Bartholomäus nicht besonders. Unseren Gesellen.«

»So. Aha. Und die dritte Sünde?«

»Meine Flucht war leicht möglich, weil eine Kutsche von uns aus hierher nach Köln fuhr. Der Kutscher hat mich mitgenommen. Er ist ein sehr netter junger Mann. Wir waren ja die ganze Reise über zusammen. Und haben uns dabei gut kennen gelernt. Ihr müsst wissen, Pater, ich war sehr durcheinander durch all die Erlebnisse und brauchte Trost. Es war niemand sonst da, der …«

»Mein Kind, eine Beichte ist nicht der Platz für Verteidigungsreden. Wenn du noch ein paar weitere Entschuldigungen findest, hast du dir selbst vergeben und brauchst die Vergebung Gottes nicht mehr. Also sage mir einfach und klar, was geschehen ist!«

»Ich bekomme ein Kind von ihm.«

Als der Mann hinter dem Gitter eine Weile schwieg, fragte Theresa zaghaft: »Seid Ihr jetzt sehr entsetzt, Pater?«

»Es kommt nicht darauf an, wie ich darüber denke, sondern wie Gott darüber denkt.«

Nach einigen Augenblicken fuhr er fort: »Ich lege dir eine Buße auf. Sie muss der Größe deiner Schuld angemessen sein, damit dir bewusst ist, welches Geschenk die Absolution ist.«

»Ja, Pater. Ich nehme alles an, was Ihr mir auferlegt.«

»Weil deine erste Sünde mit der Pestangst verbunden ist, und weil die dritte Sünde auch nach einer schweren Buße verlangt, sollst du in einem Kloster, das Pestkranke aufnimmt, bei der Pflege helfen. Für die zweite Sünde ist keine Buße nötig, wenn du, sobald deine Arbeit im Hospital nicht mehr gebraucht wird und du gesund geblieben bist, nach Hause gehst und euren Gesellen heiratest. Wenn du also deinen Schwur verspätet erfüllst. Wirst du das tun?«

Schlucken. Pause. »Ja, Pater.«

»Dann spreche ich dir zu in nomine patris …«

***

 

»Jörg Kaltenbacher ist unterwegs. Er bringt seinen Herrn nach Neuss. Er wird aber heute Abend zurück erwartet.« Der Mann schaute Theresa etwas abweisend an. Dann wandte er seinen Blick wieder den Männern zu, die über einen schmalen Steg vom Ufer aus auf das Rheinschiff balancierten und mit Säcken auf den Schultern wieder zurückkamen.

»Ist noch etwas?« Er wandte sich Theresa wieder zu.

»Äh – kann ich nicht auf ihn warten?«

»Meinetwegen. Aber nicht hier. Warte da vorn am Tor!«

Als die junge Frau ging, rief er ihr nach: »Was willst du denn von dem Kutscher?«

»Ich will nur … also … er hat mich mitgenommen, als er hierher kam. In seiner Kutsche.«

»Ja, und?«

»Ich will mich dafür bei ihm bedanken.«

»Jetzt erst? Das ist doch schon ein halbes Jahr her.«

»Ja«, sagte Theresa nur.

Der Mann rief den Schauerleuten zu: »Werft die Säcke nicht so!« Als er sich wieder umdrehte, war Theresa schon außer Sicht. »Na«, murmelte er vor sich hin, »ein Mädchen mit einem dicken Bauch – da wird‘s wohl nicht nur um eine Bedankung gehen.«

Theresa ging ungeduldig am Rheinufer auf und ab. Es war kühl und der Himmel hing voller grauer Wolken. Die Luft war erfüllt von vielerlei Gerüchen und Geräuschen. Männer riefen Befehle, Pferdehufe klapperten über das Pflaster, ein merkwürdiges Gerät, das Theresa noch nie gesehen hatte, quietschte durchdringend. Das war immer dann zu hören, wenn die Männer in dem großen Rad nach vorn gingen, damit es sich durch ihr Gewicht drehte. Dadurch wurde ein Seil auf eine Trommel gewickelt, an dem an einem weit ausladenden Balkenwerk eine Last hing.

