Phänomenologie der Lebenswelt. Ausgewählte Texte II

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10. Notwendigkeit des Vorangehens einer Impression vor jeder Retention. Evidenz der Retention

Besteht nun das Gesetz, dass primäre Erinnerung nur in kontinuierlicher Anknüpfung an vorgängige Empfindung bzw. Wahrnehmung möglich ist? Dass jede retentionale [62]Phase nur als Phase denkbar ist, d. h. nicht auszubreiten ist in eine Strecke, die in allen Phasen identisch wäre? Man wird entschieden sagen: das ist durchaus evident. Der empirische Psychologe, der gewohnt ist, alles Psychische als bloße Abfolge von Vorkommnissen zu behandeln, wird das freilich leugnen. Er wird sagen: warum soll ein anfangendes Bewusstsein nicht denkbar sein, das mit einer frischen Erinnerung beginnt, ohne vorher eine Wahrnehmung gehabt zu haben? Es mag faktisch Wahrnehmung notwendig sein, um frische Erinnerung zu erzeugen. Es mag faktisch so sein, dass ein menschliches Bewusstsein Erinnerungen, auch primäre, erst haben kann, nachdem es Wahrnehmungen gehabt hat, aber denkbar ist auch das Gegenteil. Dem gegenüber lehren wir die apriorische Notwendigkeit des Vorangehens einer entsprechenden Wahrnehmung bzw. Urimpression vor der Retention. Man wird zunächst darauf bestehen müssen, dass eine Phase nur als Phase denkbar ist und ohne Möglichkeit einer Extension. Die Jetztphase ist nur denkbar als Grenze einer Kontinuität von Retentionen, so wie jede retentionale Phase selbst nur denkbar ist als Punkt eines solchen Kontinuums, und zwar für jedes Jetzt des Zeitbewusstseins. Nun soll aber auch eine ganze fertige Serie [394] von Retentionen nicht denkbar sein ohne vorangehende entsprechende Wahrnehmung. Darin liegt: die Serie von Retentionen, die zu einem Jetzt gehört, ist selbst eine Grenze und wandelt sich notwendig ab; das Erinnerte »sinkt immer weiter in die Vergangenheit«, aber nicht nur das – es ist notwendig etwas Gesunkenes, etwas, das notwendig eine evidente Wiedererinnerung gestattet, die es auf ein wiedergegebenes Jetzt zurückführt.

Nun wird man aber sagen: kann ich nicht eine [63]Erinnerung, auch eine primäre, an ein A haben, während A in Wahrheit gar nicht stattgehabt hat? Gewiss. Es gilt ja sogar noch mehr. Ich kann auch eine Wahrnehmung von A haben, während A in Wirklichkeit gar nicht statthat. Und somit behaupten wir nicht etwa dies als Evidenz, dass, wenn wir eine Retention von A haben (vorausgesetzt, dass A ein transzendentes Objekt ist), A vorangegangen sein muss, aber wohl, dass A wahrgenommen gewesen sein muss. Mag es nun primär beachtet worden sein oder nicht, es stand leibhaft in bewusster, wenn auch unbemerkter oder nebenbei bemerkter Weise da. Handelt es sich aber um ein immanentes Objekt, so gilt: wenn eine Folge, ein Wechsel, eine Veränderung von immanenten Daten »erscheint«, so ist sie auch absolut gewiss. Und ebenso ist innerhalb einer transzendenten Wahrnehmung die zu ihrem Aufbau wesentlich gehörige immanente Folge absolut gewiss. Es ist grundverkehrt, zu argumentieren: Wie kann ich im Jetzt von einem Nicht-Jetzt wissen, da ich das Nicht-Jetzt, das ja nicht mehr ist, nicht vergleichen kann mit dem Jetzt (nämlich dem im Jetzt vorhandenen Erinnerungsbild). Als ob zum Wesen der Erinnerung gehörte, dass ein im Jetzt vorhandenes Bild für eine andere ihm ähnliche Sache supponiert würde und ich wie bei bildlicher Darstellung vergleichen könnte und vergleichen müsste. Erinnerung bzw. Retention ist nicht Bildbewusstsein, sondern etwas total anderes. Das Erinnerte ist freilich jetzt nicht – sonst wäre es nicht Gewesenes, sondern Gegenwärtiges, und in der Erinnerung (Retention) ist es nicht als jetzt gegeben, sonst wäre Erinnerung bzw. Retention eben nicht Erinnerung, sondern Wahrnehmung (bzw. Ur-Impression). Ein Vergleichen des nicht mehr Wahrgenommenen, sondern bloß [64]retentional Bewussten mit etwas außer ihm hat gar keinen Sinn. Wie ich in der Wahrnehmung das Jetztsein erschaue und in der extendierten Wahrnehmung, so wie sie sich konstituiert, das dauernde Sein, so erschaue [395] ich in der primären Erinnerung das Vergangene, es ist darin gegeben, und Gegebenheit von Vergangenem ist Erinnerung.

