Der grüne Bogenschütze

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10

Als Abel Bellamy feuerte, verschwand die Gestalt und schien sich plötzlich in dem dunklen Schatten aufzulösen. Abel eilte mit der Pistole in der Hand vorwärts, aber als er an die Stelle kam, wo er die grüne Erscheinung gesehen hatte, war nichts mehr zu entdecken. Er fand nur zwei Löcher in dem Paneel der Wand, wo die beiden Geschosse eingeschlagen waren.

Der alte Mann hielt schnell Umschau. In der Nähe der Stelle, wo die Gestalt verschwunden war, befand sich eine Tür. Dahinter lag eine Wendeltreppe, die zu den Quartieren der Dienstboten führte. Er versuchte die Tür zu öffnen, aber sie war geschlossen. Plötzlich kam ihm ein Gedanke. Schnell eilte er den Korridor zurück, an der offenen Tür seines eigenen Schlafzimmers vorbei, und kam zu Julius Savinis Schlafzimmer.

Die Tür war verschlossen und er rüttelte heftig daran.

»Savini!« rief er laut.

Aber es meldete sich nichts. Die Dienstboten waren munter geworden und er sah einen Mann, nur mit Hemd und Hose bekleidet, auf sich zukommen und rief ihn an.

»Was ist geschehen, mein Herr?«

»Fragen Sie nicht so dumm!« fuhr Bellamy ihn an. »Ziehen Sie sich an, wecken Sie die anderen Diener und helfen Sie mir das ganze Schloß zu durchsuchen. Telefonieren Sie nach unten zum Portier, aber schnell!«

In diesem Augenblick öffnete sich Savinis Tür. Er war im Schlafanzug und hielt verstört ein Licht in der Hand.

»Was –« begann er.

Bellamy stürzte an ihm vorbei in sein Zimmer und sah sich argwöhnisch darin um. Eins der langen Fenster stand offen, schnell ging er darauf zu und schaute hinaus. Ein schmaler Mauervorsprung lief unmittelbar unter dem Fenster der Mauer entlang, breit genug, daß ein Mann darauf gehen konnte, wenn er nur die nötigen Nerven besaß und schwindelfrei war.

»Haben Sie nicht die Schüsse gehört?«

»Ich habe etwas gehört, ich glaube, Sie waren es, als Sie an die Tür klopften. Was ist geschehen?«

»Ziehen Sie sich sofort um und kommen Sie hinunter in die Bibliothek!«

Plötzlich stürzte er auf ihn zu, ohne etwas zu sagen riß er Savinis Jacke auf und starrte auf die bloße Brust seines Sekretärs. Er fluchte vor Enttäuschung, denn er hatte erwartet, unter dem Schlafanzug ein enganliegendes, grünes Trikot zu sehen.

Savini kleidete sich eilig an und eilte nach unten, wo er Bellamy in der Bibliothek fand, der wie ein gefangener Löwe im Käfig auf und ab ging.

»Wer hat die Tür zur Dienertreppe abgeschlossen?« fragte er.

»Das habe ich getan. Sie haben mir Auftrag gegeben, danach zu sehen, daß die Tür jeden Abend verschlossen wird.«

Bellamy sah ihn scharf an.

»Und Sie haben natürlich den Schlüssel?«

»Nein, der Hausmeister. Er bekommt ihn stets, weil er früher auf ist als ich. Er muß die Tür öffnen, um die Mädchen hereinzulassen, die oben sauber machen.«

»Wo ist der Schlüssel jetzt?« fuhr ihn Bellamy wieder an. Er war rot vor Erregung und Zorn. Sein großes, starkes Kinn war vorgeschoben und die Augen zusammengekniffen. »Ich sage Ihnen das, Savini. Wenn Sie nicht irgendwie an diesem Grünen Bogenschützen beteiligt sind, dann irre ich mich gewaltig, aber ich irre mich selten. Holen Sie sofort Wilks.«

Julius ging sofort nach unten, um den Hausmeister zu holen, der ihm mit zwei Dienern im unteren Geschoß schon entgegenkam.

