Drei Frauenschicksale

Текст
Автор:
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

Aber, wird jemand fragen, wie konnte sie dies alles leisten?

Indem sie sich überanstrengte. Es gab Zeiten, wo sie nicht mehr als vier bis fünf Stunden täglich schlief; und sie verwendete nie genügende Sorgfalt auf ihre Gesundheit. Daß sie trotz ihrer schwächlichen Konstitution doch im Ganzen gesund blieb, kam wohl von ihren im übrigen hygienischen Lebensgewohnheiten. Sie liebte Bäder und körperliche Bewegung, war äußerst einfach und mäßig im Essen und Trinken, verabscheute alle stimulierenden Mittel; selbst die bevorzugte Gesellschaft der Russin, die Zigarette, benützte sie nur gelegentlich. Sogar Tee trank sie weniger unmäßig als die meisten Russinnen. All dies hatte zur Folge, daß sie selbst bei der äußersten Überanstrengung ihre Nerven einigermaßen beherrschen konnte.

Vor dem »nervös« werden hatte sie übrigens dieselbe Abneigung wie davor, sich im geringsten männlich auszunehmen. Ihr nach einer Krankheit kurz geschnittenes Haar, mit dem man sie auf älteren Porträts sieht, ließ sie wieder wachsen und war stolz, als sie es mühsam gelernt hatte, den dunklen Zopf zu einem schönen Knoten aufzustecken. Sie war nie auf etwas anderes stolz, als wenn es ihr gelungen war, eine Handarbeit auszuführen oder eine Toilette anzuordnen, denn sie wußte, daß sie in der Richtung des spezifisch »Weiblichen« am wenigsten begabt war. Auf praktischem Gebiete war sie sorglos wie ein Kind oder ein Künstler, konnte aber doch ein lebhaftes Interesse für die kleinen Dinge des Alltagslebens zeigen, wenn diese ihre Freunde betrafen. Sie war überaus dankbar für jede geringste Hilfeleistung oder Freundlichkeit, bereit, jedem guten Rat zu folgen und eifrig bestrebt, alle kleinen Forderungen des Lebens zu erfüllen, soweit sie dies vermochte – aber von Herzen froh, wenn sie davon befreit wurde. Namentlich traf dies auf das Briefschreiben zu, wogegen sie eine bei lebhaft sprechenden Naturen häufig vorkommende Abneigung empfand.

Die Schwierigkeit, den kleinen wie den großen Forderungen des Lebens gerecht zu werden, wuchs beständig. Und diese Schwierigkeit war gerade zum Zeitpunkt ihres Todes größer denn je. Sie hatte den Drang erwachen gefühlt, wieder eine große mathematische Arbeit zu beginnen und kämpfte zwischen dem Wunsche, sie sogleich in Angriff zu nehmen und der Lust, einige ihrer vielen literarischen Entwürfe auszuarbeiten. Unter dem vielen, was sie in Arbeit hatte, war auch eine Novelle mit Tschernischewsky – dem Verfasser von »Was tun?« – als Helden. Auch ihre »Erinnerungen« beabsichtigte sie fortzusetzen, und eine besonders interessante Episode wäre vermutlich die von ihren und ihrer Schwester Eindrücken während der Pariser Kommune 1871 geworden.

Sie hatte auch beabsichtigt, eine Jugendnovelle, »Der Privatdozent«, die Dostojewskys lebhaften Beifall gefunden hatte, umzuarbeiten und hatte den Plan zu zwei Romanen entworfen, »Vae victis« und einen anderen, der an der Riviera spielen sollte. Sie hatte eine Sammlung Skizzen aus Frankreich herausgeben wollen, teils von der Weltausstellung 1889, teils andere, von denen zwei (»Amor auf dem Markte« und »Der Hund«) sie selbst besonders interessierten. Und schließlich hat sie einen Entwurf hinterlassen, der an Reichtum der Phantasie und psychologischer Genialität vielleicht alle ihre anderen Arbeitspläne übertrifft: »Wenn es keinen Tod mehr geben wird.« Das Drama »Bis zum Tode und nach dem Tode« ist nur eine von ihr und Anne-Charlotte Leffler bewerkstelligte Umarbeitung eines Dramenentwurfes von Sonjas einige Jahre vor ihr verstorbenen Schwester, Madame Jaclard.

