Der Mann von Marokko

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4

James Morlake saß im Schatten einer großen Buche. Eine Zeitung lag auf seinen Knien, aber er las nicht. Seine Augen schweiften über die weite Fläche des Stroms. Plötzlich hörte er ein Geräusch, wandte sich um und sah einen Mann auf der Straße, der ihn von dort aus beobachtete.

Er schaute nur kurz hin und betrachtete dann wieder den Fluß.

Hamon kam langsam auf ihn zu.

»Es ist lange her, seit ich Sie das letzte Mal gesehen habe«, begann er. »Ich wußte nicht, daß Sie hier in der Nähe wohnen.«

Jim Morlake sah ihn an und gähnte.

»Ich hätte Ihnen eine Karte schicken sollen«, erwiderte er gelangweilt. »Wenn ich geahnt hätte, daß Sie heute morgen kommen würden, hätte ich sogar die Dorfmusik bestellt und ein paar Fahnen herausgehängt.«

Hamon nahm sich einen Stuhl und setzte sich zu ihm.

»Ich möchte Ihnen dieses Haus abkaufen, Morlake –«

»Mr. Morlake«, verbesserte Jim. »Wir wollen doch immer daran denken, daß wir Gentlemen sind.«

»Ich will Ihnen also dieses Haus abkaufen, und Sie können abreisen. All Ihre bösen Anschläge gegen mich und Ihr böses Gerede will ich Ihnen vergeben ... Sie wissen, was ich meine – aber innerhalb einer Woche müssen Sie das Land verlassen.«

Morlake lachte leise vor sich hin, und Hamon, der ihn noch nie hatte lachen sehen, war über diese Veränderung seiner sonst so verschlossenen Züge erstaunt.

»Sie scheinen eben erst vom Himmel gefallen zu sein oder sonst irgendwie nach langjähriger Abwesenheit auf die Erde zurückgekommen, da Sie sich plötzlich derartig um mein Leben und Wohlergehen kümmern. Übrigens werden Sie wirklich zu korpulent, und die dicken Säcke unter den Augen machen Sie auch nicht hübscher! Sie müßten einmal zum Arzt gehen!«

Hamon neigte sich vor.

»Wenn ich nun Ihren Nachbarn erzählen würde, wer Sie sind?« fragte er langsam. »Oder wenn ich zur Polizei ginge und dort mitteilte, daß Mr. Morlake – ein übler amerikanischer Verbrecher ist?«

»So übel ist er gar nicht«, meinte Morlake und schaute Hamon vergnügt an.

»In der letzten Zeit ist wieder eine ganze Reihe von Einbrüchen verübt worden, und zwar von einem Verbrecher, den man den Schwarzen nennt – haben Sie schon mal von dem gehört?«

Morlake lächelte.

»Ich lese niemals Zeitungen. Sie bringen so viel, was für einen Landedelmann uninteressant ist.«

»Für einen Landedelmann!«

Jetzt mußte Mr. Hamon lachen. Er zog seine Brieftasche heraus und entnahm ihr ein dickes Paket Banknoten.

»Hier ist Ihr Reisegeld«, sagte er, als Morlake die Scheine nahm. »Für Ihren Herrensitz und das Gut werde ich Ihnen morgen noch ein Angebot machen. Ihr Preis –«

»Ist hunderttausend Pfund. Ich würde diese schäbige Summe, die Sie mir da geben, als Anzahlung nehmen, wenn nicht die Nummer jedes einzelnen Scheins von Ihnen notiert wäre und irgendein Detektiv nicht schon darauf wartete, mich zu verhaften, wenn ich das Zeug einsteckte. Der Preis, für den ich verkaufe, ist hunderttausend Pfund, Hamon. Zahlen Sie ihn, wie ich ihn bezahlt haben will, und ich werde Sie in Ruhe lassen! Diese hunderttausend Pfund bezahlen Sie für einen Monat Ruhe!«

Er schleuderte die Banknoten ins Gras.

»Einen Monat – was meinen Sie denn mit einem Monat?«

»Damit meine ich die Zeit, die in diesem Lande zwischen der Verurteilung und der Hinrichtung eines Mannes vergehen muß!«

5

Ralph Hamon sprang auf. Sein Gesicht zuckte, und er biß sich auf die Lippen, um seine Erregung zu meistern.