»Ich habe den Schlüssel in meiner Tasche,« sagte Wilks, als ihm Savini die Botschaft ausrichtete. »Der Eindringling kann nicht den Weg gegangen sein.«

Wilks trug eine helle Petroleumglühlampe, die ihm Bellamy aus der Hand nahm, als er in die Bibliothek kam. Der Alte ging nach oben zu seinem Schlafzimmer, und die anderen folgten ihm. Der Hausmeister öffnete die Tür zu der Wendeltreppe mit dem Schlüssel.

Bellamy nahm die Pistole aus der Tasche, ging mit der Lampe voraus und stieg vorsichtig die Treppe hinunter. Der Hausmeister und Savini kamen hinter ihm her. Sie gelangten unten an eine unverschlossene Tür, die in einen Nebenraum der Burgküche führte – es war ein gewölbtes Zimmer, das als Speisekammer benutzt wurde. Die beiden andern Türen dieses Raumes waren von innen verriegelt.

Mr. Bellamy stellte die Lampe auf den breiten Kaminsims, aber er konnte nichts Ungewöhnliches in dem Raum entdecken. »Hier ist er nicht durchgekommen,« murmelte er. »Aber trotzdem gab es keinen anderen Weg, den er benützt haben könnte.«

Das Frühlicht dämmerte schon am östlichen Himmel, als Bellamy endlich seine Nachforschungen einstellte. Er zog sich in seine Bibliothek zurück, kauerte vor dem frisch entzündeten Feuer im Kamin und trank heißen Kaffee, aber die nervöse Unruhe arbeitete noch in seinen Zügen, während Savini schweigend, ein wenig verwirrt, am Tisch saß und ihn beobachtete. Er unterdrückte ein Gähnen, aber Bellamy hatte es doch bemerkt.

»Es steckt irgend etwas hinter dieser Geschichte mit dem Grünen Bogenschützen,« sagte der alte Mann schließlich, indem er das Stillschweigen brach, das fast eine Stunde lang gedauert hatte. »Ein Geist! Pah! Ich glaube weder an Geister noch an Teufel. Es gibt nichts Überirdisches oder Unterirdisches auf Gottes Erde, das mir Furcht einflößen kann! Gegen Teufel und Gespenster bin ich besonders gewappnet, Savini! Der Kerl, der über Nacht hier eingebrochen ist, muß kugelfest sein, um davon zu kommen, wenn ich ihn erwische. Nun?« Er wandte sich schnell zur Tür.

Der Hausmeister, eine trotz der einfachen Kleidung achtunggebietende Erscheinung, trat ein.

»Ich habe mir noch einmal die Freiheit genommen und habe die Vorratskammer durchsucht, Mr. Bellamy. Dabei habe ich dieses gefunden.«

Bellamy stand auf und riß Wilks einen Gegenstand aus der Hand. Er sah aus wie ein kleiner roter Ball, aber als er ihn in die Hand genommen hatte, fand er, daß es ein blutdurchtränktes Taschentuch war. Bellamy zog die Augenbrauen hoch.

»So habe ich das Schwein doch getroffen!« sagte er triumphierend. »Können Gespenster bluten?« wandte er sich unwirsch an Savini. »Sagen Sie mir das, mein Freund!«

Er faltete das Taschentuch ganz auseinander.

»Ein Damentuch!« sagte er dann verblüfft.

Es war ein sehr hübsches Spitzentuch aus feinstem Batist. In der einen Ecke war ein Monogramm eingestickt. Er ging in die Nähe der Lampe, die auf dem Tisch stand.

»V. H.« sagte er und runzelte die Stirn wieder. »V. H.! Wer zum Teufel ist denn V. H.?«

Er sah Savini nicht an, sonst hätte er dessen entsetzten Blick bemerken müssen.