Wenn wir jetzt die Frage wieder aufnehmen, ob ein retentionales Bewusstsein denkbar ist, das nicht Fortsetzung eines impressionalen Bewusstseins wäre, so müssen wir sagen: es ist unmöglich, denn jede Retention weist in sich auf eine Impression zurück. »Vergangen« und »Jetzt« schließen sich aus. Identisch dasselbe kann zwar jetzt und vergangen sein, aber nur dadurch, dass es zwischen dem Jetzt und Vergangen gedauert hat.

11. Reproduktion von Zeitobjekten (sekundäre Erinnerung)

Wir bezeichneten die primäre Erinnerung oder Retention als einen Kometenschweif, der sich an die jeweilige Wahrnehmung anschließt. Durchaus davon zu scheiden ist die sekundäre Erinnerung, die Wiedererinnerung. Nachdem die primäre Erinnerung dahin ist, kann eine neue Erinnerung von jener Bewegung, von jener Melodie auftauchen. Den bereits angedeuteten Unterschied beider gilt es nun ausführlicher klarzulegen. Wenn an die aktuelle Wahrnehmung, sei es während ihres Wahrnehmungsflusses, sei es in kontinuierlicher Einigung nach ihrem ganzen Ablauf Retention sich anschließt, so liegt es zunächst nahe (wie Brentano es getan hat) zu sagen: die aktuelle Wahrnehmung [65]konstituiert sich aufgrund von Empfindungen die primäre Erinnerung aufgrund von Phantasien als Präsentation, als Vergegenwärtigung. Ebenso gut nun, wie sich unmittelbar Vergegenwärtigungen an Wahrnehmungen anschließen, können auch ohne Anschluss an Wahrnehmungen selbständig Vergegenwärtigungen sich einstellen, und das sind die sekundären Erinnerungen. Dagegen erheben sich aber (wie wir schon in der Kritik der Brentano’schen Theorie ausführten11) ernste Bedenken. Betrachten wir einen Fall sekundärer Erinnerung: Wir erinnern uns etwa einer Melodie, die wir jüngst in einem Konzert gehört haben. Dann ist es offenbar, dass das ganze Erinnerungsphänomen mutatis mutandis genau dieselbe Konstitution hat wie die Wahrnehmung der Melodie. Sie hat wie die Wahrnehmung einen bevorzugten Punkt: dem Jetztpunkt der Wahrnehmung entspricht ein Jetztpunkt der Erinnerung. Wir durchlaufen die Melodie in der Phantasie, wir hören »gleichsam« zuerst den ersten, dann den zweiten Ton usw. Jeweils ist immer ein Ton (bzw. eine Tonphase) im Jetztpunkt. Die vorangegangenen [396] sind aber nicht aus dem Bewusstsein ausgelöscht. Mit der Auffassung des jetzt erscheinenden, gleichsam jetzt gehörten Tones verschmelzen die primäre Erinnerung an die soeben gleichsam gehörten Töne und die Erwartung (Protention) der ausstehenden. Der Jetztpunkt hat für das Bewusstsein wieder einen Zeithof, der sich in einer Kontinuität von Erinnerungsauffassungen vollzieht. Die gesamte Erinnerung der Melodie besteht in einem Kontinuum von solchen Zeitkontinuen, bzw. von Auffassungskontinuen der beschriebenen Art. Endlich aber, wenn die vergegenwärtigte Melodie abgelaufen ist, schließt sich an dieses Gleichsam-Hören eine [66]Retention an, eine Weile klingt das Gleichsam-Gehörte noch nach, eine Auffassungskontinuität ist noch da, aber nicht mehr als gehörte. Alles ist sonach gleich mit der Wahrnehmung und primären Erinnerung, und doch ist es nicht selbst Wahrnehmung und primäre Erinnerung. Wir hören ja nicht wirklich und haben nicht wirklich gehört, indem wir in der Erinnerung oder Phantasie eine Melodie Ton für Ton sich abspielen lassen. Im früheren Falle hieß es: Wir hören wirklich, das Zeitobjekt ist selbst wahrgenommen, die Melodie ist selbst Gegenstand der Wahrnehmung. Und ebenso sind die Zeiten, Zeitbestimmungen, Zeitverhältnisse selbst gegeben, wahrgenommen. Und wiederum: Nachdem die Melodie verklungen ist, haben wir sie nicht mehr wahrgenommen als gegenwärtige, aber wir haben sie noch im Bewusstsein, sie ist nicht jetzige Melodie, aber soeben vergangene. Ihr Ebenvergangensein ist nicht bloße Meinung, sondern gegebene Tatsache, selbst gegebene, also »wahrgenommene«. Im Gegensatz dazu ist in der Wiedererinnerung die zeitliche Gegenwart erinnerte, vergegenwärtigte. Und ebenso ist die Vergangenheit erinnerte, vergegenwärtigte, aber nicht wahrgenommene, nicht primär gegebene und angeschaute Vergangenheit.

