Edgar Wallace - Gesammelte Werke

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Zwei Tage später begleitete Ferraby seine Schutzbefohlene nach Marks Thornton, und nur widerwillig trennte er sich an dem Parktor von ihr. Sie hatte natürlich keine Ahnung, daß sie bewacht und beschützt wurde; nicht einen Augenblick vermutete sie, daß sich ein Beamter von Scotland Yard in ihrer Nähe befand und jeder ihrer Bewegungen scharf beobachtete.



Ferrabys Aufgabe war schwierig, weil Isla ihn bereits kannte und schon mit ihm gesprochen hatte. Er wartete, bis ihr Auto außer Sicht kam; erst dann fuhr er zu dem Dorfgasthaus zurück und entließ den Wagen, den er vom Bahnhof aus benützt hatte.



Als er eintrat, sah er in der sonst leeren Gaststube einen jungen Mann hinter dem Schanktisch und benützte diese gute Gelegenheit, um Tottys Bericht nachzuprüfen. Er nahm an, daß er Tom, den Sohn des Gastwirts, vor sich hatte. Aber als er ihn vorsichtig auszufragen begann, unterbrach ihn dieser plötzlich.



»Sind Sie nicht ein Beamter von Scotland Yard? Sie kamen doch mit Mr. Tanner hierher? Haben Sie inzwischen etwas Neues über den Mordfall Studd herausgebracht?«



»Nein«, erwiderte Ferraby kurz; er ärgerte sich, daß man ihn wiedererkannte.



Tom wischte mit einem Tuch mechanisch die Tischplatte ab.



»An dem Abend war ich nicht hier – ich fuhr zum Geburtstag meines Onkels nach London und blieb die Nacht dort.«



»Tilling hat Sie doch begleitet?«



Der junge Mann grinste.



»So, das wissen Sie? Ja, wir sind zusammen zur Stadt gefahren, aber Tilling ist früher zurückgekommen.«



»Er ist die Nacht nicht im Gasthaus Ihres Onkels geblieben?«



»Nein. Es war kein Platz für ihn da, und außerdem ist er immer ungemütlich, wenn er getrunken hat. Mit dem letzten Zug ist er nach Hause gefahren. Der hat zuviel nachzudenken; in der letzten Zeit hat er überhaupt kein freundliches Wort für andere Leute übrig. Heute abend war er hier, aber ich konnte nichts aus ihm herausbringen. Er brummte nur mürrisch vor sich hin. Haben Sie neue Anhaltspunkte, Mr. Ferraby?«



Der Sergeant lächelte.



»Es tut mir leid, daß ich Sie enttäuschen muß. Außerdem bin ich nicht beruflich nach Marks Thornton gekommen. Ich möchte mich etwas erholen.«



Tom sah ihn argwöhnisch von der Seite an. Es erschien ihm unglaubwürdig, daß ein Detektiv von Scotland Yard seinen Urlaub in Marks Thornton verbringen wollte.



»Dann sind Sie vielleicht wegen der anderen Geschichte hier ich meine die Sache mit den gefälschten Banknoten. Wie hieß der Kerl doch gleich? Wenn ich mich nicht sehr irre, war es Briggs. Der wohnte hier, als der Mord begangen wurde. In derselben Nacht hat er hier logiert. Vater und ich haben uns oft darüber unterhalten, ob er vielleicht etwas mit der Geschichte zu tun haben könnte. Er sah allerdings nicht sehr gefährlich aus. Aber wenn man die Bilder der Schwerverbrecher in der Zeitung sieht, unterscheiden sie sich eigentlich gar nicht so sehr von anderen Leuten.«



Ferraby grinste.



»Ich glaube, wir müssen Sie nächstens noch als Detektiv anstellen«, erwiderte er und fragte dann vorsichtig, warum Tilling denn so schlechter Laune wäre.



»Die Frau würde jeden Mann zum Trinken bringen«, erklärte Tom mit Nachdruck. »Ich kann dem armen Kerl wirklich keinen Vorwurf machen; er muß ein schreckliches Leben haben! Die Frau ist sehr hübsch. Sie war Zofe, als Tilling sie kennenlernte. Natürlich laufen ihr die Männer nach. Man sagt auch, daß der Doktor –«



Er hielt inne.



»Meinen Sie Dr. Amersham?«



Tom schnitt ein Gesicht und machte sich wieder mit großem Eifer daran, den Schanktisch abzuwischen.



»Namen nenne ich nicht. Welchen Zweck hat es auch, all den Klatsch aufzuwärmen? Die Leute in Marks Thornton haben ein böses Mundwerk.«



Am Abend berichtete der Sergeant an Chefinspektor Tanner, und am nächsten Morgen machte er einen weiten Spaziergang, der ihn in die Nähe des Tillingschen Hauses führte.