»Sie verfluchter Hund! Ich soll gehenkt werden? Das will ich Ihnen aber heimzahlen! Ich weiß genug von Ihnen!«

Morlake machte eine abwehrende Bewegung.

»Versuchen Sie nicht, mir einen Schrecken einzujagen. Seien Sie vernünftig. Sagen Sie mir alles, was Sie inzwischen erlebt haben. Wie ich höre, haben Sie eine halbe Million bei den Varoni-Diamanten verdient, und sogar auf ehrliche Weise – das ist das Merkwürdigste an der ganzen Sache. Wenn Sie doch nur auf den Erfolg gewartet hätten, Hamon! Dann brauchten Sie jetzt nicht um Ihr Leben zu zittern. Wissen Sie eigentlich, wie die Eingeborenen Affen fangen? Sie stecken eine Pflaume oder eine Dattel in eine enghalsige Kürbisflasche, der Affe greift hinein, packt die Dattel, aber er kann die Hand durch den engen Hals nicht mehr herausziehen. Die Dattel will er nicht loslassen, er ist aber auch nicht stark genug, die Flasche zu zertrümmern, und so wird er gefangen. Sie sind auch so ein Affenmann!«

Hamon hatte seine Wut unterdrückt, aber er sah noch unheimlich bleich aus.

»Ich verstehe Sie nicht. Sie sind einer von diesen ganz Oberschlauen, die sich gern reden hören. Ich habe Sie gewarnt. Vielleicht sind Sie die Kürbisflasche, die zerschmettert wird!«

»Das mag sein. Aber wenn ich in die Binsen gehe, so geschieht es wenigstens für eine gute Sache. Inzwischen werde ich in Wold House wohnen und mich daran freuen, daß sich alle Leute hier über meine geheimnisvolle Erscheinung den Kopf zerbrechen.«

»Das Geheimnis werde ich bald aufklären«, rief Hamon.

Am Rand des Wegs blieb er noch einmal stehen und drehte sich um. »Ich lasse Ihnen sieben Tage Zeit, von hier zu verschwinden!«

»Schließen Sie das Tor, wenn Sie hinausgehen«, erwiderte James Morlake.

Hamon stieg in seinen Wagen und fuhr verärgert die Hauptstraße entlang, bis er wieder zu dem holperigen Weg kam, der die Grenze der Creithschen Besitzung bildete. Dann wurde er etwas ruhiger. Das war jetzt sein Eigentum, er war Herr dieser Äcker und der kleinen, traulichen Farmhäuser, die sich zwischen den Hügeln in die Täler einschmiegten. Aber er wollte auch das schlanke, schöne Mädchen besitzen.

Er fühlte das unbändige Verlangen, Joan zu zähmen, zu erniedrigen und für ihre Anmaßung zu bestrafen. Das wäre etwas, das ihn mehr befriedigen würde als alles andere ...

Das Auto war schon auf die Nebenstraße abgebogen, als sein Blick auf ein kleines Haus fiel, das sich hinter einem Holzzaun erhob. Er hielt an, weil er sich erinnerte, daß hier seit gestern eine Freundin Joans wohnte.

Ralph Hamon war ein Mann, der alle Vorteile wahrnahm. Eine Freundin Joans konnte ja auch seine Freundin werden. Vielleicht konnte er mit Hilfe dieser Frau Joans Antipathie überwinden.

Er stieg aus und ging auf die Hauptstraße zurück, bis er zur Gartentür kam. Dann trat er ein und sah sich nach rechts und links um, aber die Bewohnerin war nicht im Garten. Schließlich klopfte er an die Haustür. Als ihm Mrs. Cornford öffnete, schaute er sie mit starren Augen an, als ob sie eine Erscheinung aus einer anderen Welt wäre.

Dann versuchte er zu sprechen, aber nur ein unverständliches Stöhnen kam über seine Lippen. Plötzlich drehte er sich um und eilte wie gehetzt den Pfad zurück. Schwere Schweißtropfen standen auf seiner Stirn, und er biß sich vor Furcht auf die Lippen. Elsa Cornford kannte einen Teil jenes Geheimnisses, das der Besitzer von Wold House bisher nicht herausgebracht hatte.