Andererseits ist die Wiedererinnerung selbst gegenwärtig, originär konstituierte Wiedererinnerung und nachher soeben gewesene. Sie baut sich selbst in einem Kontinuum von Urdaten und Retentionen auf und konstituiert (oder vielmehr: re-konstituiert) in eins damit eine immanente oder transzendente Dauergegenständlichkeit (je nachdem sie immanent oder transzendent gerichtet ist). Die Retention dagegen erzeugt keine Dauergegenständlichkeiten (weder originär noch reproduktiv), sondern hält nur das [67]Erzeugte im Bewusstsein und prägt ihm den Charakter des »soeben vergangen« auf.

[397] 12. Die Vollzugsmodi der Reproduktion

Die Wiedererinnerung kann nun in verschiedenen Vollzugsformen auftreten. Wir vollziehen sie entweder in einem schlichten Zugreifen, wie wenn eine Erinnerung »auftaucht« und wir auf das Erinnerte in einem Blickstrahl hinsehen, wobei das Erinnerte vage ist, vielleicht eine bevorzugte Momentanphase anschaulich beibringt, aber nicht wiederholende Erinnerung ist. Oder wir vollziehen wirklich nacherzeugende, wiederholende Erinnerung, in der in einem Kontinuum von Vergegenwärtigungen sich der Zeitgegenstand wieder vollständig aufbaut, wir ihn gleichsam wieder wahrnehmen, aber eben nur gleichsam. Der ganze Prozess ist Vergegenwärtigungsmodifikation des Wahrnehmungsprozesses mit allen Phasen und Stufen bis hinein in die Retentionen: aber alles hat den Index der reproduktiven Modifikation.