In etwa hundert Meter Entfernung hielt er an, setzte sich auf einen niedrigen Zaun und rauchte seine Pfeife. Nachdem er ungefähr eine Stunde gewartet hatte, wurde seine Geduld belohnt. Eine Frau verließ das Haus, ging den Fußpfad entlang und trat dann auf die Straße hinaus.



Sie trug einen kleinen Korb und wollte allem Anschein nach ins Dorf gehen, um dort einzukaufen. Als sie an Ferraby vorbeikam, warf sie ihm einen schnellen Blick zu. Auf jeden Fall war sie sehr hübsch; sie kleidete sich gut und vorteilhaft, trug elegante Schuhe, seidene Strümpfe und einen entzückenden Hut. Ferraby bemerkte sogar eine kleine diamantenbesetzte Uhr an ihrem Handgelenk.



»Ach, entschuldigen Sie«, sprach er sie an. »Ist das große Gebäude dort drüben Marks Priory?«



Sie drehte sich sofort um, und Ferraby hatte den Eindruck, daß sie bestimmt erwartet hatte, von ihm angesprochen zu werden.



»Ja, das ist Marks Priory.«



Ihre Stimme klang etwas gewöhnlich, aber ihre Augen waren schön und leuchteten.



»Das ist aber nicht der Haupteingang«, sagte sie und wies mit dem Kopf auf das Tor. »Der liegt in der Nähe des Dorfes. Soll ich Ihnen den Weg zeigen?«



Sie sah ihn halb furchtsam von der Seite an.



»Das würde mir das größte Vergnügen machen.«



Er fühlte, daß er durch Höflichkeit hier viel erreichen konnte, ging neben ihr her und unterhielt sich zuvorkommend und freundlich mit ihr.



Ein- oder zweimal sah sie sich um, als ob sie erwartete, daß ihr jemand folgte. Beim zweitenmal wandte sich auch Ferraby um.



»Hat jemand gerufen?« fragte er.



»Ach nein«, erwiderte sie und zog die linke Schulter hoch. »Es ist nur wegen meinem Mann – ich dachte, es könnte ihm einfallen, hinter mir herzukommen. Kennen Sie das Schloß schon?«



»O ja, ich kenne dort zwei Leute.«



»Etwa Mylady?«



Sie schaute ihn argwöhnisch an, denn sie konnte sich eine Bekanntschaft zwischen einem Mann und einer Frau nicht anders vorstellen, als daß Liebe oder Zuneigung eine Rolle dabei spielten. Sosehr Lady Lebanon von allen andern Bewohnern im Dorf geachtet wurde, für Mrs. Tilling war sie auch nur eine Frau.



»Ja, ich habe Mylady getroffen.«



»Kennen Sie den jungen Lord auch?«



»Heute morgen sah ich ihn den Fahrweg entlanggehen.«



Sie warf ihm einen sonderbaren Blick zu. »Wenn Sie die Zufahrtsstraße kennen, warum fragen Sie dann nach dem Weg?«



Ferraby machte nun einen kühnen Schachzug.



»Sie wissen ganz genau, daß man einen Vorwand sucht, um eine Dame anzusprechen, die man gern kennenlernen möchte.«



Er hatte seinen Zweck vollkommen erreicht, denn sie lachte leise vor sich hin.



»Ich hatte mir das auch schon gedacht. Aber Sie bringen mich in schlechten Ruf. Die Leute reden zwar schon so viel über mich, daß es nicht mehr darauf ankommt. Kennen Sie eigentlich Dr. Amersham?« fragte sie gleichgültig, aber er merkte sofort die Absicht und ließ sich nicht täuschen.



»Ich habe ihn einmal flüchtig gesehen.«



»Er ist ein sehr liebenswürdiger Herr und außerordentlich klug. Ich bewundere solche Leute.«



Sie sprach schnell, und obwohl sie allgemeine Redensarten gebrauchte, klangen sie aus ihrem Mund doch originell.



»Klugheit und Verstand machen immer großen Eindruck auf mich«, fuhr sie fort. »Mir liegt mehr daran, daß ein Mann einen klugen Kopf hat, als daß er gut aussieht. Was Dr. Amersham nicht alles weiß ... Ich bin immer wieder erstaunt darüber. Er ist auch viel im Ausland gewesen, und ein Arzt weiß sowieso mehr als andere Leute. Meinen Sie nicht auch, Mr. –?«



»Mein Name ist Ferraby. Ist Ihr Mann denn nicht auch klug?«



»Ach, der!« erwiderte sie verächtlich. »Er ist ganz nett, aber er fällt mir auf die Nerven.«



Sie sprach rückhaltlos, und es war leicht zu erkennen, wie sie auf Personen und Ereignisse reagierte. Nach einer Weile blieb sie stehen.