»V. H.! Valerie Howett!« durchzuckte es Savini.

11

An dem klaren, frostigen Morgen ging Mr. Bellamy langsam über die Rasenflächen des Parks zum Pförtnerhaus. Er war ein Mann, der sein Ruhebedürfnis ganz den besonderen Umständen anpassen konnte. Manchmal schlief er zwölf Stunden hintereinander, aber er konnte sich auch nach zwei Stunden Ruhe vollständig ausgeschlafen wieder erheben. Er ging zu dem Portierhaus, weil er niemals Fremde in der Burg selbst empfing. Leute, mit denen er etwas zu verhandeln hatte, wurden in ein geräumiges Zimmer des Portierhauses geführt, das besonders für diese Zwecke eingerichtet war.

Der mürrisch aussehende Pförtner legte die Hand an die Mütze, als sein Herr eintrat. Der Ortspolizist wartete hier auf Bellamy.

»Guten Morgen, mein Herr. Man hat mir erzählt, daß es während der Nacht Unruhe und Aufregung in der Burg gegeben hat.«

Bellamy grinste, daß seine weißen Zähne zu sehen waren.

»Sagen Sie mir doch nur, wer Ihnen das mitgeteilt hat und verlassen Sie sich darauf, daß der Betreffende Ihnen nichts mehr erzählen wird,« erwiderte Bellamy unhöflich.

Er fuhr mit der Hand in die Tasche und nahm eine Banknote heraus, die er auf den Tisch legte.

»Hier ist ein kleines Geschenk für Ihre Bemühungen. Vergessen Sie, was Sie da von dem Vorfall in der Burg gehört haben. Ich hatte einen bösen Traum und habe nach einem Schatten geschossen. Ich dachte, es wäre ein Einbrecher.«

»Ich verstehe vollkommen, mein Herr,« sagte der Polizist verbindlich. »Ich habe die Sache meinem Vorgesetzten noch nicht gemeldet.«

»Ist auch nicht nötig. Ich vermute, daß in diesem Dorfs nichts passiert, das Sie nicht wissen. Sind in letzter Zeit Fremde hier gewesen?«

Der durch das Geschenk sehr höfliche Polizist schaute Bellamy an und schnitt eine Grimasse, als ob er tief nachdächte.

»Ja, mein Herr, es sind ein oder zwei Leute hier gewesen. Es war auch eine Dame da, die Lady's Manor sehen wollte.«

»Lady's Manor?« fragte Bellamy schnell. »Ist das das alte Haus dort an der Straße?«

»Ja. Es gehört Lord Tetherton. Es ist sehr baufällig und es würde viel Geld kosten, es instandzusetzen. Deshalb ist es auch noch nie vermietet worden. Einige Teile des Hauses sind so alt wie diese Burg.«

»Wann kamen die Leute nach Garre?« fragte Bellamy scharf.

»Vor zwei Tagen. Es war eine sehr hübsche Dame, außerordentlich schön. Ich sah sie gerade noch, als sie wieder fortfuhr.«

»Können Sie mir vielleicht sagen, woher sie kam?«

»Von London, soviel ich weiß. Der Wagen hatte ein Londoner Schild, und ich glaube, daß sie auf dem Weg über Reading kam. Die Frau, die die Schlüssel von Lady's Manor aufbewahrt, sagte, daß sie von dem Hausagenten Solders hierhergeschickt wurde. Die Firma hat nämlich das Haus an Hand.«

»War sie allein?«

»Ich habe niemand in ihrer Begleitung gesehen.«

Bellamy ging in das Wohnzimmer des Pförtners, wo ein Telephonapparat angebracht war. Eine Minute später hatte er Verbindung mit dem Hausagenten.