Das schlichte Hinsehen, Hinfassen finden wir auch unmittelbar aufgrund der Retention, so, wenn eine Melodie abgelaufen ist, die innerhalb der Einheit einer Retention liegt, und wir auf ein Stück zurückachten (reflektieren), ohne es wieder zu erzeugen. Das ist ein Akt, der für jedes in sukzessiven Schritten gewordene, auch in Schritten der Spontaneität, z. B. der Denkspontaneität gewordene, möglich ist. Auch Denkgegenständlichkeiten sind ja sukzessiv konstituiert. Es scheint also, dass wir sagen können: Gegenständlichkeiten, die sich originär in Zeitprozessen [68]gliedweise oder phasenweise konstituierend aufbauen (als Korrelate kontinuierlich und vielgestaltig zusammenhängender und einheitlicher Akte), lassen sich in einem Zurückschauen so erfassen, als wären sie in einem Zeitpunkt fertige Gegenstände. Aber dann weist diese Gegebenheit eben auf eine andere, »ursprüngliche« zurück.

 

Das Hinsehen oder Zurücksehen auf das retentional Gegebene – und die Retention selbst – erfüllt sich nun in der eigentlichen Wiedervergegenwärtigung: das als soeben gewesen Gegebene erweist sich als identisch mit dem Wiedererinnerten.

Weitere Unterschiede zwischen primärer und sekundärer Erinnerung werden sich ergeben, wenn wir sie zur Wahrnehmung in Beziehung setzen.

13. Wahrnehmung als Gegenwärtigung im Unterschied von Retention und Wiedererinnerung

Die Rede von »Wahrnehmung« bedarf allerdings hier noch einiger Erläuterung. Bei der »Wahrnehmung der Melodie« scheiden wir den jetzt gegebenen Ton und nennen ihn den [398] »wahrgenommenen«, und die vorübegegangenen Töne und nennen sie »nicht wahrgenommen«. Andererseits nennen wir die ganze Melodie eine wahrgenommene, obschon doch nur der Jetztpunkt ein wahrgenommener ist. Wir verfahren so, weil die Extension der Melodie in einer Extension des Wahrnehmens nicht nur Punkt für Punkt gegeben ist, sondern die Einheit des retentionalen Bewusstseins die abgelaufenen Töne noch selbst im Bewusstsein »festhält« und [69]fortlaufend die Einheit des auf das einheitliche Zeitobjekt, auf die Melodie bezogenen Bewusstseins herstellt. Eine Objektivität derart wie eine Melodie kann nicht anders als in dieser Form »wahrgenommen«, originär selbst gegeben sein. Der konstituierte, aus Jetztbewusstsein und retentionalem Bewusstsein gebaute Akt12 ist adäquate Wahrnehmung des Zeitobjekts. Dieses will ja zeitliche Unterschiede einschließen, und zeitliche Unterschiede konstituieren sich eben in solchen Phasen, in Urbewusstsein, Retention und Protention. Ist die meinende Intention auf die Melodie, auf das ganze Objekt gerichtet, so haben wir nichts als Wahrnehmung. Richtet sie sich aber auf den einzelnen Ton für sich, oder einen Takt für sich, so haben wir Wahrnehmung, solange eben dies Gemeinte wahrgenommen ist, und bloße Retention, sobald es vergangen ist. In objektiver Hinsicht erscheint der Takt dann nicht mehr als »gegenwärtig«, sondern »vergangen«. Die ganze Melodie aber erscheint als gegenwärtig, solange sie noch erklingt, solange noch zu ihr gehörige, in einem Auffassungszusammenhang gemeinte Töne erklingen. Vergangen ist sie erst, nachdem der letzte Ton dahin ist.

Diese Relativierung überträgt sich, wie wir nach den früheren Ausführungen sagen müssen, auf die einzelnen Töne. Jeder konstituiert sich in einer Kontinuität von Tondaten, und nur eine punktuelle Phase ist jeweils als jetzt gegenwärtig, während die anderen sich als retentionaler Schweif anschließen. Wir können aber sagen: ein Zeitobjekt ist wahrgenommen (bzw. impressional bewusst), solange es noch in stetig neu auftretenden Urimpressionen sich erzeugt.