»Hier ist der Fahrweg zum Herrenhaus, aber ich glaube, das wissen Sie ebensogut wie ich. Bleiben Sie lange hier?«



Ferraby, eine schlanke, große Erscheinung, war ausgesprochen ihr Typ, wenn er es auch nicht wußte.



»Ein oder zwei Tage«, erwiderte er und wurde plötzlich rot.



Isla Crane kam den Weg herunter. Als sie vorüberkam, warf sie ihm einen schnellen, erstaunten Blick zu und ging weiter, ohne zu grüßen. Dieser Blick sagte ihm zweierlei: erstens, daß sie sich an ihn erinnerte; zweitens, daß sie überrascht war, ihn in einer Unterhaltung mit der Frau des Parkwächters zu finden. Am liebsten wäre er ihr nachgeeilt und hätte ihr alles erklärt. Aber was hätte sie wohl zu einer solchen Unverschämtheit gesagt?



»Das ist Miss Crane«, erklärte Mrs. Tilling, die seine Verlegenheit nicht bemerkte, »die Sekretärin von Mylady. Sie ist furchtbar hochnäsig, und dabei sagen die Leute, daß sie kein Vermögen hat und nur von dem lebt, was sie hier auf dem Schloß verdient. Wenn man sie so daherkommen sieht, könnte man glauben, sie wäre eine Königin.«



Mrs. Tilling hatte so hart und böse gesprochen, daß sich Ferraby wunderte.



Plötzlich reichte sie ihm ihre kleine Hand, die in einem eleganten Handschuh steckte, und verabschiedete sich.



Er hatte die Empfindung, daß jemand am Fenster des Wirtshauses stand und sie beobachtete. Sicher war es Tom, denn als er ins Gasthaus eintrat, begrüßte ihn der junge Mann grinsend.



»Die hat sich also auch schon an Sie herangemacht? Wie die es bloß immer anstellt, daß sie sofort mit allen Leuten bekannt wird! Ich halte mich von ihr fern; ich bin verlobt, und mit meiner Braut ist in der Beziehung nicht zu spaßen.«



Tom trat hinter den Schanktisch.



»Ist es Ihnen noch zu früh für ein Glas Bier?«



»Nein, ich trinke immer ganz gern ein Glas«, log Ferraby.

 



Plötzlich hörte er Schritte hinter sich, und eine schwere Hand legte sich auf seine Schulter.



»Kennen Sie meine Frau?« fragte jemand.



Ferraby drehte sich gelassen um und schaute in das dunkle Gesicht des Parkwächters, dessen Augen zornig aufblitzten.



»Wenn Sie noch einmal Ihre Hand auf meine Schulter legen«, sagte er mit Nachdruck, »dann schlage ich Ihnen mit der Faust unters Kinn. Ich kenne Ihre Frau nicht – wenn Sie Mr. Tilling sind. Ich bin nur mit ihr die Straße zum Dorf entlanggegangen. Wenn Sie sonst noch etwas wissen wollen, dann fragen Sie schnell, bevor ich Sie hier hinauswerfe.«



»Ich habe ein Recht zu fragen, oder wollen Sie das bestreiten? Es soll nicht jeder Fremde meine Frau anquatschen –«



»Ich bin hier kein Fremder.« Ferraby nahm die Sache nicht mehr tragisch. »Ich bin ein Detektiv von Scotland Yard und habe ein Interesse daran, mich mit allen Leuten gutzustellen.«



Tilling erschrak und sah den jungen Beamten von der Seite an.



»Von Scotland Yard?« stotterte er. »Das wußte ich nicht. Was wollten Sie denn von meiner Frau wissen?«




10



Aber noch ehe Ferraby antworten konnte, wandte sich Tilling um und verließ das Gasthaus.



»Ist das nicht ein netter Kerl?« fragte Tom ironisch. »Aber daran ist nur die Frau schuld. Was halten Sie von ihr, Mr. Ferraby?«



»Ach, sie ist reizend und wirklich sehr schön.«



Tom nickte.



»Die macht ihren Mann noch verrückt. Passen Sie auf, der stellt nächstens noch Dummheiten an. Aber dafür kann man ihn dann nicht zur Verantwortung ziehen.«



Ferraby trank nicht gern Bier am frühen Vormittag, aber vom Gastzimmer aus konnte er die Gegend ruhig beobachten. Er sah auf die Dorfstraße hinaus und hoffte, daß Isla Crane auf diesem Weg nach Hause zurückkehren würde.