 

Der Mann erinnerte sich genau an die näheren Umstände. Die Dame war von London gekommen, und er hatte ihr die Erlaubnis gegeben, das Haus zu besichtigen. Ihren Namen konnte er leider nicht angeben, er hatte nicht danach gefragt. Es war auch nicht seine Gewohnheit, Leute nach Einzelheiten zu fragen, die noch nicht bestimmt einen Vertrag abschließen wollten.

»Wenn sie Ihnen schreiben sollte oder wieder zu Ihrem Bureau kommt, so möchte ich gern ihre Personalien wissen,« sagte Mr. Bellamy und hing den Hörer wieder an.

Als es vollständig Tag geworden war, wurde die Vorratskammer genau untersucht. Bellamy hoffte eine Blutspur zu finden, die ihm irgendwie bei der Lösung des Rätsels Aufschlüsse geben konnte, aber er entdeckte nicht einen einzigen Flecken. Er sandte Savini nach Guildford, um genauere Erkundungen einzuziehen.

Im Augenblick war er so beschäftigt, daß er die unverantwortliche Einmischung seines Sekretärs in seine Privatangelegenheiten übersah. Das konnte warten.

Julius war nur zu froh, sich entfernen zu können. Er wollte sich selbst über einen Punkt Gewißheit verschaffen, und nachdem er seinen Auftrag in Guildford erledigt hatte, eilte er nach London und ging direkt zum Carlton-Hotel.

»Nein, ich glaube nicht,« antwortete der Hotelportier auf seine Frage. »Ich habe Miß Howett den ganzen Morgen noch nicht gesehen. Ich werde in ihrem Zimmer anläuten, um zu fragen, ob sie dort ist. Wünschen Sie die Dame zu sprechen?«

Julius zögerte einen Augenblick.

»Ja,« sagte er dann.

Er hatte sich zu einem kühnen und gefährlichen Schritt entschlossen. Während der Portier telephonierte, wartete er, und man konnte die Erregung deutlich in seinen Zügen sehen, als er der Unterhaltung am Apparat folgte.

»Es tut mir leid, Mr. Savini,« sagte der Portier, als er den Hörer wieder anhing. »Es ist nicht möglich, daß Sie Miß Howett sehen können. Sie hat sich gestern abend den Fuß vertreten, als sie aus dem Wagen stieg, und ist in ärztlicher Behandlung. Das hat mir eben ihre Zofe gesagt. Ich erinnere mich jetzt auch, daß ich Miß Howett seit gestern nachmittag nicht mehr gesehen habe.«

Julius war verblüfft, als er aus dem Hotel heraustrat. »Vertreten« bedeutete doch wohl, durch einen Schuß verwundet? Aber was hatte sie denn überhaupt in Garre zu suchen? Zu welchem Zweck verkleidete sich denn die Tochter des reichen Mr. Howett als Grüner Bogenschütze? Seine Theorie war phantastisch, aber das Übereinstimmen der Anfangsbuchstaben Valerie Howetts mit dem Monogramm auf dem Taschentuch war doch zu sonderbar. Dazu kam nun noch der verletzte Fuß. Sicher lebten Hunderte von Damen, die dieselben Initialen hatten, aber es war doch äußerst seltsam.

Wenn es jemand gab, den Julius an diesem Morgen nicht treffen wollte, so war es Spike Holland. Aber kaum war er ein paar Schritte vom Hoteleingang entfernt, als er dem Journalisten in die Arme lief. Bei schwachen Menschen ist Haß die Folge von Furcht, und so sehr Savini seinen Herrn haßte, der ihn täglich mit Beleidigungen überhäufte, so sehr fürchtete er sich vor seinem Zorn.

»Ich habe keine Zeit, Holland. Ich kam nur zur Stadt . . . wenn Sie den Alten sehen, so sagen Sie um Gotteswillen nicht, daß Sie mich in London getroffen haben. Er hat mich nach Guildford geschickt und weiß nichts davon, daß ich hierher ging.«

»Bellamy hatte letzte Nacht Besuch?« fragte Spike.