Wir haben sodann die Vergangenheit selbst als [70]wahrgenommen bezeichnet. In der Tat, nehmen wir nicht das Vergehen wahr, sind wir in den beschriebenen Fällen nicht direkt des Ebengewesenseins, des »soeben vergangen« in seiner Selbstgegebenheit, in der Weise des Selbstgegebenseins bewusst? [399] Offenbar deckt sich der hier obwaltende Sinn von »Wahrnehmung« nicht mit dem früheren. Es bedarf weiterer Scheidungen. Wenn wir in der Erfassung eines Zeitobjektes wahrnehmendes und erinnerndes (retentionales) Bewusstsein unterscheiden, so entspricht dem Gegensatz von Wahrnehmung und primärer Erinnerung am Objekt der Gegensatz zwischen »jetzt gegenwärtig« und »vergangen«. Zeitobjekte, das gehört zu ihrem Wesen, breiten ihre Materie über eine Zeitstrecke aus, und solche Objekte können sich nur konstituieren in Akten, die eben die Unterschiede der Zeit konstituieren. Zeitkonstituierende Akte sind aber Akte – und zwar wesensmäßig –, die auch Gegenwart und Vergangenheit konstituieren, sie haben den Typus jener »Zeitobjekt-Wahrnehmungen«, die wir nach ihrer merkwürdigen Auffassungskonstitution ausführlich beschrieben haben. Zeitobjekte müssen sich so konstituieren. Das besagt: Ein Akt, der den Anspruch erhebt, ein Zeitobjekt selbst zu geben, muss in sich »Jetztauffassungen«, »Vergangenheitsauffassungen« usw. enthalten, und zwar in der Weise ursprünglich konstituierender.

Beziehen wir nun die Rede von Wahrnehmung auf die Gegebenheitsunterschiede, mit denen Zeitobjekte auftreten, dann ist der Gegensatz von Wahrnehmung die hier auftretende primäre Erinnerung und primäre Erwartung (Retention und Protention), wobei Wahrnehmung und Nicht-Wahrnehmung [71]kontinuierlich ineinander übergehen. In dem Bewusstsein direkt anschauender Erfassung eines Zeitobjektes, z. B. einer Melodie, ist wahrgenommen der jetzt gehörte Takt oder Ton oder Tonteil, und nicht wahrgenommen das momentan als vergangen Angeschaute. Die Auffassungen gehen hier kontinuierlich ineinander über, sie terminieren in einer Auffassung, die das Jetzt konstituiert, die aber nur eine ideale Grenze ist. Es ist ein Steigerungskontinuum gegen eine ideale Grenze hin; ähnlich wie das Kontinuum der Rot-Spezies gegen ein ideales reines Rot konvergiert. Wir haben in unserem Falle aber nicht einzelne Auffassungen, den einzelnen Rotnuancen entsprechend, die ja für sich gegeben sein können, sondern wir haben immer nur und können dem Wesen der Sache gemäß nur haben Kontinuitäten von Auffassungen oder vielmehr ein einziges Kontinuum, das ständig sich modifiziert. Teilen wir dieses Kontinuum irgendwie in zwei angrenzende Teile, so ist derjenige, der das Jetzt einschließt, bzw. es zu konstituieren befähigt ist, ausgezeichnet und konstituiert das »grobe« Jetzt, das sofort wieder in ein feineres Jetzt und in ein Vergangen zerfällt, sowie wir es weiter teilen usw.

[400] Wahrnehmung ist also hier ein Aktcharakter, der eine Kontinuität von Aktcharakteren zusammenschließt und durch den Besitz jener idealen Grenze ausgezeichnet ist. Eine ebensolche Kontinuität ohne diese ideale Grenze ist bloße Erinnerung. Im idealen Sinne wäre dann Wahrnehmung (Impression) die Bewusstseinsphase, die das reine Jetzt konstituiert, und Erinnerung jede andere Phase der Kontinuität. Aber das ist eben nur eine ideale Grenze, etwas Abstraktes, das nichts für sich sein kann. Zudem [72]bleibt es dabei, dass auch dieses ideale Jetzt nicht etwas toto coelo Verschiedenes ist vom Nicht-Jetzt, sondern kontinuierlich sich damit vermittelt. Und dem entspricht der kontinuierliche Übergang von Wahrnehmung zu primärer Erinnerung.