Später setzte sie sich auf einen der Steine, an denen die Rheinschiffer ihre Boote fest machten. Sie nahm das Brot aus ihrem Gepäck, das ihr die Oberin mitgegeben hatte, und aß. Ungeduldig schaute sie immer wieder auf die Straße nach Norden.

Endlich kam die Kutsche. Als sie nahe genug war, konnte Theresa Jörg auf dem Kutschbock erkennen.

»Jörg!«

»Theresa, du?«

»Kann ich mal mit dir sprechen?«

Ohne anzuhalten rief er herunter: »Eine gute Idee! Ich hatte die Idee auch schon öfter, aber ich wusste nicht, wo du warst.«

»Ja«, sagte sie nur, neben der Kutsche her laufend.

»Ich kann jetzt nicht. Aber wenn du hier wartest, komme ich heute Abend. Kurz nach Sonnenuntergang.«

»Gut, ich warte.«

Es wurde unangenehm kalt, aber Theresa wartete. Gelegentlich ging sie einige hundert Schritte auf und ab.

Es dämmerte. Mit dem Tageslicht verschwanden auch die vielen Geräusche. Die Arbeiter, die Schiffe entladen und beladen hatten, verzogen sich nach Hause oder in eine der Gaststätten.

Ein Boot, das von Süden kam, legte an. Zwei Stadtbüttel gingen mit Laternen und Hellebarden auf die Anlegestelle zu.

»Wer seid ihr? Woher kommt ihr?«

»Von der Mosel«, antwortete jemand auf dem Boot. »Wir bringen Weinfässer.«

»Ihr müsst an Bord bleiben. Morgen kommen Männer und holen die Fässer. Strenge Anordnung des Stadtrates und des Bischofs.«

»Aber in unserem Ort ist niemand an der Pest erkrankt.«

»Das mag stimmen oder auch nicht. Ich kann es nicht kontrollieren. Ihr dürft euren Fuß nicht an Land setzen.«

Die Leute auf dem Schiff knurrten etwas, fügten sich aber. Einer der Büttel blieb in der Nähe stehen, um zu kontrollieren, ob die Fremden sich auch an das Gebot hielten. Der andere ging weiter. Theresa hörte Schritte hinter sich und wandte sich um.

»Jörg!«

Er hielt seine Blendlaterne hoch.

»Du bist es wirklich, Theresa! Ich hatte schon gedacht …« Er hielt die Laterne näher zu ihr hin. »Du … erwartest ein Kind?«

»Wundert dich das, Jörg?«

Er schwieg einige Augenblicke. »Willst du damit sagen …?«

»Ja. Es ist dein Kind.«

»Theresa! Warum hast du mir das nicht früher gesagt?«

»Ich konnte nicht.«

»Hast dich überhaupt nicht gemeldet, seit ich dich damals hier abgesetzt habe! Wo warst du denn? Ich fürchtete schon, du wärst gestorben. An der Pest vielleicht, obwohl sie hier in Köln nicht wütet.«

»Das hätte auch leicht passieren können. Aber es ist mir nicht geglückt.«

»Was ist dir nicht geglückt?«

»An der Pest zu erkranken.«

»Was redest du für einen Unsinn! Mit so etwas scherzt man nicht!«

»Ich scherze ganz und gar nicht. Es ist mir bitter ernst.«

»Das musst du mir erklären. Aber lass uns in eine dieser Gaststätten gehen! Es ist kalt.«

Theresa blickte zu den erleuchteten Fenstern entlang der Straße, aus denen grölender Gesang, Gelächter und wütendes Geschrei drangen. »Besser nicht, Jörg.«

»Hast Recht, das ist kein Ort für eine junge Frau. Gehen wir etwas, um uns zu bewegen. Und dabei erzähle mir, wie es dir ergangen ist.«

Sie gingen dicht nebeneinander, berührten sich aber nicht.

