Das Jahr 2000

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Sechstes Kapitel

Dr. Leete unterbrach seine Rede, und ich schwieg und versuchte mir ein allgemeines Bild von den Veränderungen in der Gesellschaft zu machen, welche die großartige Revolution, von welcher wir gesprochen, hervorgerufen hatte.

Endlich sagte ich: »Der Gedanke an eine solche Erweiterung der Regierungstätigkeit ist, um das Geringste zu sagen, wahrhaft überwältigend.«

»Erweiterung!« sagte er, »wo ist die Erweiterung?«

»Zu meiner Zeit«, erwiderte ich, »waren die Regierungsfunktionen, streng genommen, darauf beschränkt, für Erhaltung des Friedens zu sorgen und das Volk gegen seine Feinde zu verteidigen, d.h. auf Militär- und Polizeigewalt. «

»Um des Himmels willen, wer sind diese Feinde?« rief Dr. Leete. »Sind es Frankreich, England, Deutschland, oder Hunger, Kälte und Armut? In Ihrer Zeit waren die Regierungen gewöhnt, bei dem geringsten internationalen Missverständnis sich an den Leibern der Bürger zu vergreifen und sie zu Hunderttausenden dem Tod und der Verstümmelung preiszugeben und ihren Wohlstand wie Wasser zu verschwenden; und alles dies meistens ohne den Schein von Vorteil für die Opfer. Wir haben jetzt keine Kriege und unsere Regierung keine Kriegsmacht, sondern um jeden ihrer Bürger gegen Hunger, Kälte und Armut zu schützen und um für alle seine physischen und geistigen Bedürfnisse zu sorgen, nimmt sie es auf sich, seine Industrie zu leiten. Nein, Herr West, wenn Sie darüber nachdenken, werden Sie zu der Überzeugung kommen, dass in Ihrer Zeit, nicht in der unsrigen die Erweiterung der Regierungsfunktionen ganz ungewöhnlich war. Nicht für die besten Zwecke würden wir jetzt unseren Regierungen solche Gewalten einräumen, wie damals für die schlimmsten eingeräumt wurden.«

»Ohne Vergleiche anstellen zu wollen«, sagte ich, »in meiner Zeit würden die Demagogie und die Korruption unserer Politiker unüberwindliche Hindernisse für die Regierung gewesen sein, die Leitung der nationalen Industrie zu übernehmen. Wir würden gedacht haben, nichts sei schlimmer, als den Politikern die Reichtum schaffende Maschinerie des Landes anzuvertrauen. Seine materiellen Interessen waren viel zu sehr der Spielball der Parteien.«

»Sie hatten gewiss recht«, entgegnete Dr. Leete, »aber das ist jetzt alles anders geworden. Wir haben weder Parteien noch Politiker, und was Demagogie und Korruption betrifft, so haben diese Worte nur noch eine historische Bedeutung.«

»Die menschliche Natur muss sich sehr verändert haben«, sagte ich.

»Ganz und gar nicht«, war Dr. Leetes Antwort, »aber die Lebensbedingungen haben sich verändert und mit ihnen die Beweggründe des menschlichen Handelns. Die Gesellschaft gibt der Niedertracht keine Prämien mehr. Aber das werden Sie erst verstehen, wenn Sie uns besser werden kennen gelernt haben.«

»Aber Sie haben mir noch nicht gesagt, wie Sie das Arbeiterproblem gelöst haben. Wir haben von dem Kapitalprobleme gesprochen«, sagte ich. »Nachdem die Nation übernommen hatte, die Fabriken, Maschinen, Eisenbahnen, Landgüter, Bergwerke und überhaupt das Kapital des Landes zu leiten, so blieb doch immer noch die Arbeiterfrage übrig. Mit der Übernahme der Verantwortung für das Kapital hat die Nation die schwierige Stellung eines Kapitalisten auf sich genommen.«

»In dem Augenblick, da die Nation die Verantwortung für das Kapital übernahm, verschwanden diese Schwierigkeiten«, erwiderte Dr. Leete. »Die nationale Organisation der Arbeit unter einheitlicher Leitung umfasste die vollständige Lösung dessen, was in Ihren Tagen unter Ihrem System mit Recht als das unlösbare Arbeiterproblem angesehen wurde. Als die Nation einziger Arbeitgeber wurde, wurden die Bürger, als solche, die Arbeiter und wurden je nach den Bedürfnissen der Industrie verwendet.«