14. Wahrnehmung als selbstgebender Akt im Gegensatz zur Reproduktion

Der Wahrnehmung oder Selbstgebung der Gegenwart, die ihr Korrelat hat im gegebenen Vergangenen, tritt nun ein anderer Gegensatz gegenüber, der von Wahrnehmung und Wiedererinnerung, sekundärer Erinnerung. In der Wiedererinnerung »erscheint« uns ein Jetzt, aber es »erscheint« in einem ganz anderen Sinne, als in dem das Jetzt in der Wahrnehmung erscheint. Dieses Jetzt ist nicht »wahrgenommen«, d. h. selbst gegeben, sondern vergegenwärtigt. Es stellt ein Jetzt vor, das nicht gegeben ist. Und ebenso stellt der Ablauf der Melodie in der Wiedererinnerung ein »soeben vergangen« vor, gibt es aber nicht. Auch in bloßer Phantasie ist jedes Individuelle ein zeitlich irgendwie Extendiertes, hat sein Jetzt, sein Vorher und Nachher, aber das Jetzt, das Vorher und Nachher ist ein bloß eingebildetes, wie das ganze Objekt. Hier steht also ein ganz anderer Wahrnehmungsbegriff in Frage. Wahrnehmung ist hier der Akt, der etwas als es selbst vor Augen stellt, der Akt, der das Objekt ursprünglich konstituiert. Das Gegenteil ist Vergegenwärtigung, Re-Präsentation als der Akt, der ein Objekt nicht selbst vor Augen stellt, sondern eben [73]vergegenwärtigt, gleichsam im Bilde vor Augen stellt, wenn auch nicht gerade in der Weise eines eigentlichen Bildbewusstseins. Hier ist von einer kontinuierlichen Vermittlung der Wahrnehmung mit ihrem Gegenteil gar keine Rede. Vor[401]hin war das Vergangenheitsbewusstsein, nämlich das primäre, keine Wahrnehmung, weil Wahrnehmung als der das Jetzt originär konstituierende Akt genommen war. Das Vergangenheitsbewusstsein konstituiert aber nicht ein Jetzt, vielmehr ein »soeben gewesen«, ein dem Jetzt intuitiv Vorangegangenes. Nennen wir aber Wahrnehmung den Akt, in dem aller »Ursprung« liegt, der originär konstituiert, so ist die primäre Erinnerung Wahrnehmung. Denn nur in der primären Erinnerung sehen wir Vergangenes, nur in ihr konstituiert sich Vergangenheit, und zwar nicht repräsentativ, sondern präsentativ. Das Soebengewesen, das Vorher im Gegensatz zum Jetzt, kann nur in der primären Erinnerung direkt erschaut werden; es ist ihr Wesen, dieses Neue und Eigentümliche zur primären, direkten Anschauung zu bringen, genauso wie es das Wesen der Jetztwahrnehmung ist, das Jetzt direkt zur Anschauung zu bringen. Wiedererinnerung hingegen wie Phantasie bietet uns bloß Vergegenwärtigung, sie ist »gleichsam« dasselbe Bewusstsein wie der zeitschaffende Jetztakt und Vergangenheitsakt, »gleichsam« dasselbe, aber doch modifiziert. Das phantasierte Jetzt stellt ein Jetzt vor, gibt aber nicht selbst ein Jetzt, das phantasierte Vorher und Nachher stellt ein Vorher und Nachher nur vor usw.