6

Hat es nicht eben gedonnert?« fragte Lord Creith. Er hob die Hand zum Mund, um ein Gähnen zu verbergen.

Auch Joan fühlte sich gelangweilt. Das Essen nahm kein Ende.

»Es klang fast so«, erwiderte Hamon und fuhr aus seinen unangenehmen Gedanken auf.

»Im Oktober sind Gewitter sehr selten«, meinte der Lord. »Ich kann mich daran erinnern, als ich noch ein Junge war ...«

Er machte einen schwachen Versuch, die andern durch eine Geschichte zu unterhalten, die jedoch niemand fesselte. Er schien es auch zu fühlen und brach bald ab. Aber dann brachte er das Gespräch plötzlich auf ein Thema, das seine beiden Tischgenossen in hohem Maße interessierte.

»Ich habe Stephens nach diesem Morlake gefragt. Ein merkwürdiger Mensch. Niemand weiß auch nur das Geringste über ihn. Vor drei Jahren kam er von irgendwoher, kaufte Wold House und ließ sich hier als Gutsbesitzer nieder. Er beteiligt sich an keiner Jagd, keinem Ball, lehnt alle Einladungen ab, die ihm geschickt werden, und hat offenbar weder Bekannte noch Freunde. Ein ganz eigentümlicher Kerl!«

»Das kann ich nur bestätigen!«

Mr. Hamon lachte laut, und Joan sah ihn erstaunt an.

»Kennen Sie ihn denn?«

»Ziemlich genau – er ist ein amerikanischer Verbrecher!«

Joan versuchte vergeblich, ihre Erregung zu verbergen. Aber anscheinend übersah Hamon das Wohlwollen und die Sympathie, die der Besitzer von Wold House hier genoß. Er freute sich über das Aufsehen, das seine Worte hervorriefen.

»Ja, er ist ein Verbrecher, einer der größten Geldschrankknacker und Erpresser! Wie er in Wirklichkeit heißt, weiß ich nicht.«

»Aber dann ist die Polizei doch sicher über ihn informiert«, meinte Lord Creith verwundert.

»Das mag sein, aber ein Mann wie Morlake, der so viel Geld hat, braucht die Polizei nicht zu fürchten.«

Joan hatte bis jetzt sprachlos zugehört.

»Woher wollen Sie denn das alles wissen?« fragte sie, als sie ihre Stimme wieder beherrschte.

Hamon zuckte die Schultern.

»Vor einigen Jahren bin ich einmal mit ihm aneinandergeraten. Er dachte, er habe etwas entdeckt, was ihm eine gewisse Macht über mich gebe, und versuchte, mich zu erpressen. Er entkam nur mit genauer Not. Das nächste Mal wird es ihm nicht glücken! Und das nächste Mal –« er öffnete und schloß die Hand, als ob er jemand erwürgen wollte »– wird recht bald kommen! Ich habe ihn in meiner Gewalt.«

Joan haßte Ralph Hamon in diesem Augenblick über alle Maßen, obwohl er sie eigentlich nicht beleidigt hatte.

 

»Ich sagte schon, daß ich nicht weiß, wie er in Wirklichkeit heißt. Die Polizei beobachtet ihn seit Jahren, aber sie hat noch nie genügend Material gegen ihn sammeln können, um ihn vor Gericht zu bringen.«

»Ich habe aber noch nie etwas davon erfahren«, unterbrach ihn Lord Creith, »und ich bin doch hier der Ortsvorstand. Die hiesige Polizei hat nichts gegen ihn, im Gegenteil, man spricht ganz gut von Mr. Morlake.«

»Als ich eben die Polizei erwähnte, meinte ich damit Scotland Yard in London, und die Leute dort reden natürlich nicht darüber.«

»Ich kann das alles nicht glauben!« Joans lange unterdrückte Entrüstung kam zum Durchbruch. »Wahrscheinlich haben Sie irgendwelche Schauergeschichten gehört, die Ihre Phantasie jetzt verwirren!«

Hamon lächelte.