Zwischen den Schwestern verblieb das Verhältnis immer das innigste, und Sonjas Bemühung, Madame Jaclards Arbeit auf die Bühne zu bringen, war nur einer der vielen Beweise dieser Zuneigung. Bedeutungsvoller war eine andere Handlung: daß Sonja Kovalevska bei der Nachricht, daß ihr Schwager, der Kommunard Jaclard 1871 gefangen genommen sei, mit ihrem Mann in das von den Versailler Truppen belagerte Paris eilte. Es gelang dem Ehepaare, sich in die Stadt zu schleichen, während die Kugeln rings um sie pfiffen. Sonja suchte die Schwester auf und spendete ihr den Trost und die Hilfe, deren sie so sehr bedurfte. Dann floh Sonja aus Paris zu ihrem Vater nach Rußland und wußte ihn zu bewegen, nach Frankreich zukommen und dort seinen Einfluß zugunsten des Schwiegersohnes geltend zu machen. Die Vermittlung des russischen Generals zeigte sich wirksam, und es wurde Jaclard ermöglicht, aus dem Gefängnis zu entfliehen.

Im Hochsommer von Sonjas Leben, einer Zeit der großen Gefühle und des übersprudelnden Produktionsreichtums, brach plötzlich der Tod herein. Und gerade weil Leben, ein so intensives Leben Sonjas Merkmal war, erscheint der Tod in diesem Falle unfaßbarer als sonst.

Selbst war sie seit vielen Jahren und aus vielen Gründen mit dem Todesgedanken vertraut. Unter anderem, weil sie wußte, daß ihr Herz schwach war. Aber wenn es einen Zeitpunkt in ihrem Leben gab, wo sie selbst den Tod nicht gewählt hätte, so war es dieser, wo sie sich reicher an Arbeitsenergie und harmonischer fühlte als seit langer Zeit.

Sie hatte ihre Weihnachtsferien in Beaulieu an der Riviera verbracht, wo sie in einer kleinen russischen Kolonie etwas von dem Milieu des Heimatlandes genoß, dessen sie für ihre schriftstellerische Produktion so sehr bedurfte und wo sie diese auch von geistreichen und sympathischen Landsleuten ermutigt fand, namentlich von dem Manne, dem sie die Liebe ihres spät erwachten Herzens geschenkt hatte.

Nach einigen in Berlin verbrachten Tagen reiste sie über die dänischen Inseln nach Kopenhagen und zog sich auf dieser nächtlichen Fahrt in Wind und Regen eine Erkältung zu, von der sie sich sehr angegriffen fühlte, als sie Mittwoch, den 4. Februar nach Stockholm kam. Aber ihr Vorsatz, sich nicht »Zeit zu nehmen«, krank zu sein, hielt sie aufrecht, so daß sie am Freitag ihre Vorlesungen beginnen konnte – und auch an einer Abendgesellschaft bei Freunden teilnahm, wo sie sich jedoch so elend fühlte, daß sie bald nach Hause fuhr. Erst Sonnabend mittag legte sie sich zu Bett, und obgleich die Krankheit – eine Lungenentzündung – ernst schien, ahnte doch niemand, wie ernst sie war oder daß man während der beiden folgenden Tage eigentlich nur einem Todeskampf beiwohnte. Die Ärzte meinten, daß die Krankheit durch eine heftige Infektion entstanden sei. Auf der Reise nach Berlin waren alle Eisenbahnen voll tuberkulöser Personen, die – durch die damals neu entdeckte Lymphe Kochs veranlaßt – dorthin reisten. Wäre das Herz stark gewesen, so hätte sich das Ende vielleicht hinausschieben lassen – aber eine Rettung scheint nach dem, was die Obduktion zeigte, ausgeschlossen gewesen zu sein. Sonja hatte eine Ahnung, daß sie diese Krankheit vielleicht nicht überleben würde, und beobachtete mit einer gewissen Unruhe die schlechten, mit einer gewissen Befriedigung die guten Symptome – beides in sehr stiller Weise. Anspruchslos und dankbar für Freundlichkeit, wie sie im Leben gewesen, war sie bis in den Tod; alles an ihr war nur der Ausdruck einer unbeschreiblichen, geduldigen Sanftmut und Besorgnis für die Umgebung. Ich war in den ersten Tagen und Nächten bei ihr. Aber die Ärzte rieten, auch eine Krankenpflegerin zu nehmen, weil die Krankheit sich langwierig zu gestalten schien. Und so war ich nach Hause gegangen, um ein paar Stunden auszuruhen. Denn die Nähe des Todes ahnten weder die Ärzte noch wir, die wir sie umgaben, noch Sonja selbst. Er trat plötzlich in der Nacht zum 10. Februar ein, durch eine Herzlähmung infolge des angegriffenen Zustandes der Lungen. In den letzten Stunden war sie ohne Bewußtsein, und der Tod war nur ein stilles Einschlummern in »das große Unbekannte«, das ihre Gedanken so oft beschäftigt hatte. Unter den rauschenden Fichten auf dem schwedischen Friedhof fand Rußlands große Tochter ihre letzte Ruhe – die Ruhe, die ihr immer herrlicher erschienen war als selbst die herrlichsten Gaben des Lebens. Aber der Denkstein auf dem Grabe ist von Rußlands Studentinnen und Frauen der Wissenschaft errichtet.