»Ich schwöre Ihnen –« begann Savini.

»Ach was, nun hören Sie doch mit dem Leugnen auf. Was hat denn das für Zweck! Wir haben einen Mann nach dem Dorf geschickt, der seit gestern abend dort ist. Er hat uns gerade telephoniert, daß sich der Grüne Bogenschütze in der vergangenen Nacht wieder gezeigt hat und daß der alte Bellamy mit seinem Revolver aus einem alten Gainsborough ein Auge ausgeschossen hat!«

»Das ist nicht wahr!« sagte Julius heftig. »Wenn das in die Zeitung kommt und der Alte erfahrt, daß ich Sie gesehen habe – hören Sie, Holland, ich will ja alles für Sie tun, ich will Ihnen auch die ganze Geschichte erzählen, wenn Sie dafür sorgen, daß ich nicht hineingezogen werde.«

»Habe ich Sie denn schon jemals hineingeritten?« fragte Spike und schüttelte seinen rotblonden Lockenkopf. »Kommen Sie mit, Julius, und erzählen Sie mir einmal die ganze Geschichte.«

»Ich weiß nicht genau, was eigentlich los war,« begann Julius.

»Das ist ja ein verflucht feiner Anfang für einen genauen autoritativen Bericht. Aber nun erzählen Sie endlich!«

Julius berichtete ihm denn auch genau alles, was sich zugetragen hatte. Aber fast nach jedem Satz beschwor er Spike, ihn nicht zu verraten. Er hatte alle die charakteristischen Eigenschaften eines Halbbluts. Auf der einen Seite war er fahrlässig, was die Konsequenzen seiner Handlungsweise betraf, auf der anderen Seite hatte er eine so kindische Angst, daß es manchmal zum Erbarmen war. Er wälzte dunkle, unheimliche Pläne gegen Abel Bellamy in seinem Kopf, auf deren Ausführung die unheimlichsten und schwersten Strafen standen, und doch zitterte er, wenn er die rauhen Worte seines Herrn hörte, und kroch vor ihm.

»Erzählen Sie mir doch, was Bellamy eigentlich in seiner Burg macht? Was für ein Leben führt er denn? Gibt er auch Einladungen?«

»Einladungen?« wiederholte Julius grimmig. »Kein Fremder ist nach Garre Castle gekommen, seitdem ich dort bin. Sie wollen wissen, was Bellamy tagsüber macht? Er geht auf dem Grundstück herum, oder er vertrödelt die Zeit, indem er sich die Mauern ansieht. Die Abende bringt er in seiner Bibliothek mit sich allein zu. Niemand darf ihn dann stören, und tatsächlich ist das auch nicht möglich, denn er schließ! sich einfach dort ein. Gewöhnlich von neun bis elf Uhr abends und manchmal auch eine Stunde morgens.«

»Was, er schließt sich immer dort ein?« fragte Spike interessiert.

»Ja, beide Türen der Bibliothek schließt er zu, es ist nämlich noch eine andere Tür auf der anderen Seite. Aber um Gotteswillen, verraten Sie mich nicht!«

»Also nun ängstigen Sie sich nicht, mein Herzchen!« sagte Spike. »Können Sie mir nicht noch ein bißchen mehr von Bellamy erzählen?«

Julius, der schon wieder zuviel ausgeplaudert hatte, biß sich auf die Lippen und schaute sich verzweifelt um, ob er nicht irgendwie entwischen könnte.

»Das ist alles, was ich sagen kann, und nun versprechen Sie mir, Holland, daß Sie mich nicht verraten!«

»Wo ißt er denn?«

»Gewöhnlich in der Bibliothek, den Speisesaal benützt er fast nie. Aber jetzt muß ich gehen, Holland.«

Und bevor Spike ihn aufhalten konnte, war er davongeeilt.