»Das heißt«, fiel ich ein, »Sie haben lediglich das Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht unserer Zeit auf die Arbeiterfrage angewandt.«

»Ja«, sagte Dr. Leete, »das war die natürliche Folge davon, dass die Nation alleiniger Kapitalist geworden war. Das Volk war schon daran gewöhnt, dass jeder gesunde Bürger die Pflicht hatte, seine Dienste der Verteidigung der Nation zu widmen. Ebenso klar war es, dass jeder Bürger seinen Teil an industriellen wie an geistigen Dienstleistungen zur Unterhaltung der Nation beitragen sollte; jedoch erst als die Nation der Arbeitgeber geworden war, konnte die Gesamtheit der Bürger diese Dienste mit Rücksicht auf Billigkeit leisten. Solange der Arbeit gebende Faktor in hundert oder tausend Individuen und Korporationen geteilt war, unter denen irgendein Einverständnis weder gewünscht, noch auch möglich war, solange konnte nicht von Organisation der Arbeit die Rede sein. Damals ereignete es sich beständig, dass große Mengen von Arbeitern, die arbeiten wollten, keine Arbeit finden konnten, und auf der anderen Seite konnten diejenigen, die wollten, einen Teil oder alle Verbindlichkeit zur Arbeit umgehen.«

»Arbeit«, erwiderte ich, »ist jetzt wohl obligatorisch?«

»Sagen Sie lieber, sie ist selbstverständlich«, entgegnete Dr. Leete. »Sie wird für so natürlich und vernunftgemäß angesehen, dass wir gar nicht mehr daran denken, sie obligatorisch zu nennen. Wer zur Arbeit gezwungen werden müsste, würde für unglaublich verächtlich gelten. Dennoch würde die absolute Unvermeidlichkeit nur ungenügend ausgedrückt sein, wenn man sie obligatorisch nennen wollte. Unsere ganze soziale Ordnung beruht so vollständig auf derselben, dass, wenn es überhaupt denkbar wäre, dass sich eine Person ihr entzöge, der letzteren gar keine Mittel für ihren Unterhalt bleiben würden. Sie würde sich selbst von der Welt ausgeschlossen, sich von der Gesellschaft abgeschnitten, kurz, sie würde Selbstmord begangen haben.«

»Ist die Dienstzeit in dieser Industriearmee fürs ganze Leben?«

»Keineswegs; sie beginnt später und endet früher als die durchschnittliche Arbeitsperiode in Ihren Tagen. Ihre Werkstätten waren voll von Kindern und alten Leuten, aber wir betrachten die Jugendzeit der Erziehung geweiht und widmen die Zeit, wenn die physischen Kräfte zu ermüden anfangen, der Gemächlichkeit und angenehmen Ruhe. Die Zeit für den Industriedienst ist vierundzwanzig Jahre, die mit Vollendung der Erziehung im einundzwanzigsten Jahre beginnt und mit dem fünfundvierzigsten Jahre endet. Nach diesem Jahre bleibt der Bürger zwar befreit von regelmäßiger Arbeit, kann aber vorkommenden Falls bei einem plötzlichen Anwachsen der Nachfrage nach Arbeit einberufen werden, bis er das Alter von fünfundfünfzig Jahren erreicht hat; aber solche Einberufungen kommen selten, ja fast gar nicht vor. Der 15. Oktober jeden Jahres ist unser Aushebungstag. Diejenigen, welche da das 21. Jahr erreicht haben, werden zum Industriedienst eingezogen, und diejenigen, welche nach 24jährigem Dienste das Alter von 45 Jahren erreicht haben, scheiden ehrenvoll aus dem Dienst. Dies ist das große Ereignis in unserem Jahre, der Tag, nach dem wir alle anderen Ereignisse berechnen, unsere Olympiade, nur dass sie sich jährlich wiederholt.«

Siebentes Kapitel

»Nachdem Sie Ihre industrielle Armee ausgehoben haben«, sagte ich, »beginnt, nach meiner Meinung, die Hauptschwierigkeit, denn hier hört die Analogie mit der militärischen Armee auf. Die Soldaten haben alle dasselbe, und zwar etwas sehr Einfaches zu tun, nämlich die Handgriffe mit ihrer Waffe zu üben, zu marschieren, Wache zu stehen. Aber Ihre Armee muss ein paar hundert verschiedene Handwerke und Berufe lernen und ausüben. Welches Verwaltungs-Talent ist der Aufgabe gewachsen, für jedes einzelne Individuum in einer großen Nation das passende Handwerk und Geschäft auszuwählen?«

»Die Verwaltung hat hiermit nichts zu tun.«

»Wer sonst trifft aber die Wahl?« fragte ich.