»Ich habe gebeichtet. Alles. Von zu Hause und meiner Flucht. Und dann von uns.«

»Das mit uns – ich weiß, es war Sünde.«

»Der Priester hat mir eine Buße auferlegt. Ich sollte Pestkranke pflegen. Es gibt, wie du weißt, hier in Köln keine. Aber er schickte mich in ein Kloster in der Nähe.«

»Pestkranke? Das ist … eine harte Strafe! So etwas darf er nicht tun!«

»Red‘ keinen Unsinn, Jörg! Die Nonnen tun es doch auch. Und viele andere. Warum sollte ich es nicht tun? Zumal ich es zu Hause eigentlich auch hätte tun müssen. Außerdem wollte ich auch. Das Gewissen … ich weiß nicht, ob du mich verstehst.«

»Nein. Sag nur, du wolltest angesteckt werden, um dich selbst zu bestrafen!«

»So kann man es nicht sagen.«

»Wie dann?«

»Wenn ich mich angesteckt hätte, wäre das eine Strafe Gottes gewesen, die ich hingenommen hätte. Sie wäre gerecht gewesen. Und ich hätte das Gefühl gehabt: Wenn ich auf Erden gestraft bin, werde ich im Jüngsten Gericht vielleicht verschont.«

»Das ist völliger Unsinn, Theresa! Nein, nein, so darfst du nicht denken! Ich bin zwar kein Priester, aber das glaube ich nicht!«

»Aber nun bin ich ja nicht krank geworden.«

»Ein Wunder! Gott sei Dank!«

»Ich weiß nicht, ob es ein Wunder Gottes war. Wenn das stimmt – was soll ich dann davon halten? Hat der Allmächtige meine Buße nicht angenommen? Ich pflege die Kranken, bringe ihnen zu essen und zu trinken, füttere sie, wenn sie dafür keine Kraft mehr haben, wasche sie manchmal und helfe, wenn sie beerdigt werden. Aber ich stecke mich nicht an. Will Gott mein Opfer nicht? Das macht mir Angst, weil ich nicht weiß, was ich daraus schließen soll. Oder will er mir einfach nur Gutes tun? Aber warum? Ich habe es doch nicht verdient!«

Jörg schüttelte den Kopf. »Du stellst seltsame Überlegungen an, Theresa. Ich kann dir nicht folgen. Jeder wäre doch froh, wenn er in so einer Situation gesund bleibt.«

»Du kannst mir also auch nicht helfen? Oder raten?«

»Mein Rat ist: Bleibe hier und heirate mich!«

»Das hast du damals schon gesagt. Aber der Rat ist heute noch weniger richtig als damals.«

»Es ist kein Rat, es ist eine Bitte.«

»Die ich nicht erhören kann, das habe ich dir doch schon erklärt.«

»Du trägst mein Kind, darum …«

»Vielleicht ist das der Grund!« Theresa blieb stehen und sah ihn an.

»Der Grund, warum du mich nicht heiraten willst? Das verstehe ich nicht.«

»Nein, der Grund dafür, dass Gott mich vor der Pest verschont hat. Mich hätte er vielleicht krank werden und sterben lassen. Aber er will das unschuldige Kind bewahren.«

Jörg merkte, dass er mit Worten nicht wirklich zu Theresa durchdrang. Sie war in ihren Gedanken gefangen, die er nicht verstand, und die ihm abwegig vorkamen. Was sollte er tun? Er legte ihr die Hand auf die Schulter. Aber sie trat einen Schritt zur Seite und machte sich damit von ihm frei.

»Ich … ich gehe nach Hause und heirate Bartholomäus. Das habe ich geschworen. Ich habe viel zu viel Angst, meinen Schwur noch einmal zu brechen. Das musst du verstehen, Jörg!«

Er schüttelte nur den Kopf und sie schwiegen beide. Am Ende der Hafenmauer kehrten sie um und gingen wortlos zurück.

Endlich sagte Jörg: »Aber du kannst nicht allein nach Hause reisen. Es ist viel zu gefährlich. Ich könnte meinen Herrn fragen, ob er mir für ein paar Tage frei gibt. Dann begleite ich dich.«

»Du willst mich zu dem Mann bringen, der deine Stelle als Bräutigam einnehmen wird?«

»Ja. Und falls er inzwischen schon verheiratet ist oder dich nicht will, bin ich zur Stelle.«

»Nein, Jörg, das will ich nicht.«

»Und wenn er dich ablehnt, weil dein Kind nicht von ihm ist?«

»Ich denke, dann bin ich von meinem Eid entbunden. Aber das wird er nicht. Er wird mich mit Kind nehmen.«

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