Auf dem Rückweg nach Guildford machte sich Julius die größten Vorwürfe, als er sich die Einzelheiten seiner Unterredung mit Spike ins Gedächtnis zurückrief. Große Schweißtropfen traten auf seine Stirn, als er sich klar machte, was er alles ausgeplaudert hatte. Aber er war glücklich, als er sich daran erinnerte, daß er nichts von dem Taschentuch gesagt hatte. Das war doch das Interessanteste an der ganzen Geschichte.

Als er zurückkam, fand er seinen Herrn in einer verhältnismäßig guten Stimmung. Er stellte keine unangenehmen Fragen an ihn, warum er z. B. so lange fortgeblieben sei, und zu seiner größten Genugtuung erwähnte Bellamy selbst, daß die Sache wahrscheinlich wieder in die Zeitungen kommen würde.

»Man kann dieses Hühnervolk nicht vom Gackern abhalten,« sagte er. »Die Hälfte der Dienstboten hat mir gekündigt. Selbst der dicke Wilks sagt, daß er gehen will. Ich habe ihm gesagt, daß ich ihn wegen Kontraktbruches bei Gericht belangen werde, wenn er seinen Dienst verläßt, bevor ich ihn entlasse. Savini, sehen Sie zu, daß heute nacht alle Lampen im Korridor brennen.«

»Erwarten Sie, daß er wiederkommt?« fragte Julius gesprächig, aber ein böser Fluch seines Herrn ließ ihn sofort verstummen.

Bei Tageslicht untersuchte Bellamy die Türen seines Zimmers. Die altertümliche äußere Türe konnte ohne große Schwierigkeit leicht geöffnet werden, wenn jemand über die nötigen Werkzeuge verfügte. Aber die Ledertür, die nur auf der Innenseite einen Drücker hatte, schien ganz sicher zu sein, und er war erstaunt, daß sie geöffnet worden war. Mit einem Vergrößerungsglas untersuchte er die Oberfläche des Leders ganz genau. Er hoffte, irgendwelche Spuren oder Kratzer zu finden, aber darin täuschte er sich. Im Rahmenholz der Tür war ein kurzer Eisenhaken eingeschlagen, der die Klinke in ihrer Bewegung nach oben begrenzte. Zuerst dachte er, daß der Eisenhaken herausgezogen und die Tür auf diese Weise geöffnet worden wäre. Aber er überzeugte sich von der Unmöglichkeit, den Haken zu entfernen. Über der Tür war kein Querbalken befestigt, und obwohl Abel die ganzen Wände und die Decke seines Schlafzimmers sorgfältig untersuchte, konnte er doch nichts entdecken, was das merkwürdig langsame Öffnen der Tür erklärt hatte. In der nächsten Nacht schlief er. Die Pistole lag auf einem kleinen Tisch an der Seite seines Bettes, um fünf Uhr morgens erwachte er und sah, daß beide Türen seines Zimmers weit offen standen und sein Revolver verschwunden war!

12

»Vater, ich möchte gern ein Landhaus haben,« sagte Valerie Howett des Morgens beim Frühstück.

Mr. Howett schaute erstaunt auf.

»Was meinst du?« fragte er verwundert.

»Ich möchte ein Landhaus haben,« wiederholte Valerie.

Sie sah müde und blaß aus, schwere schwarze Schatten lagen unter ihren Augen, und er bemerkte eine Abgespanntheit und Müdigkeit an ihr, die ihm Sorge machte.