Nach einer Weile bemerkte er sie auch. Hastig setzte er sein Glas nieder, trat möglichst gleichgültig auf die Straße hinaus und grüßte sie.



»Erinnern Sie sich noch an mich, Miss Crane?«



Sie lachte ein wenig.



»Ja. Sie sind Mr. Ferraby. Haben wir uns nicht eben schon gesehen, als Sie mit – Mrs. Tilling sprachen?« fragte sie mit leichter Ironie. »Forschen Sie wieder die Leute aus, Mr. Ferraby? Warum sind Sie überhaupt hier?«



»Ich muß eine Menge von Angaben nachprüfen. Es handelt sich diesmal um einen Mann, der hier im Gasthaus wohnte und den man verhaftete, weil er gefälschte Banknoten unter die Leute brachte.«



»Ach so!« Allem Anschein nach fühlte sie sich erleichtert. Es fiel ihm aber auf, daß sie ebenso begierig war, ihn auszufragen, wie er sie. Er begleitete sie noch ein Stück Weges, aber hundert Meter vor dem Hausportal blieb sie stehen.



»Es ist besser, wenn Sie nicht weiter mitkommen, Mr. Ferraby. Sonst könnte man glauben, Sie wären nicht wegen des Mannes mit dem Falschgeld hier, sondern um den Mord in Marks Priory aufzuklären. Und das würde wahrscheinlich Mylady in große Aufregung versetzen.«



Plötzlich wandte sie sich um und sah den Fahrweg entlang. Sie besaß ein besseres Gehör als Ferraby und hatte die Schritte auf dem Kiesweg längst gehört. Gleich darauf kam ein junger Mann in Sicht, der einen leichten Flanellanzug trug und ohne Hut ging.



»Kennen Sie Lord Lebanon?« fragte sie leise.



»Ich bin ihm schon begegnet, aber ich glaube nicht, daß er sich meiner erinnert.«



»Guten Morgen, Isla.« Der junge Mann sah ihren Begleiter neugierig und fragend an. »Ach, ich kenne Sie«, sagte er dann plötzlich und kniff die Augen zusammen, als ob er scharf nachdächte. »Sie kamen mit Mr. Tanner her. Ich weiß auch Ihren Namen: Ferret ... Ferraby, sehen Sie, ich habe es doch.«



»Ein glänzendes Gedächtnis, Mylord«, entgegnete der Detektiv.



»Das ist aber auch das einzig Gute an mir! Und selbst diese Fähigkeit macht in Marks Priory keinen Eindruck. Aber was tun Sie hier? Haben Sie die arme Isla im Verhör?« Er grinste. »Mich hat niemand ausgefragt, weder Tanner noch der merkwürdige kleine Kerl, der immer bei ihm ist – dieser Sergeant Totty. Ich muß wohl sehr dumm aussehen – hast du übrigens Amersham getroffen?« fragte er Isla.



»Ich wußte nicht, daß der hier ist.«



»Oh, der ist im Schloß. Wir müßten eigentlich immer eine Flagge hissen, wenn er ankommt. Am besten wäre ein grüner Schädel mit zwei gekreuzten Knochen auf gelbem Feld.«



»Willie!« sagte sie leise und vorwurfsvoll.



Er lachte nur darüber.



»Kennen Sie eigentlich unseren Freund Amersham?« wandte er sich an Ferraby.



»Oberflächlich.«



»Das genügt auch. Es wäre selbst für einen Polizisten überraschend, wenn er ihn durch und durch kennenlernen würde. Uns fällt er hier so auf die Nerven, daß wir es kaum aushalten können.« Er sah nachdenklich auf den Detektiv. »Warum sind Sie eigentlich hier? Wegen dieser verdammten Mordgeschichte?«



»Mr. Ferraby hat mir vorhin erzählt, daß er damit nichts zu tun hat. Es handelt sich um den Mann mit den gefälschten Banknoten, der hier im Dorf war –«



»Ach ja, ich besinne mich auf ihn. Wo wohnen Sie denn, Mr. Ferraby – unten im Gasthaus? Sie hätten doch zum Schloß kommen sollen. Ich bin sicher, daß Mylady nichts dagegen hätte einwenden können. Und ich –«



Isla sah ihn scharf an, und er brach plötzlich ab.



»Ich glaube, daß es im Gasthaus sehr ungemütlich ist. Das ist direkt ein Schweinestall!«



»Aber Willie, es ist doch ein sehr anständiges Gasthaus«, sagte Isla mit Nachdruck.