»Jedermann für sich selbst je nach seiner natürlichen Anlage, und man gibt sich die größte Mühe, diese Anlage zu entdecken. Das Prinzip für unsere industrielle Armee ist, dass die geistigen und körperlichen Anlagen eines Menschen darüber entscheiden, was er mit größtem Vorteil für die Nation und mit der meisten Befriedigung seiner selbst arbeiten kann. Da die Verpflichtung zum Dienst in irgend einer Form nicht zu umgehen ist, so verlässt man sich wegen der Entscheidung über die besondere Art des Dienstes für jeden einzelnen Mann auf dessen freiwillige Wahl, welche allerdings einer notwendigen Regulierung unterworfen ist. Die Befriedigung des Arbeiters während seiner Dienstzeit hängt davon ab, dass seine Beschäftigung nach seinem Geschmack ist; deshalb beobachten Eltern und Lehrer von früher Kindheit an die Anzeigen besonderer Fähigkeiten ihrer Kinder. Anleitung zu industriellen Handgriffen findet keinen Raum in unserem Erziehungssystem, dieses ist auf allgemeine und humanistische Bildung gerichtet, aber ein theoretischer Unterricht über die verschiedenen Industrien wird erteilt und unsere Jugend wird beständig angehalten, die Werkstätten zu besuchen, und wird oft auf lange Ausflüge mitgenommen, um mit besonderen Industrien vertraut zu werden. Gewöhnlich hat ein junger Mann lange ehe er eingezogen wird, und wenn er Geschmack an einem besonderen Berufe gefunden hat, sehr viel Information über denselben sich angeeignet. Hat er dagegen keine besondere Vorliebe und trifft, bei sich bietender Gelegenheit, keine Wahl, so wird er einem Beruf zugewiesen, der keine besondere Geschicklichkeit erfordert und vielleicht Mangel an Arbeitskraft hat.«

»Es ist doch aber gewiss nicht möglich«, sagte ich, »dass die Zahl derer, die sich freiwillig für ein Gewerbe melden, sich grade mit der Zahl von Arbeitern deckt, die man bedarf. Sie wird gewöhnlich über oder unter dem Bedürfnis sein.«

»Die Zahl der Freiwilligen muss stets dem Bedürfnis entsprechen«, erwiderte Dr. Leete. »Hierfür hat die Verwaltung zu sorgen. Das Verhältnis derer, die sich zu einem Gewerbe melden, wird genau überwacht. Wenn ein auffallender Überschuss von Anmeldungen für ein gewisses Geschäft wahrzunehmen ist, so beweist dies, dass dasselbe besonders beliebt ist. Das Gegenteil ist Beweis für die Beschwerlichkeit desselben. Die Aufgabe der Verwaltung ist es nun, die Vorzüge des einen Gewerbes, was die Arbeit betrifft, mit denen eines anderen auszugleichen, damit alle Gewerbe für die betreffenden Personen gleiche Anziehung haben. Dies geschieht dadurch, dass die Arbeitszeit je nach der Beschwerlichkeit der Arbeit abgekürzt wird. So haben die leichteren Gewerbe die längste, die schwierigeren, wie z.B. die Bergwerkarbeiten, die kürzeste Arbeitszeit. Es gibt keine Theorie, keine Regel a priori, nach welcher die Anziehungskraft der einzelnen Geschäfte bemessen wird. Indem die Verwaltung eine Klasse von Arbeitern von Lasten befreit und sie anderen Klassen auferlegt, folgt sie lediglich der Ansicht der Arbeiter selbst, welche sich in der Anmeldung ausspricht. Als Grundsatz gilt, dass die Arbeit des einen nicht schwerer sein soll, als die des anderen und dass die Arbeiter selbst darüber entscheiden sollen. Für Anwendung dieser Regel gibt es keine Grenze. Wenn eine Beschäftigung so beschwerlich und anstrengend sein sollte, dass, um Freiwillige zu bekommen, die Tagesarbeit auf zehn Minuten herabgesetzt werden müsste, so würde es geschehen. Wenn selbst dann niemand die Arbeit tun wollte, so bliebe sie eben ungetan. Aber in Wirklichkeit natürlich reicht eine mäßige Herabsetzung der Arbeitszeit oder Gewährung anderer Vorteile hin, für jede notwendige Arbeit die nötigen Kräfte zu sichern. Wenn aber die unvermeidlichen Schwierigkeiten einer notwendigen Arbeit so groß wären, dass keine dafür gebotene Vorteile die Arbeiter zur Übernahme bewegen könnten, so brauchte die Verwaltung sie nur als »Extra« auszuschreiben und denjenigen, welche sie ausführen würden, den besonderen Dank der Nation in Aussicht zu stellen, um einen Zulauf von Freiwilligen zu erzielen. Unsere jungen Leute sind sehr ehrgeizig und lassen eine solche Gelegenheit nicht ungenutzt vorübergehen. Es versteht sich natürlich von selbst, dass die freiwillige Wahl eines Berufes von dessen Gesundheit für Leib und Leben abhängig ist. Gesundheit und Sicherheit sind allgemeine Bedingungen für alle Gewerbe. Die Nation verstümmelt und schlachtet ihre Arbeiter nicht zu Tausenden hin, wie die Privatkorporationen und Kapitalisten es zu Ihrer Zeit getan haben.«