»Ich gebe zu, daß es recht unglaubhaft klingt, aber es ist die volle Wahrheit. Ich habe Morlake erst heute morgen gesprochen. Er war auf das unangenehmste überrascht, als er mich sah, das kann ich Ihnen sagen. Am meisten schien er sich darüber zu ärgern, daß ich ihn wiedererkannte. Er bat mich auch händeringend, es niemand zu erzählen –«

»Das ist nicht wahr! Unter keinen Umständen kann das stimmen!« erklärte Joan zornig. »Mr. Morlake ist der letzte, der einen anderen um etwas bitten würde. Ich glaube auch nicht, daß er ein Dieb ist.«

»Ist er denn Ihr Freund?«

»Ich bin ihm noch nie begegnet.«

Ein verlegenes Schweigen trat ein, aber Ralph Hamon hatte ein dickes Fell. Obwohl sie ihm auf den Kopf zusagte, daß er log, fühlte er sich nicht im mindesten verletzt.

Als sich Lord Creith in sein Zimmer zurückgezogen hatte, ging Joan hinaus, um die aufflammenden Blitze am südlichen Himmel zu beobachten. Sie wollte allein sein, doch Hamon folgte ihr.

»Es sieht so aus, als ob wir eine stürmische Nacht bekämen«, meinte er, um eine Unterhaltung zu beginnen.

Sie gab ihm recht und wollte wieder ins Haus zurückkehren, aber er hielt sie an.

»Wo haben Sie denn die Bekanntschaft der Dame gemacht, die dort drüben wohnt?«

»Sprechen Sie etwa von Mrs. Cornford? Ist sie vielleicht auch eine Verbrecherin?« fragte sie scharf.

Er lächelte nachsichtig über die sarkastische Bemerkung.

»Das nicht gerade. Ich interessiere mich nur für sie. Es kommt mir vor, als hätte ich sie schon vor Jahren einmal gesehen. Ich vermute, daß sie mich noch kennt. Hat sie Ihnen etwas davon gesagt?«

»Sie hat Ihren Namen niemals erwähnt – wahrscheinlich, weil ich mit ihr nicht über Sie gesprochen habe«, antwortete Joan etwas erstaunt.

»Ich glaube mich daran zu erinnern, daß sie nicht ganz richtig im Kopf war – sie war ein Jahr in einer Irrenanstalt.«

Joan lachte laut auf.

»Ausgezeichnet! Wer von meinen Freunden nicht gerade ein Verbrecher ist, wird von Ihnen für wahnsinnig erklärt!«

»Ich wußte nicht, daß er Ihr Freund ist«, sagte er schnell und trat an sie heran.

»Mr. Morlake ist unser Nachbar, und Nachbarn sind nach alter Sitte unsere Freunde. Wir gehen jetzt aber besser hinein.«

»Einen Augenblick noch.«

Er nahm ihren Arm, und sie machte sich durch eine leichte Bewegung wieder frei: »Was wollen Sie mir denn noch sagen?«

»Hat Ihr Vater über meinen Antrag mit Ihnen gesprochen?«

»Ja, es war die Rede davon«, erwiderte sie gleichgültig. »Ich erklärte ihm, daß ich nicht den Wunsch habe, Sie zu heiraten, obwohl ich gut verstünde, welches Kompliment Sie mir mit Ihrem Antrag machten.«

Hamon räusperte sich. »Erwähnte er auch die Tatsache, daß in Wirklichkeit ich der Eigentümer der Creithschen Güter bin?«

»Auch das hat er mir gesagt.«

»Ich nehme an, daß Ihnen das Stammhaus der Creith doch ein wenig am Herzen liegt? Ihre Vorfahren haben es seit Hunderten von Jahren besessen!«

»Sicher, es ist mir sehr teuer«, entgegnete sie steif. »Aber es ist mir doch nicht so kostbar, daß ich das Glück meines Lebens opfern würde, um den Titel einer Herrin von Creith zu behalten. Es gibt noch viel schlimmere Dinge, als heimatlos zu sein, Mr. Hamon.«.

Sie machte eine Bewegung, als ob sie gehen wollte, aber wieder hielt er sie zurück.