»Und ich habe das beste Zimmer«, entgegnete Ferraby lächelnd. »Außerdem wunderbar gesunde Beine, auf denen ich schnell das Lokal verlassen kann, wenn es mir nicht mehr passen sollte.«



Der junge Lord lachte herzlich.



»Sie schlafwandeln doch nicht etwa?« Plötzlich wandte er sich verlegen an Isla. »Es tut mir leid, daß ich das gesagt habe.«



Ferraby sah zu seinem Erstaunen, daß sie dunkelrot geworden war.



»Sind Sie auf dem Weg zum Herrenhaus, Mr. Ferraby? Dann begleite ich Sie.«



»Nein, Mr. Ferraby ist nur mit mir gekommen und geht jetzt zum Dorf zurück.«



»Dann begleite ich Sie dorthin.«



Isla ging fort, ohne sich zu verabschieden.



»Isla, wenn du an Gilder vorbeikommst, der sich hinter den Büschen dort versteckt«, rief Lord Lebanon ihr nach, »dann sage ihm, daß ich es weiß. Er kann ruhig herauskommen und braucht sich nicht abzumühen. Ich glaube, das Gras ist sehr feucht.«



Als sie fortgingen, drehte sich Ferraby noch einmal um und sah zu seiner Verwunderung, daß Isla tatsächlich vor den Sträuchern stehengeblieben war, auf die Lebanon gezeigt hatte, und mit jemand sprach, den man nicht sehen konnte.



»Ich wußte doch, daß er dort steckt«, sagte Lord Lebanon und lachte. Dann nahm er Ferraby am Arm und ging mit ihm zusammen den Fahrweg hinunter. Da er nicht besonders groß war, reichte sein Kopf kaum an Ferrabys Schulter.



»Es gibt zwei Redensarten über einen Lord. Entweder sagt man: ›so betrunken wie ein Lord‹ oder ›so glücklich wie ein Lord‹. Betrunken bin ich noch nie gewesen, und es ist schon sehr lange her, daß ich einmal glücklich war, so lange, daß ich es beinahe vergessen habe. Sie haben wohl viel zu beobachten, Mr. Ferraby? Sie müssen den Leuten nachgehen und aufpassen, was sie tun und reden? Wenn Sie nun aber selbst einmal beobachtet Würden? Ach, ich kann Ihnen sagen, das ist eine langweilige Geschichte.«



»Haben Sie denn schon einmal unter Beobachtung gestanden?« fragte Ferraby erstaunt.



Lebanon nickte heftig.



»Obwohl Isla ihn gewarnt hat, folgt er mir«, entgegnete er ruhig.



Ferraby wandte sich um und entdeckte einen großen Mann, der langsam hinter ihnen den Fahrweg entlangging. Er erkannte einen der beiden Diener von Marks Priory.



»Es ist eine sonderbare Erfahrung, aber man gewöhnt sich mit der Zeit daran. Ich muß Ihnen etwas gestehen.« Er nahm seinen Arm aus dem Ferrabys und sah zu seinem Begleiter auf. »Wissen Sie, warum ich fragte, ob Sie mit mir ins Schloß kommen wollten? Ich wollte nur den Mann ärgern, der hinter uns hergeht. Und wenn ich sage: ärgern, dann meine ich: ihm Furcht einjagen. Wenn ich mich nicht sehr irre, hat er Sie erkannt und weiß, daß Sie ein Beamter von Scotland Yard sind. Und davor ist ihm doch etwas bang. Warum, weiß ich auch nicht. Aber man braucht im Schloß nur von Scotland Yard zu reden, dann ist es gleich so, als ob man sich in der Schreckenskammer befindet. Wo liegt eigentlich Scotland Yard?« fragte er plötzlich.



Ferraby erklärte es ihm.



»Ach so, in der Nähe des Parlaments. Ich glaube, ich kenne das Gebäude. Wenn ich in den nächsten Tagen in die Stadt komme, werde ich mich einmal ausführlich mit Ihnen und dem Beamten unterhalten, der die Untersuchung des Falles leitet; wie heißt er doch gleich – ach so, Tanner! Ich könnte ihm Dinge erzählen, die ihm geradezu Spaß machen würden.«



Sie gingen quer über die Straße zu dem Gasthaus.



»Nachdem ich nun getan habe, worüber sich alle ärgern, werde ich Sie verlassen«, sagte der Lord.



»Worüber ärgern sich denn die anderen?«



»Daß ich mich mit einem Polizeibeamten so eingehend und ernst unterhalte. Ich habe eine Ahnung, daß Gilder besonders dazu angestellt ist, das zu verhindern. Wenn er nun heute nacht unruhig schläft, freue ich mich wenigstens!«



Ferraby stand in der Tür des Gasthauses und sah Lebanon nach. Gilder folgte seinem jungen Herrn in respektvoller Entfernung.