 

»Wenn nun mehr sich zu einem Gewerbe melden, als gebraucht werden, wie wird dann die Entscheidung unter den Applikanten getroffen?« fragte ich.

»Diejenigen, welche sich schon als noch ungeschulte Arbeiter und in ihrer Lehrzeit das beste Lob erworben haben, erhalten den Vorzug. Niemand jedoch, der jahrelang in seinem Wunsch beharrt, zu zeigen, was er in einem Berufe leisten kann, wird zurückgewiesen. In Betreff der Möglichkeit eines plötzlich eintretenden Mangels an Arbeitern in einem Gewerbe, oder der Notwendigkeit, die Arbeitskraft zu vermehren, muss ich beifügen, dass die Verwaltung sich zwar auf das System, die Gewerbe durch Freiwillige zu versehen, verlässt, aber immer sich das Recht vorbehält, besondere Freiwillige auszusuchen, oder aus irgendeinem Berufe die erforderliche Zahl auszuheben. Gewöhnlich aber können alle diese Bedürfnisse aus der Klasse der noch unausgebildeten, gewöhnlichen Arbeiter befriedigt werden.«

»Wie wird diese Klasse der gewöhnlichen Arbeiter rekrutiert?« fragte ich. »Gewiss tritt hier niemand freiwillig ein.«

»Zu dieser Klasse gehören alle neuen Rekruten während der ersten drei Jahre ihrer Dienstzeit. Erst nach dieser Periode, während welcher ein junger Mann von seinen Vorgesetzten zu jeder Arbeit bestellt werden kann, darf er einen speziellen Beruf wählen. Von diesen drei Jahren strenger Disziplin kann niemand befreit werden.«

»Für ein industrielles System scheint mir dies eine vortreffliche Einrichtung«, sagte ich, »aber wie steht es mit den Männern, die der Nation mit dem Kopfe, nicht mit der Hand dienen? Sie können doch natürlich nicht ohne Kopfarbeiter sein. Wie werden sie aus denen ausgesucht, die als Feldarbeiter und Handwerker dienen? Das verlangt eine sehr vorsichtige Wahl.«

»Allerdings«, entgegnete Dr. Leete, »hierbei ist die größte Vorsicht geboten; deshalb überlassen wir auch jedem Manne selbst, sich darüber zu entscheiden, ob er ein Kopf- oder ein Handarbeiter werden will. Am Ende der dreijährigen Periode, die jeder als gewöhnlicher Arbeiter dienen muss, kann er nach seinem Belieben sich entscheiden, ob er sich der Kunst oder einem sonstigen geistigen Beruf widmen, ob er Feldarbeiter oder Handwerker werden will. Fühlt er, dass er bessere Arbeit mit seinen geistigen als mit seinen körperlichen Kräften tun kann, so findet er hinreichend Gelegenheit, die Echtheit seines vermuteten Talents zu prüfen, es auszubilden und dann seinen Beruf auszuüben. Die Schulen für Technologie, Medizin, Malerei, Musik, für Schauspielkunst und jede höhere Bildung stehen bedingungslos jedem Bewerber offen.«

»Sind dann nicht die Schulen gedrängt voll von jungen Leuten, deren einziger Beweggrund ist, sich von Arbeit zu befreien?«