[74]15. Die Bedeutung der Wiedererinnerung für die Konstitution des Bewusstseins von Dauer und Folge

Etwas anders stellt sich die konstitutive Bedeutung von primärer und sekundärer Erinnerung dar, wenn wir statt der Gegebenheit dauernder Gegenständlichkeiten die Gegebenheit der Dauer und Folge selbst ins Auge fassen.

Nehmen wir an, A trete als Urimpression auf und dauere eine Weile fort und in eins mit der Retention von A in gewisser Entwicklungsstufe trete B auf und konstituiere sich als dauerndes B. Dabei ist das Bewusstsein während dieses ganzen »Prozesses« Bewusstsein desselben »in die Vergangenheit rückenden« A, desselben im Fluss dieser Gegebenheitsweisen und desselben nach seiner zu seinem Seinsgehalt gehörenden Seinsform »Dauer«, nach allen Punkten dieser Dauer. Dasselbe gilt von B und dem Abstand der beiden Dauern bzw. ihrer Zeitpunkte. Dazu tritt aber hier etwas Neues: B folgt auf A, es ist eine Folge zweier dauernder Daten gegeben mit einer bestimmten Zeitform, einer Zeitstrecke, die das Nacheinander umspannt. Das Sukzessionsbewusstsein ist ein [402] originär gebendes Bewusstsein, es ist »Wahrnehmung« von diesem Nacheinander. Wir betrachten nun die reproduktive Modifikation dieser Wahrnehmung, und zwar die Wiedererinnerung. Ich »wiederhole« das Bewusstsein dieser Sukzession, ich vergegenwärtige sie mir erinnernd. Das »kann« ich, und zwar »beliebig oft«. A priori liegt Vergegenwärtigung eines Erlebnisses im Bereich meiner »Freiheit«. (Das »ich kann« ist ein praktisches »ich kann« und nicht eine »bloße Vorstellung«.) Wie sieht nun die [75]Vergegenwärtigung der Erlebnisfolge aus, und was gehört zu ihrem Wesen? Man wird zunächst sagen: ich vergegenwärtige mir erst A und dann B; hatte ich ursprünglich A – B, so habe ich jetzt (wenn der Index Erinnerung besagt) Aʹ – Bʹ. Aber das ist unzureichend, denn es hieße, dass ich jetzt eine Erinnerung Aʹ habe und »nachher« eine Erinnerung Bʹ, und zwar im Bewusstsein einer Folge dieser Erinnerungen. Aber dann hätte ich eine »Wahrnehmung« der Folge dieser Erinnerungen, und kein Erinnerungsbewusstsein davon. Ich muss es also darstellen durch (A – B)ʹ. Dieses Bewusstsein schließt in der Tat ein Aʹ, Bʹ, aber auch ein –ʹ ein. Freilich ist die Folge nicht ein drittes Stück, als ob die Schreibweise der Zeichen nacheinander die Folge bezeichnete. Immerhin kann ich das Gesetz hinschreiben:

(A – B)ʹ = Aʹ – ʹBʹ

in dem Sinne: es ist ein Bewusstsein der Erinnerung an A und an B vorhanden, aber auch ein modifiziertes Bewusstsein des »es folgt auf A das B«.

Fragen wir nun nach dem originär gebenden Bewusstsein für eine Folge dauernder Gegenständlichkeiten – und schon der Dauer selbst –, so finden wir, dass Retention und Wiedererinnerung notwendig dazugehören. Die Retention konstituiert den lebendigen Horizont des Jetzt, ich habe in ihr ein Bewusstsein des »soeben vergangen«, aber originär konstituiert sich dabei – etwa im Festhalten des soeben gehörten Tones – nur die Zurückschiebung der Jetztphase bzw. der fertig konstituierten und in dieser Fertigkeit sich nicht mehr konstituierenden und nicht mehr wahrgenommenen Dauer. In »Deckung« mit diesem sich [76]zurückschiebenden »Resultat« kann ich aber eine Wiedererzeugung vornehmen. Dann ist mir die Vergangenheit der Dauer gegeben, eben als »Wiedergegebenheit« der Dauer schlechthin gegeben. Und es ist zu beachten: Nur vergangene Dauern kann ich in wiederholenden Akten »originär« anschauen, wirklich anschauen, identifizieren und als identisches Objekt vieler Akte gegenständlich haben. Die Gegenwart kann ich nachleben, aber sie [403] kann nicht wiedergegeben sein. Wenn ich, wie ich jederzeit kann, auf eine und dieselbe Sukzession zurückkomme und sie als dasselbe Zeitobjekt identifiziere, so vollziehe ich eine Sukzession von wiedererinnernden Erlebnissen in der Einheit eines übergreifenden Sukzessionsbewusstseins, also