»Warten Sie noch«, sagte er leidenschaftlich. »Joan, ich bin zwanzig Jahre älter als Sie, aber Sie sind die Frau, von der ich geträumt habe, solange ich denken kann. Es gibt nichts, das ich nicht für Sie tun könnte, kein Dienst wäre mir zu schwer. Ich muß Sie besitzen!«

Bevor sie wußte, was geschah, hatte er sie in die Arme geschlossen. Sie wehrte sich und wollte sich frei machen, aber er umklammerte sie fest.

»Lassen Sie mich gehen – wie dürfen Sie das wagen!«

»Ruhe!« zischte er. »Ich liebe Sie, Joan, obwohl Sie mich mit Ihrem Hochmut tief gekränkt haben. Ich liebe Ihr süßes Gesicht, Ihre Augen, Ihren herrlichen, schlanken Körper ...«

Sie bog den Kopf zur Seite, um dem Kuss seiner gierigen Lippen zu entgehen. Im selben Augenblick klang die Stimme ihres Vaters von der Halle zu ihnen herüber.

»Bist du noch draußen, Joan?«

Hamon ließ die Arme sinken, und sie taumelte zitternd vor Schrecken und Abscheu zurück.

»Es tut mir sehr leid, daß ich mich so vergaß«, flüsterte er.

Sie konnte nicht sprechen und zeigte nur zur Tür. Er verließ sie und ging hinein. Erst nach einigen Minuten folgte sie ihm.

Lord Creith schaute mit seinen kurzsichtigen Augen prüfend auf seine Tochter.

»Ist etwas passiert?« fragte er, als er ihre Blässe bemerkte.

»Nein, Vater.«

Er sah sich um. Hamon war verschwunden.

»Ein Mensch ohne Erziehung – ich werde ihn aus dem Hause weisen, wenn du es wünschest, mein Liebling.«

»Ach, das ist nicht notwendig. Aber wenn er morgen nicht von selbst verschwindet, wollen wir dann nicht lieber nach London gehen?«

»Ja, das wollen wir tun.«

7

Joan begab sich gleich in ihr Zimmer. Sie wollte nicht noch einmal mit dem Mann zusammentreffen, in dessen Augen sie vorhin die Abgründe menschlicher Leidenschaften entdeckt hatte. Sie fühlte sich körperlich krank, als sie sich die schrecklichen Augenblicke auf dem Rasen ins Gedächtnis zurückrief.

Müde setzte sie sich vor dem Spiegel nieder und ließ alle Eindrücke noch einmal an sich vorüberziehen. Hamons Enthüllungen über James Morlake hatten den größten Sturm der Entrüstung in ihr wachgerufen. Das konnte nicht wahr sein – und doch hätte Hamon nicht gewagt, eine derartige Anklage auszusprechen, wenn er keine Beweise dafür hatte.

Sie stand auf, öffnete eine der breiten Türen und trat auf den Steinbalkon über der Einfahrt hinaus. Grell leuchtende Blitze zerrissen den dunklen Nachthimmel. Sie hörte langhinrollende Donner, aber sie achtete nicht auf die düster drohenden Wolken. Aus der Ferne schimmerte ein schwaches, gelbliches Licht zu ihr herüber, das die Lage von Wold House anzeigte.

Wußte dieser sonderbare einsame Mann, daß man ihn verdächtigte? Mußte er nicht gewarnt werden? Sie wurde ungeduldig. Es war offenbar heller Wahnsinn, überhaupt an ihn zu denken. Sie kannte ihn nicht und hatte nur um sein ungewöhnlich anziehendes Gesicht allerhand phantastische Träume gesponnen. In der Nähe würden diese Illusionen sicher in nichts zerfließen. Und gerade jetzt wünschte sie das und haßte doch zugleich auch Hamon, weil er den ersten Argwohn in ihrem Herzen geweckt hatte.

Wenn dieser Mensch die Wahrheit gesprochen hatte, schwebte Morlake in unmittelbarer Gefahr. Und wenn Hamon gelogen hatte, so führte er doch bestimmt Böses gegen ihn im Schilde.

Mit schnellem Entschluss ging sie zum Schrank, nahm einen Regenmantel und einen Hut und legte beides auf ihr Bett.