Dr. Leete lächelte mit leiser Ironie und sagte: »Ich versichere Sie, kein Mensch tritt leicht in eine solche Schule mit der Absicht, der Arbeit zu entgehen. Die sind für diejenigen bestimmt, welche eine gewisse Fähigkeit für die betreffenden Lehrgegenstände haben, und wer diese nicht besitzt, würde lieber die doppelte Arbeitszeit in seinem Handwerk aushalten, als sich bemühen, mit den Schulklassen gleichen Schritt zu halten. Viele verkennen auch ihren Beruf, und wenn sie finden, dass sie den Ansprüchen nicht gewachsen sind, treten sie aus und kehren in den industriellen Dienst zurück. Das wirft keinen Makel auf diese Leute, denn es ist die Absicht, alle zu ermutigen, ihre etwaigen Talente, deren Vorhandensein erst durch einen Versuch festgestellt werden kann, auszubilden. Die wissenschaftlichen Schulen Ihrer Zeit konnten sich nur durch die Anzahl ihrer Schüler halten, und es scheint üblich gewesen zu sein, an Leute, welche später in den Beruf getreten sind, Zeugnisse der Reifheit zu geben, die sie nicht verdient haben. Unsere Schulen sind nationale Institute, und ihre Prüfungen bestanden zu haben, ist ein unzweifelhafter Beweis für besondere Fähigkeiten.«

»Diese Gelegenheit für berufliche Bildung«, fuhr Dr. Leete fort, »steht jedem Manne bis zu seinem fünfunddreißigsten Jahre offen, später werden keine Studenten mehr aufgenommen, weil nur noch zu kurze Zeit bis zu ihrer Entlassung aus dem Dienste der Nation übrig bleiben würde. In Ihren Tagen mussten die jungen Leute sich sehr jung für ihren Beruf entscheiden und trafen infolgedessen oft eine unglückliche Wahl. Heutzutage erkennen wir an, dass sich die natürlichen Fähigkeiten bei den einen später entwickeln als bei anderen, und deshalb bleibt die Wahl, die schon mit vierundzwanzig Jahren getroffen werden kann, noch elf Jahre länger offen. Ich muss noch bemerken, dass, unter gewissen Beschränkungen, das Recht, den Beruf zu wechseln, auch bis zum fünfunddreißigsten Jahre offen bleibt.«

Jetzt äußerte ich eine Frage, die mir schon ein Dutzend Mal auf den Lippen geschwebt hatte, eine Frage, die zu meiner Zeit als größte Schwierigkeit für Lösung des industriellen Problems angesehen worden war. »Es ist wunderbar«, sagte ich, »dass Sie noch mit keinem Worte erwähnt haben, wie die Lohnfrage behandelt wird. Da die Nation der alleinige Arbeitgeber ist, so muss die Regierung die Höhe der Löhne festsetzen und bestimmen, wie viel jeder einnehmen soll, von den Ärzten bis zu den Tagelöhnern. Soviel ich sagen kann, würde dieser Plan bei uns niemals haben durchgeführt werden können, und ich kann nicht einsehen, wie es jetzt möglich ist, es sei denn, dass sich die menschliche Natur geändert hat. Zu meiner Zeit war niemand mit seinem Lohn oder Gehalt zufrieden. Selbst wenn er wusste, dass er genug erhielt, war er doch überzeugt, dass sein Nachbar zuviel habe, was geradeso schlimm war. Wenn die allgemeine Unzufriedenheit in diesem Punkte, anstatt sich in Verwünschungen und Streiks gegen unzählige Arbeitgeber zu zersplittern, sich gegen einen einzigen konzentrierte, nämlich die Regierung, so würde diese wohl, und wenn sie noch so stark wäre, keine zwei Zahltage erlebt haben.«

Dr. Leete brach in ein herzliches Lachen aus.

»Sehr wahr, sehr wahr«, sagte er, »ein allgemeiner Ausstand würde dem ersten Zahltage gefolgt sein, und ein Streik gegen die Regierung ist eine Revolution.«

»Wie vermeiden Sie also«, fragte ich, »eine Revolution an jedem Zahltage? Hat ein wunderbarer Rechenmeister ein neues System des Kalküls erfunden, welches alle bei Auswerfung des genauen und verhältnismäßigen Wertes aller Arten von Dienstleistungen, mit dem Kopfe oder den Muskeln, mit der Hand oder der Stimme, mit dem Ohr oder dem Auge, befriedigt? Oder hat sich die menschliche Natur verändert, so dass niemand sich um seine eigenen Angelegenheiten, sondern jeder um die seines Nachbarn kümmert? Eines oder das andere hiervon muss die Sache erklären.«