11



Die Abende in Marks Priory schlichen meist in qualvoller Eintönigkeit dahin. Amersham war nach London zurückgekehrt, so daß Willie nicht einmal einen Menschen hatte, mit dem er sich zanken konnte. In Wirklichkeit hatte er doch ein wenig Furcht vor dem Doktor; aber manchmal konnte er ihn durch irgendeine anscheinend unschuldige Bemerkung nervös und ärgerlich machen. Nachdem er das einmal erlebt hatte, ließ er keine Gelegenheit ungenützt, es zu wiederholen.



Isla hatte sich bereits zur Ruhe gelegt, und Lady Lebanon war unheimlich schweigsam. Der junge Lord fühlte, daß seine Mutter mit ihm sprechen wollte und daß die Unterredung nicht sehr angenehm für ihn werden würde. Diese Stille bedeutete meist nichts Gutes.



»Wer war der Herr, mit dem du dich heute so lange unterhalten hast, Willie?« begann sie schließlich.



Darauf wollte sie also hinaus!



»Ach, das ist – den Namen habe ich leider vergessen. Ich habe ihn unten im Dorf getroffen.«



»Ein Polizeibeamter?«



»Ja, ich glaube«, sagte Willie äußerst gleichgültig und griff nach einer Zeitung.



»Was hast du ihm gesagt?«



»Nichts. Ich habe mir nur die Zeit vertrieben! Er wohnt in dem Gasthaus – wirklich ein netter Kerl. Er kommt von London und stellt Nachforschungen wegen des Geldfälschers an. Wenigstens hat er mir das gesagt.«



Sie biß sich auf die Unterlippe und sah ihn lange an.



»Er ist hier, um den Mord aufzuklären. Er wurde auch beobachtet, wie er mit Mrs. Tilling sprach und sie ausfragte. Hoffentlich hast du nichts verraten, Willie?«



Der junge Lord lachte laut auf.



»Ich, etwas verraten! Was sollte ich denn verraten? Ich weiß doch nicht, wer den armen Studd umgebracht hat. Vielleicht habe ich eine Ahnung, aber genau weiß ich es nicht. Und wenn ich wirklich wüßte, wer es getan hat, würde ich dem Kerl eine Kugel durch die Rippen jagen – besonders wenn es der Mann ist, den ich für den Mörder halte.«



Sie sah ihn an; ihr Blick war scharf, fast hypnotisch.



»Du sprichst sehr leichtsinnig über diese Dinge, Willie. Aber hoffentlich begreifst du, wie schwerwiegend ein solcher Verdacht ist. Selbst wenn die Beamten nichts beweisen können, tragen sie vielleicht so viel Material zusammen, daß ein vollkommen Unschuldiger ins Gefängnis gesteckt wird.«



»Der Schuldige aber auch«, entgegnete Willie rücksichtslos. »Aber ich weiß gar nicht, Mutter, warum du dir darüber Sorgen machst. Man sollte fast annehmen, du wolltest verhindern, daß der Mörder Studds verhaftet wird!«



Sie richtete sich hoch auf, aber dann seufzte sie.



»Was hast du dem Detektiv gesagt?« fragte sie aufs neue.



»Nichts.«



Er stand schnell auf und warf die Zeitung auf den Tisch.



»Der Mann hat mich lange nicht soviel gefragt wie du. Ich gehe jetzt zu Bett!«



Als er sich zur Treppe wandte, sah er Gilder auf der unteren Stufe.



»Warten Sie einen Augenblick, Mylord. Ich möchte wirklich wissen, was Sie dem Polizeibeamten gesagt haben.«



»Gilder«, rief Lady Lebanon hart, »lassen Sie den Lord vorbeigehen.«



Lebanon konnte vor Zorn und Ärger nicht sprechen. Er eilte an dem Diener vorbei die Treppe hinauf.

 



»Gilder, das hätten Sie nicht tun sollen.«



»Es tut mir leid, Mylady«, erwiderte der Mann nicht gerade unterwürfig. »Aber dieser Detektiv von Scotland Yard hat mich außerordentlich beunruhigt. Ich dachte, die Untersuchung wäre zu Ende. Ich möchte nur wissen, warum sie die Sache wieder aufgegriffen haben. Es war einer von Tanners Leuten.«



Sie nickte.