In Creith House zog man sich bald zur Ruhe zurück, aber erst um halb elf hörte sie, wie Stephens die Haustür verschloß. Nach einer weiteren Viertelstunde lag das Haus in tiefem Schweigen.

Wieder trat sie auf den Balkon hinaus. Das Licht in Wold House brannte noch immer. Ohne Zögern nahm sie nun den Mantel über den Arm, den Hut in die Hand und schlich sich vorsichtig die breite Treppe zur Halle hinunter.

Der Hausschlüssel hing an der Wand. Er war groß und unhandlich, so daß sie ihn kaum in ihre Tasche stecken konnte. Sie schob die Riegel leise zurück und schloß die Tür auf.

Sie hatte keine Schwierigkeit, den Weg zu finden, denn die Blitze zuckten unaufhörlich am nächtlichen Himmel. Ihr Herz klopfte wild, als sie im Schatten der rauschenden Walnussbäume den Fahrweg entlangschritt. Bald befand sie sich auf der Hauptstraße.

Sie war doch eine Närrin, sentimental und verrückt, sie benahm sich wie ein romantisch veranlagtes Schulmädchen. Ihre Vernunft suchte sie zurückzuhalten, aber ein starkes Gefühl, das nichts mit Verstand oder Überlegung zu tun hatte, ein Instinkt, der stärker war als jede Hemmung, trieb sie vorwärts.

Was würden wohl die Nachbarn denken und sagen, wenn sie wüßten, daß sich Lady Joan Carston aufgemacht hatte, nachts einen amerikanischen Verbrecher zu warnen, der verhaftet werden sollte – einen Mann, den sie nicht einmal kannte und mit dem sie noch nie gesprochen hatte! Sie überdachte das alles mit kritischer Selbstironie.

Inzwischen war sie zu der hohen Ziegelmauer gekommen, die Wold House umgab. Nur mit Mühe fand sie die Klinke des schmiedeeisernen Tores und drückte sie nieder. Das Licht, das sie bis dahin im Haus gesehen hatte, erlosch plötzlich, und das Gebäude lag nun in vollkommener Dunkelheit vor ihr.

Sie hatte gerade einen Schritt auf das Haus zu getan, als sich, die Tür unerwartet öffnete. Ein breiter Lichtschein fiel auf den Weg, und im Rahmen der Haustür sah sie die Silhouette einer Männergestalt. Blitzschnell zog sie sich in den Schutz der Bäume zurück. Hinter dem Fremden tauchte James Morlake auf, der leise auf ihn einsprach. Mit einer gewissen Genugtuung erkannte sie, daß er eine warme, sympathische Stimme besaß.

»Fühlen Sie sich jetzt besser?« fragte Morlake.

»Ja, ich danke Ihnen.«

»Sie werden das Haus an der Straße sicher finden. Ich weiß nichts von einer Mrs. Cornford, aber ich glaube, daß neuerdings eine Dame dort wohnt.«

»Es ist ganz unangebracht und unpassend von mir, daß ich hierherkomme ... aber ich bin vorhin eingekehrt ... dieses schreckliche Gewitter drohte ... ich fürchte, ich bin betrunken.«

»Das fürchte ich auch.«

Es war also Mrs. Cornfords Patient, der Trinker. Die beiden stiegen zusammen die Treppe herunter. Der jüngere Mann schwankte ein wenig, und Morlake stützte ihn.

»Ich bin Ihnen sehr verbunden – ganz gewiß –, mein Name ist Fairringdon – Ferdie Farringdon ...«

Plötzlich sah Joan bei einem aufleuchtenden Blitz das hagere, unrasierte Gesicht des Mannes. Sie mußte sich auf die Lippen beißen, um einen Aufschrei zu unterdrücken, und sie klammerte sich entsetzt an einen Zweig des Lorbeerbusches, der sie deckte. Starr schaute sie den beiden nach, bis sie in der Dunkelheit verschwanden, und sie stand noch reglos, als James allein zurückkehrte.

Sie beobachtete ihn genau, als er in das Haus ging und die Tür schloß. Dann wartete sie noch einige Zeit. Große Regentropfen begannen zu fallen, und die Blitze leuchteten greller.