»Weder das eine noch das andere«, war die lachende Antwort meines Wirtes. »Aber nun, Herr West«, fuhr er fort, müssen Sie daran denken, dass Sie nicht nur mein Gast, sondern auch mein Patient sind, und mir gestatten, Ihnen Schlaf zu verordnen, ehe wir weiter hierüber sprechen. Es ist nach drei Uhr.«

»Diese Verordnung ist gewiss sehr weise«, sagte ich, »ich will nur hoffen, dass sie ausgeführt werden kann.«

»Dafür will ich sorgen«, erwiderte der Doktor. Und er tat es denn auch, denn er gab mir ein Weinglas voll irgend etwas, was mich, sobald mein Kopf die Kissen berührte, in tiefen Schlaf fallen machte.

Achtes Kapitel

Als ich erwachte fühlte ich mich ungemein erfrischt, blieb noch lange im Halbschlafe liegen und erfreute mich des Gefühls körperlichen Behagens. Die Eindrücke des gestrigen Tages, mein Erwachen, und zu finden, dass es das Jahr 2000 war, der Anblick des neuen Boston, mein Wirt und Familie, und das Wunderbare, das ich gehört hatte, dies alles war mir überraschend neu. Mir war es, als befände ich mich wie zu Hause in meinem Schlafzimmer und die Bilder meines halb wachenden, halb schlafenden Zustandes gaukelten mir Vorgänge aus meinem früheren Leben vor. Die Ereignisse des Dekorationstages, mein Gang mit Edith und ihren Eltern nach dem Gottesacker und das Mittagessen nach unserer Rückkehr schwebten vor meinem schlaftrunkenen Geiste. Ich erinnerte mich wie außerordentlich hübsch Edith ausgesehen hatte und dachte an unsere bevorstehende Heirat; aber kaum hatten meine Gedanken angefangen, diese entzückende Aussicht auszumalen, so wurden meine Träumereien durch die Erinnerungen an den Brief unterbrochen, den ich gestern Abend von dem Baumeister bekommen hatte, und der mir mitteilte, dass die neuen Streiks die Vollendung meines Hauses auf unbestimmte Zeit verschoben hätten. Der Verdruss, den ich in der Erinnerung tatsächlich empfand, regte mich auf. Es fiel mir ein, dass ich um elf Uhr eine Zusammenkunft mit dem Baumeister haben sollte; aber als ich die Augen öffnete, um auf die am Fußende meines Bettes stehende Uhr zu sehen, fand mein Blick keine Uhr und ich bemerkte, dass ich nicht in meinem Zimmer war. Ich sprang von meinem Lager auf und blickte wild in dem fremden Zimmer umher.

Ich muss so minutenlang gesessen und um mich gestarrt haben, ohne den Schlüssel zu meiner Identität finden zu können. Es lässt sich gar nicht aussprechen, welche Seelenqualen ich in meiner Hilflosigkeit und in meinem Hinstarren in eine grenzenlose Leere erduldete, noch dazu, da ich nicht mehr wusste wer ich war. Hoffentlich brauche ich diese Erfahrung in meinem Leben nicht ein zweites Mal zu machen.