»Er wohnt unten im Gasthaus. Glauben Sie, daß die Geschichte wahr ist – ich meine, daß er Nachforschungen wegen des Geldfälschers hier anstellen will? Immerhin wäre es möglich. Er muß nicht unbedingt hergekommen sein, um den Mord aufzuklären.«



Gilder schaute sie zweifelnd an.



»Ich weiß es nicht, er ist nur ein Sergeant. Wenn etwas Wichtiges im Gange wäre, würden wir sicher den Chefinspektor selbst hier sehen. Die niederen Beamten werden doch nur mit geringeren Aufgaben betraut. Ich glaube nicht, daß er sich den Kopf über Studd zerbricht.«



»Ich möchte doch erfahren, was dieser Sergeant hier in der Gegend macht. Berichten Sie mir auf jeden Fall, wann er wieder abfährt.«



Sie nahm eine Kassette aus einer Schublade ihres Schreibtisches und ging die Treppe hinauf. Sie führte ein sehr regelmäßiges Leben, dessen Verlauf nur unterbrochen wurde, wenn unangenehme Leute wie Dr. Amersham die Ruhe ihres Daseins störten.



Ferraby machte am Abend noch einen Spaziergang. Er folgte dem Weg, den er am Morgen zurückgelegt hatte, und kam schließlich wieder zu Mr. Tillings Haus. In einem Fenster brannte noch Licht, und in der Nähe der Gartentür bemerkte er eine Frau, die einen dunklen Schal um die Schultern gelegt hatte und eine Zigarette rauchte.



»Ich dachte schon, daß Sie es wären«, sagte sie leise, als ob sie fürchtete, daß man sie hören könnte. »Ist es nicht furchtbar hier im Dorf? Sie müssen sich doch hier zu Tode langweilen.«



»Ach, es ist nicht so schlimm. Übrigens habe ich heute morgen Ihren Mann getroffen – er war sehr ärgerlich auf mich.«



Sie zuckte die Schultern.



»Das ist nichts Neues. Er ist immer auf einen böse. Heute nacht hat er Dienst auf der Nordseite des Parks, dort sind Wilddiebe gesehen worden. Wenn er tatsächlich in seinem Revier ist, dann ist er eine Dreiviertelstunde von hier entfernt.«



Plötzlich legte sie ihre Hand auf die seine.



»Es tut mir leid, daß ich Sie nicht ins Haus bitten kann. Aber würden Sie einen Spaziergang über die Felder mit mir machen?«



Er sah sie betroffen an.



»Nein, ich mache jetzt einen Spaziergang nach dem Gasthaus, und dann gehe ich zu Bett.«



Sie lachte spöttisch.



»Johnny wird Ihnen kein Haar krümmen.«



Er vermutete, daß sie mit Johnny Mr. Tilling meinte.



»Ich gehe gewöhnlich abends ein wenig spazieren. Solange ich in Sehweite vom Haus bleibe, ist es auch nicht gefährlich.«



Unvermutet änderte sich ihr Benehmen wieder.



»Wer hat Studd ermordet?« fragte sie mit harter Stimme. »Dieser gemeine Schuft!« Es klang fast wie unterdrücktes Schluchzen.



»Aber ich werde ihn finden, Mr. Ferraby – eher als die Beamten von der Polizei.«



»Studd muß ein guter Freund von Ihnen gewesen sein.«



»Er war mein Geliebter«, erklärte sie trotzig. »Ich sage Ihnen die Wahrheit. Er war der einzige auf der Welt –«



Erst nach einer Weile konnte sie weitersprechen.



»Ich wollte mich von meinem Mann scheiden lassen, denn er ist wirklich nicht höflich und anständig. Dann wollte ich Studd heiraten. Bei ihm wäre ich auch ganz anders geworden, wenn er mich von diesem schrecklichen Dorf fortgebracht hätte.«



Wieder dauerte es einige Zeit, bis sie sich gefaßt hatte.



»Ich wollte Ihnen das eigentlich schon heute morgen sagen, aber ich konnte nicht. Wenn ich jemals herausbringe, wer es getan hat, dann werde ich nicht eher ruhen, als bis ich den Mörder an den Galgen gebracht habe, ganz gleich, wer er ist.«



Es klangen unverhohlene Feindschaft und wilder Haß aus ihren Worten.



»Deshalb hatte ich gehofft, Sie würden einen Spaziergang mit mir machen; deshalb habe ich aufs sehnlichste gewünscht, daß Sie heute abend vorbeikommen möchten. Ich habe schon zwei Stunden hier gewartet. Sie haben wohl geglaubt, ich wollte ein wenig mit Ihnen flirten? Nein; die Absicht hatte ich nicht. Ich wollte nur wissen, was Sie herausgebracht haben. Ich glaubte, das wäre leicht, aber jetzt weiß ich, daß Sie es mir doch nicht sagen, selbst wenn Sie es wissen.