»Ich habe einen wunderbaren, alten Landsitz besichtigt, er ist nicht weit von London entfernt und hat nur den Nachteil, daß er an die Besitzung Abel Bellamys grenzt.«

»Aber meine Liebe, ich habe doch in Amerika verschiedenes zu erledigen und kann während des Winters nicht in England bleiben! – Aber vielleicht läßt es sich doch einrichten,« meinte er dann. »Wo liegt es denn?«

»In Garre – es heißt Lady's Manor und ist ein alter Witwensitz, der früher zu der Burg gehörte. Das Haus muß allerdings gründlich renoviert werden.« Sie sah auf ihren Teller und fuhr dann geschickt fort: »Ich dachte, das wäre gerade ein Platz für dich, lieber Vater, wenn du dein Buch schreiben willst.«

Mr. Howett träumte davon, eine politische Geschichte Englands zu schreiben. Er plante dieses Buch schon seit zwanzig Jahren und hatte bereits umfangreiche Vorarbeiten dafür gemacht. Die Tatsache, daß schon mehrere gute Werke über dieses Gebiet erschienen waren, schreckte ihn nicht ab, sondern spornte ihn höchstens zum Wetteifer an. Er strich sich nachdenklich über die Haare.

»Das Haus liegt so ruhig und friedvoll – ich bin sicher, Vater, daß du das Buch niemals schreiben wirst, wenn du nach Amerika zurückkehrst, wo du von deinen Geschäften vollständig in Anspruch genommen wirst. Und es ist doch auch ganz klar, daß du es in einer so unruhigen Stadt wie London nicht schreiben kannst. Hier ist es doch ebenso schlimm wie in New York.«

»Du sagst, es ist sehr still dort?« fragte Howett schon halb überzeugt.

»Es ist eine bezaubernde Ruhe dort,« sagte sie lebhaft.

»Es ist eigentlich keine schlechte Idee von dir, Valerie.« Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück und schaute zur Decke empor. »Und schließlich ist es ja auch gut für dich – wirklich, wenn ich es mir länger überlege, ist es keine schlechte Idee. Ich werde nach New York kabeln und zusehen, ob ich die Sache nicht anders ordnen kann. – Sage mal, fürchtest du dich eigentlich vor Geistern?« fragte er dann etwas unvermittelt und lächelte.

»Nein, ich fürchte mich nicht,« sagte sie ruhig. »Wenn du damit etwa den Grünen Bogenschützen meinen solltest.«

»Das ist eine ganz merkwürdige Sache.« Mr. Howett schüttelte den Kopf. »Ich kenne Bellamy nicht, aber wie ich gehört habe, scheint er sich vor nichts in der Welt zu fürchten, es sei denn vor dem Besuch eines Steuerbeamten.«

»Bist du ihm niemals begegnet?«

Er schüttelte den Kopf.

»Nein, ich habe persönlich noch nichts mit ihm zu tun gehabt. Ich sah ihn oft genug, er wohnte ja hier im Hotel. Ich mag ihn nicht und vor allen Dingen kann ich seinen Sekretär mit dem fahlen, gelben Gesicht nicht leiden.«

Sie erhob sich, und er eilte an ihre Seite, um sie zu stützen, als sie den Raum verließ.

»Valerie, du mußt einen Arzt wegen deines verrenkten Fußgelenks zu Rate ziehen.«

»Ach, das wird heute schon wieder besser werden. Ich werde mich hinlegen, nichts tun und keinen Besuch empfangen.«

 

Lachend lehnte sie seine Hilfe ab und ging allein zu ihrem Zimmer, obwohl sie sich ein wenig schwach fühlte. Am Vormittag meldete sich ein Besuch, und Mr. Howett klopfte an die Tür seiner Tochter.

»Captain Featherstone ist hier – er sagt, daß er dich sprechen möchte. Kann er nähertreten?«

»Wenn er verspricht, recht ruhig zu sein,« kam die Antwort. »Ich bin gerade nicht in der Stimmung, mir Vorhaltungen machen zu lassen.«

»Warum in aller Welt sollte er dir denn Vorhaltungen machen?« fragte ihr Vater erstaunt.

»Laß ihn hereinkommen!«

Jim Featherstone betrat Valeries Zimmer auf Zehenspitzen mit einer solchen Vorsicht, daß sie ihn hätte schlagen mögen.