Die gespenstische Erscheinung des Betrunkenen mitten in der Nacht hatte sie furchtbar erschreckt, und sie dachte nicht länger daran, Morlake zu warnen. Unter Aufbietung all ihrer Kräfte riß sie sich zusammen und eilte den Fahrweg entlang.

Sie versuchte, die großen, eisernen Tore zu öffnen, aber zu ihrer Bestürzung blieben ihre Anstrengungen vergeblich. Morlake mußte zugeschlossen haben, nachdem er Farringdon auf den Weg gebracht hatte. Was sollte sie nun tun?

Vorsichtig schlich sie über den Rasen, doch auf dieser Seite war der Fluß. Sie wäre über die Mauer gestiegen, wenn sie nur eine Leiter hätte finden können.

Plötzlich öffnete sich die Haustür abermals, und Joan verbarg sich aufs neue im Schatten, als Morlake heraustrat. Er ging schnell den Pfad hinunter, und sie hörte, wie das Tor hinter ihm zuschlug. Sie eilte hin, er hatte nicht abgeschlossen. Mit einem Seufzer der Dankbarkeit und Erleichterung schlüpfte sie hinaus.

Nach wenigen Schritten war sie schon vollständig durchnäßt, denn der Regen strömte mit ungewöhnlicher Heftigkeit nieder. Das Rollen und Dröhnen des Donners betäubte sie, und das anhaltende Wetterleuchten und Blitzen blendete ihre Augen. Aber sie kämpfte sich vorwärts, und schließlich konnte sie die Tore von Creith House sehen. Sie fühlte in ihrer durchnäßten Handtasche nach dem Schlüssel und stellte zu ihrer Beruhigung fest, daß sie ihn noch bei sich hatte.

 

Schnell durcheilte sie die Allee und war beinahe am Ziel, als sie entsetzt stehenblieb. Ihre Augen öffneten sich weit. Dicht vor sich sah sie im Licht der Blitze die Gestalt eines schwarzgekleideten Mannes, der bewegungslos mitten auf dem Weg stand. Sie konnte sein Gesicht unter dem breiten Rand des weichen Filzhutes nicht erkennen.

»Wer sind Sie?« fragte sie mit zitternder Stimme.

Bevor er antworten konnte, war plötzlich alles in Helligkeit getaucht, und ein furchtbarer Donnerschlag folgte unmittelbar. Joan wurde fortgeschleudert.

Einen Augenblick war der Mann starr vor Schrecken, dann sprang er mit einem unterdrückten Ausruf vorwärts, hob sie auf und trug sie von dem brennenden Baum fort. In einem der Fenster des Herrenhauses erschien Licht. Die Bewohner waren erwacht – der große, brennende Walnussbaum mußte sie bald ins Freie locken.

Der Mann schaute sich um und entdeckte eine Gruppe von Rhododendronsträuchern. Er konnte das bewußtlose Mädchen gerade noch hinter dieses Gebüsch tragen, bevor der Butler heraustrat.

Der Fremde wußte nicht, wer Joan war. Er hielt sie für ein Dienstmädchen, das verspätet aus dem Dorf zurückkam, und er nahm sich auch nicht die Mühe, sie genauer zu betrachten. Dadurch wäre er wahrscheinlich auch nicht klüger geworden, denn Joans Gesicht war mit weicher Erde beschmutzt, in die sie glücklicherweise gefallen war.

Sie kam bald wieder zu sich, öffnete die Augen und sah verzweifelt um sich. Jemand hielt ihren Kopf auf den Knien, ihr Gesicht war naß, und über ihr bewegten sich Zweige und Äste – wie mochte sie wohl hierhergekommen sein?

»Ich glaube, es wird Ihnen bald wieder bessergehen.«

Sie erkannte Jim Morlakes Stimme und starrte ihn betroffen an.

»Was ist denn geschehen?« fragte sie. Dann entdeckte sie den schwelenden Baum und zitterte. Der Blitz hatte dort eingeschlagen, und nur durch ein Wunder war sie entkommen.

»Ich danke Ihnen so sehr –« begann sie, als der Himmel wieder grell aufleuchtete.

In dem hellen Schein sah sie, daß Morlakes Gesicht von den Augenbrauen bis zum Kinn von einer schwarzseidenen Maske verhüllt war ...

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