Ich weiß nicht, wie lange dieser Zustand gedauert hatte - es schien eine Unendlichkeit - da kam wie ein Blitz die Erinnerung zurück. Ich wusste nun wer und wo ich war, und wie ich hierher gekommen, und dass die Erscheinungen eines Lebens, scheinbar von gestern, sich auf eine Generation bezogen, die schon lange in Staub zerfallen war. Ich sprang aus dem Bette und stand mitten im Zimmer, die Hände mit aller Kraft gegen die Schläfen pressend, die zu zerspringen drohten. Dann sank ich vorwärts wieder auf das Lager, begrub das Gesicht in die Kissen und blieb regungslos liegen. Der unvermeidliche Rückschlag von dieser Aufregung, das geistige Fieber, als erste Wirkung meines schrecklichen Erlebnisses war gekommen. Nachdem ich zum Bewusstsein meiner wirklichen Lage gekommen war, war die Krisis eingetreten und ich lag da, die Zähne zusammengebissen, mit bebender Brust, klammerte mich mit der Kraft eines Rasenden an die Bettpfosten und rang mit dem Wahnsinn. Alles hatte sich von meinem Geiste abgelöst, die gewohnten Empfindungen, Gedankenassoziationen, Begriffe von Dingen und Personen, alles hatte sich aufgelöst, den Zusammenhang verloren und brodelte in einem unauflöslichen Chaos. Da gab es keine Anhaltspunkte, nichts war stetig; nur der Wille blieb, und war der menschliche Wille stark genug, zu diesem wogenden Meere zu sagen: »Schweig' und verstumme?« Ich wagte nicht, einen Gedanken zu fassen. Jeder Versuch darüber nachzudenken, was mich befallen hatte und was dies Alles in sich schloss, machte mich schwindeln. Der Gedanke, dass ich zwei Personen in mir vereinigte, begann mich zu verwirren. Ich wusste, dass ich auf dem Punkte war, den Verstand zu verlieren. Wenn ich mit meinen Gedanken so liegen bliebe, war ich verloren. Ich musste Zerstreuung irgendwelcher Art, wenigstens körperliche Anstrengung haben. Ich sprang auf, kleidete mich schnell an, öffnete die Tür meines Zimmers und ging die Treppe hinab. Es war noch sehr früh, kaum völlig Tag, und ich fand niemand in dem unteren Teile des Hauses. In dem Vorsaale hing ein Hut; ich öffnete die Haustüre, welche so leicht verwahrt war, dass man sehen konnte, Diebstahl war im neuen Boston nicht zu befürchten, und trat auf die Straße. Zwei Stunden lang ging oder lief ich durch die Straßen der Stadt, namentlich in dem auf der Halbinsel gelegenen Teile der Stadt. Nur ein Altertumsforscher, der den Kontrast zwischen dem heutigen Boston und dem des 19. Jahrhunderts kennt, kann sich einen Begriff von den Überraschungen machen, die sich mir bei jedem Schritte boten. Als ich am Tage zuvor die Stadt vom Hausdache aus überblickte, erschien sie mir allerdings fremd, aber nur im Allgemeinen. Wie vollständig die Veränderung war, wurde mir erst jetzt klar, da ich durch die Straßen ging. Die wenigen alten Marksteine, welche übrig geblieben waren, verstärkten nur diesen Eindruck, ohne sie würde ich gedacht haben, ich sei nur in einer fremden Stadt. Du kannst als Kind deine Geburtsstadt verlassen und wenn du nach fünfzig Jahren zurückkehrst, sie in vielen Punkten verändert finden, du wirst erstaunt, aber nicht völlig verwirrt sein. Du bist dir bewusst, dass eine lange Zeit vergangen, und dass auch Veränderungen in dir selbst vorgegangen sind. Du erinnerst dich dunkel der Stadt, wie du sie als Kind gekannt; aber bei mir war kein Bewusstsein davon, dass Zeit vergangen war, für mich war es erst gestern, vor wenigen Stunden gewesen, dass ich durch diese Straßen gegangen, worin ich jetzt bei jedem Schritte die vollständigste Veränderung wahrnahm. Das Bild von der alten Stadt war so frisch in meinem Geiste, dass es dem Eindrucke, den die neue Stadt machte, nicht weichen wollte, bald schien die alte, bald die neue Stadt Wirklichkeit. Alles was ich sah war auf diese Weise verschwommen, wie die Gesichter auf einer Gesellschaftsfotografie.

 

Schließlich stand ich wieder an dem Hause, von dem ich ausgegangen war. Meine Füße müssen mich instinktmäßig zu meinem alten Heim getragen haben, denn ich hatte kein klares Bewusstsein, dass ich dahin zurückkehrte. Das Haus war für mich nicht heimischer als jedes andere in dieser Stadt einer anderen Generation, auch die Bewohner desselben waren mir nicht weniger fremd als alle anderen Männer und Frauen auf der Welt. Wäre die Haustüre verschlossen gewesen, so würde mir eingefallen sein, dass ich kein Recht hatte einzutreten, und würde umgekehrt sein, aber sie gab dem Drucke meiner Hand nach, und indem ich unsicheren Schrittes durch die Flur ging, betrat ich durch eine hier befindliche Tür ein Gemach. Ich warf mich in einen Stuhl und bedeckte meine brennenden Augen mit den Händen, die Schrecken des Fremdseins auszuschließen. Meine Verwirrung hatte einen so hohen Grad erreicht, dass ich fast krank wurde. Wie kann ich den Schmerz dieser Augenblicke, oder das demütigende Gefühl der Hilflosigkeit beschreiben? In meiner Verzweiflung stöhnte ich laut. Ich begann zu fühlen, dass, wenn mir nicht irgendwoher Hilfe käme, ich wahnsinnig werden würde. Und in diesem Augenblicke kam Hilfe. Ich hörte das Rauschen eines Vorhanges und blickte auf. Edith Leete stand vor mir. Ihr schönes Angesicht war voll tiefsten Mitgefühls.