»Es ist sehr traurig, Sie so liegen zu sehen,« begann er. »Bitte schmollen Sie nicht, Miß Howett, ich bin gekommen, um Ihnen meine Teilnahme auszusprechen.«

Mr. Howett ging ins andere Zimmer zurück und schrieb ein Telegramm.

»Wo waren Sie vorige Nacht?« fragte Featherstone, als sie allein waren.

»Im Bett,« antwortete sie prompt.

»Und die Nacht vorher?«

»Auch im Bett.«

»Würden Sie mich für zudringlich halten, wenn ich mir die Frage erlaube, ob Sie im Traum nicht jener düsteren Gegend von Limehouse einen Besuch abstatteten, um sich nach einem Mann umzusehen, der unter dem Namen Coldharbour Smith bekannt ist?«

Sie wollte ihn ungeduldig abwehren.

»Warten Sie einen Augenblick,« sagte er und hob feierlich abwehrend die Hand. »Als Sie nach Coldharbour Smith suchten, gerieten Sie da nicht in eine allgemeine Schlägerei in einer Kneipe, die hauptsächlich von Chinesen und Negern besucht wird?«

Sie schauderte bei der Erinnerung.

»Sie wurden glücklicherweise von einem ehrlichen, aber rauhen Matrosen gerettet – aber trotzdem haben Sie einen bösen Fußtritt von einem der Kerle abbekommen.«

»Waren Sie vielleicht der ehrliche, aber rauhe Seemann?« fragte sie verwirrt.

Er schüttelte den Kopf.

»Nein, es war einer meiner Leute, Sergeant Higgins, ein guter Kerl, obgleich er nichts von einem Helden oder Stutzer an sich hat. Aber warum unternehmen Sie solche schrecklichen Dinge?«

»Weil ich es muß,« antwortete sie verbissen. »Ich hätte Creager sehen müssen, bevor dies alles passierte. Ich wußte manches von ihm, ich wußte, daß er von Bellamy Geld empfing, weil er früher einmal etwas Schreckliches für ihn getan hat. Und auch dieser andere Mann –« sie schauderte wieder. »Es war schrecklich.«

»Coldharbour ist kein feiner Mensch,« gab Captain Featherstone zu. »Leute, die derartige Kneipen halten, sind gewöhnlich nicht sehr zartbesaitet. Coldharbour wird also auch von Bellamy unterstützt?« fragte er scheinbar belustigt. »Das wußte ich noch nicht. Wo bekommen Sie denn nur alle diese Informationen her?«

»Ich bezahle dafür,« sagte sie, indem sie eine direkte Antwort ablehnte. »Und ich denke, meine Informationen sind einigermaßen zuverlässig.«

Er dachte einige Augenblicke nach und schaute auf den Teppich.

»Ich habe das Gefühl, daß Sie sich auf diese Weise selbst zugrunde richten,« sagte er dann ernst. »Glücklicherweise war Coldharbour vorige Nacht nicht zu sehen. Wenn er dort gewesen wäre, so hätte es Bellamy in den nächsten vierundzwanzig Stunden erfahren.«

Er sah, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, und dieser unerwartete Anblick machte ihn betroffen.

»Ich habe alles versucht,« sagte sie, »wirklich alles, ich glaube, daß ich eigensinnig und närrisch bin, und ich war eitel genug, zu glauben, ich sei klüger, als die Polizei der ganzen Welt. Aber ich sehe jetzt doch ein, daß ich es nicht bin.«

Er sah sie an.

»Jagen Sie hinter einem Schatten her, Miß Howett?« fragte er ernst.

»Nein, nein, nein!« rief sie heftig. »Ich bin meiner Sache sicher. Irgendein Gefühl sagt mir, daß ich auf dem rechten Wege bin.«

»Würden Sie mir nicht mitteilen,« fragte Featherstone leise, »wer die Frau ist, die Sie suchen?«

Er sah, wie sie ihre Lippen fest aufeinander preßte.

»Das kann ich nicht sagen, es ist nicht mein Geheimnis allein.«

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