 

(A – B) – (A – B)ʹ – (A – B)ʹʹ …

Die Frage ist: wie sieht dieses Identifizieren aus? Zunächst ist die Folge eine Folge von Erlebnissen: das Erste die originäre Konstitution einer Folge von A – B, das Zweite die Erinnerung an diese Folge, dann noch einmal dieselbe usw. Die Gesamtfolge ist originär gegeben als Präsenz. Von dieser Folge kann ich abermals eine Erinnerung haben, von einer solchen Wiedererinnerung abermals eine solche in infinitum. Wesensgesetzlich ist nicht nur jede Erinnerung iterierbar in dem Sinne, dass beliebig hohe Stufen Möglichkeiten sind, sondern es ist das auch eine Sphäre des »Ich kann«. Prinzipiell ist jede Stufe eine Tätigkeit der Freiheit (was Hemmnisse nicht ausschließt). Wie sieht die erste Wiedererinnerung jener Sukzession aus?

[(A – B) – (A – B)ʹ]ʹ.

[77]Dann kann ich nach dem früheren Gesetz ableiten, dass darin steckt (A – B)ʹ und [(A – B)ʹ]ʹ, also eine Erinnerung zweiter Stufe, und zwar im Nacheinander; und natürlich auch die Erinnerung an die Folge (–ʹ). Wiederhole ich noch einmal, so habe ich noch höhere Erinnerungsmodifikationen und zugleich das Bewusstsein, dass ich mehrmals nacheinander eine wiederholende Vergegenwärtigung vollzogen habe. Dergleichen kommt sehr gewöhnlich vor. Ich klopfe zweimal auf den Tisch, ich vergegenwärtige mir das Nacheinander, dann achte ich darauf, dass ich zuerst die Folge wahrnehmungsmäßig gegeben hatte und dann mich erinnert habe; dann achte ich darauf, dass ich eben dieses Achten vollzogen hatte, und zwar als drittes Glied einer Reihe, die ich mir wiederholen kann usw. Das alles ist besonders in der phänomenologischen Arbeitsmethode sehr gewöhnlich.

In der Folge gleicher (inhaltsidentischer) Objekte, die nur in der Sukzession und nicht als Koexistenz gegeben sind, haben wir nun eine eigentümliche Deckung in der Einheit eines Bewusstseins: eine sukzessive Deckung. Natürlich uneigentlich gesprochen, denn sie sind ja auseinandergelegt, sind als Folge bewusst, getrennt durch eine Zeitstrecke.

Und doch: haben wir im Nacheinander ungleiche Objekte mit gleichen abgehobenen Momenten, so laufen gewissermaßen »Gleichheitslinien« von einem zum anderen, und bei Ähnlichkeit Ähnlich[404]keitslinien. Wir haben hier eine Aufeinanderbezogenheit, die nicht in beziehendem Betrachten konstituiert ist, die vor aller »Vergleichung« und allem »Denken« liegt als Voraussetzung der Gleichheitsanschauung und Differenzanschauung. [78]Eigentlich »vergleichbar« ist nur das Ähnliche, und »Unterschied« setzt »Deckung« voraus, d. i. jene eigentliche Einigung des im Übergang (oder in der Koexistenz) verbundenen Gleichen.

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