Er war gerade auf dem Weg zu mir, als sie ihn umbrachten«, fuhr sie ruhiger fort. »Ich hätte ja auch zu dem Maskenball gehen können, aber ich wollte nicht, daß die Leute wieder etwas zu reden hätten, besonders da Johnny an dem Abend in London war.«



»Der kam aber mit dem letzten Zug zurück. Haben Sie das nicht gewußt?«



Sie starrte ihn ungläubig an.



»Mein Mann kam erst am nächsten Morgen. In dem Punkt irren Sie sich.«



»Er fuhr am selben Abend zurück, und zwar mit dem letzten Zug.«



»Ist das wahr?« fragte sie langsam. »Das ist mir allerdings nicht bekannt. Nun haben Sie mir wenigstens etwas gesagt. Gute Nacht, Mr. Ferraby.«



Bevor er etwas erwidern konnte, war sie im Garten verschwunden. Er sah noch, wie sie die Haustür öffnete, dann ging er zu dem Gasthaus zurück. Ihr Verhalten gab ihm neue Rätsel auf, und in Gedanken suchte er eifrig nach einer Lösung.



Er hatte nicht übertrieben, als er sein gemütliches Zimmer im Gasthaus lobte. Es war ein großer, niedriger Raum mit behaglichen Möbeln. Ein breitausladendes Bett mit vier hohen Pfosten lud zur Ruhe ein.



Ferraby kleidete sich gemächlich aus, las noch eine halbe Stunde, öffnete dann den einen Fensterflügel und zog die Vorhänge vor.



Er war noch in dem Alter, in dem man tief und ruhig schläft, und im allgemeinen war er zwei Minuten, nachdem er sich niedergelegt hatte, bereits entschlummert. Aber in dieser Nacht wälzte er sich lange von einer Seite zur anderen, ehe er schließlich einnickte. Seine letzte Erinnerung war, daß die Dorfuhr Mitternacht schlug.



Häßliche Vorstellungen quälten ihn in seinen Träumen. Er ging auf dem Fahrweg und sprach mit Isla Crane, aber es kam jemand hinter ihm her und warf ihm etwas um den Hals.



»Machen Sie doch keinen Unsinn«, sagte er und hob die Hände, um Luft zu bekommen.



Aber es wurde enger und drückender. Er rang nach Atem, und sein Kopf schien zu schwellen und immer größer zu werden. Verzweifelt wehrte er sich, wachte auf und fand, daß es kein Traum war, sondern daß es um Leben und Tod ging. Eine Schlinge war um seinen Hals geknüpft und zog sich immer fester zu.



Er riß daran und fiel dabei aus dem Bett. Verzweifelt zerrte er an dem Tuch, aber es rückte und rührte sich nicht. Er war schon nahe daran, das Bewußtsein zu verlieren, als er mit einer letzten Anstrengung seine Weste packte, die er über den Stuhl gehängt hatte. Hastig suchte er darin nach seinem Taschenmesser, fand es und öffnete es. Im Augenblick höchster Not gelang es ihm auf diese Weise noch, das Tuch durchzuschneiden.



Aber es war so fest geknotet, daß er große Mühe hatte, es ganz zu entfernen. Es sauste und brauste in seinen Ohren, und er wußte kaum, was er tat. Endlich hatte er sich befreit. Eine Weile lag er auf dem Boden und atmete schwer, aber die Nachtluft brachte ihn wieder zu sich.



Er hörte, daß jemand schnell den Gang entlanglief; gleich darauf wurde die Tür geöffnet, und Tom beugte sich über ihn.



»Ist hier etwas passiert?« fragte er besorgt, knipste rasch das Licht an und stützte Ferraby. »Was ist denn geschehen?«



Gleich darauf kam auch der Gastwirt herein, und die beiden schleppten Ferraby zum offenen Fenster, so daß er sich erholen konnte.



Das Bett war fast bis zur Mitte des Zimmers gezogen worden.



Nach einigen Minuten erhob sich der Sergeant, aber seine Knie zitterten, und sein Kopf war noch ganz benommen.



»Heben Sie das für mich auf«, bat er und zeigte auf die Fetzen des roten Seidentuches. Obwohl er sich noch sehr schwach fühlte, kam ihm doch zum Bewußtsein, daß Studd mit einem ganz ähnlichen Tuch ermordet worden war. In der einen Ecke glänzte das kleine Metallschild.



Nach einer Viertelstunde hatte er sich so weit erholt, daß er eine genaue Durchsuchung d

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