»Was ist geschehen, Mr. West?« fragte sie. »Ich war hier als Sie eintraten, sah Ihr trübseliges Aussehen, und als ich Sie stöhnen hörte, konnte ich nicht länger schweigen. Was ist Ihnen geschehen? Wo sind Sie gewesen? Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

Während sie sprach hielt sie mit einer Bewegung von Teilnahme ihre Hände vielleicht unwillkürlich hin. Jedenfalls, ich ergriff sie und hielt sie fest wie ein Ertrinkender das ihm zugeworfene Seil festhält. Als ich in ihr teilnehmendes Gesicht und ihre von Mitleid feuchten Augen blickte, hörte es in meinem Kopfe auf zu wirbeln. Das zarte menschliche Mitgefühl, welches sich in dem sanften Druck ihrer Finger aussprach, hatte mir die nötige Hilfe gebracht. Ihre Wirkung, zu beruhigen und zu trösten, war wie die eines wundertätigen Trankes.

»Gott segne Sie«, sagte ich nach einigen Augenblicken. »Er muss Sie mir geschickt haben. Ich glaube, ich hätte den Verstand verloren, wenn Sie nicht gekommen wären.« Hier kamen ihr die Tränen in die Augen.

»Oh, Mr. West!« rief sie. »Für wie herzlos müssen Sie uns halten! Wie konnten wir Sie so lange sich selbst überlassen! Aber es ist vorüber jetzt, nicht wahr? Sie fühlen sich besser.«

»Ja«, sagte ich, »Ihnen danke ich's. Wenn Sie nicht gleich wieder gehen, werde ich mich bald wiederfinden.«

»Gewiss, ich gehe nicht fort«, sagte sie mit einem Zucken in ihrem Gesichte, das ihr Mitgefühl beredter aussprach, als viele Worte getan haben würden. »Sie dürfen uns nicht für so herzlos halten, als es den Anschein hat, da wir Sie so sich selbst überlassen haben. Ich habe letzte Nacht kaum ein Auge geschlossen und musste immer denken wie sonderbar Sie sich heute morgen beim Erwachen fühlen würden; aber mein Vater sagte, Sie würden lange schlafen. Er meinte, es wäre besser für Sie, Ihnen anfänglich nicht zu viel Mitgefühl zu zeigen, sondern zu versuchen, Sie zu zerstreuen und Sie empfinden zu lassen, dass Sie unter Freunden seien.«

»Und das haben Sie mich in der Tat fühlen lassen«, antwortete ich. »Doch, Sie werden begreifen, was für eine Erschütterung es ist, auf einmal hundert Jahre zu überspringen; obgleich ich das gestern Abend nicht so sehr fühlte, hatte ich doch heute morgen ganz sonderbare Empfindungen.« Während ich ihre Hände hielt und ihr in die Augen sah, konnte ich über meinen Zustand schon wieder scherzen.

»Niemand dachte, dass es Ihnen einfallen könnte, schon so früh am Morgen allein in die Stadt zu gehen«, fuhr sie fort. »Wo sind Sie gewesen, Mr. West?«

Ich erzählte ihr nun, wie ich es oben getan habe, meine Erlebnisse dieses Morgens von meinem ersten Erwachen bis zu dem Augenblicke, da sie vor mir stand. Sie war während meiner Erzählung ganz überwältigt von schmerzlichem Mitleid, und versuchte nicht, obwohl ich eine ihrer Hände freigegeben hatte, mir auch die andere zu entziehen, da sie wahrscheinlich sah, wie wohl es mir tat, sie zu halten.

»Ich kann mir einen schwachen Begriff davon machen, was Sie empfunden haben müssen«, sagte sie. »Es muss schrecklich gewesen sein. Und zu denken, dass Sie in diesem Kampfe allein gelassen worden sind! Können Sie uns das jemals vergeben?«

»Aber es ist jetzt alles vorbei. Sie haben es für den Augenblick wenigstens ganz vertrieben«, sagte ich.

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