Die sie betrauerten, suchten sich vor Augen zu halten, daß gerade so wie der Tod kam – rasch und auf der Mittagshöhe des Lebens und der Kraft – sie immer gewünscht hatte, daß er sie erreichen möge. Sie suchten sich auch zu vergegenwärtigen, daß mit ihrem erhöhten Lebensreichtum auch die Keime neuer Konflikte hervorgetreten waren. Ein solcher war aus den verschiedenen Forderungen der Wissenschaft und der Literatur entstanden, aus der Schwierigkeit für beide auszureichen und zugleich noch für die heranwachsende Tochter. Nach dem Tode ihrer Mutter fand die kleine Sonja ein vortreffliches Heim bei Professor Gyldén, dessen in jeder Hinsicht seltene Gattin – eine Enkelin von Goethes Freund v. Knebel – eine der intimsten Freundinnen Sonja Kovalevskas in Stockholm gewesen war. Als die Schule in Stockholm beendet war, kehrte die kleine Sonja wieder in das Land ihrer Mutter zurück, um dort Medizin zu studieren. Inzwischen hat sie auch weiter ihr Heim bei ihrer Patin, Fräulein Lermontoff, gehabt. Ein anderer Konflikt lag in ihrer Anstellung im Ausland, während ihre schriftstellerische Tätigkeit den Aufenthalt in der Heimat verlangte. Und schließlich war noch der große Konflikt, auf den ich noch zurückkomme. Aber wir, die wir trauernd an ihrem Grabe standen, konnten nicht umhin, uns zu fragen, ob sich das Dasein für diese »Seele aus Feuer und Seele aus Gedanken« nicht bildbarer, weicher hätte zeigen können als für jene geringeren Naturen, die von seiner Härte zerschmettert werden.

Zweites Kapitel

Für Europa wurde das Bild Sonja Kovalevkas durch Anne-Charlotte Lefflers Biographie ihrer Freundin gezeichnet. Sonja Kovalevska, was ich mit ihr erlebte, und was sie mir von sich erzählte, von Anne-Charlotte Leffler, Herzogin von Cajanello. Diese Biographie ist auch ein Teil von Anne-Charlotte Lefflers eigener; sie enthält unmittelbar mehrere wertvolle Beiträge zu ihrer Geschichte, aber vor allem beleuchtet sie Anne-Charlotte Lefflers Naturell ebensosehr durch das, was sie von dem Sonja Kovalevskas erfassen konnte, wie durch das, was sie von ihm unerklärt lassen mußte.

 

Anne-Charlotte Lefflers mit unparteiischer Ehrlichkeit und sympathischer Hingebung ausgeführtes Bildnis Sonja Kovalevskas ist in der Absicht gezeichnet worden, Sonja so menschlich und lebendig als möglich zu zeigen. Aber nicht einmal Anne-Charlotte Lefflers Psychologie reichte hin, um Sonjas wunderbares Wesen zu durchdringen, ein Wesen, zugleich schwer, melodisch und funkelnd wie die Quecksilberfontänen, die den Palast der Mauren schmückten!

Sonja Kovalevska war aus den heterogensten Gegensätzen zusammengesetzt: einer außerordentlichen Kultur und einer großen wilden Naturkraft; sie war bis in die Unendlichkeit zersplittert, nuanciert, impressionabel und bis zum äußersten energisch, einheitlich, intensiv; sie besaß eine moderne analysierende, berechnende Intelligenz und eine morgenländisch-fruchtbare Phantasie; sie war eine exakte Mathematikerin und eine idealistische Träumerin. Wenn man diese Gegensätze aufgezählt hat, hat man noch hundert unerwähnt gelassen und glaubt noch nichts über diese Persönlichkeit gesagt zu haben, deren außerordentlicher, Sympathie erweckender Reiz zum großen Teil eben in der Vereinigung von sonst unvereinbaren Gegensätzen lag, eine Persönlichkeit, deren Reichtum man nicht erschöpfen, deren Wesen man nicht ergründen konnte, ein Geschöpf mit der dreifach problematischen Natur des Genies, des Weibes und der slavischen Rasse.

Anne-Charlotte Leffler glaubte auch nicht, dieses Problem vollständig gelöst zu haben, aber sie packte diese Aufgabe so an wie ihre dichterischen Probleme: sie wollte den Menschen erklären. Idealisierung hielt sie mit vollem Recht nicht für den Weg zur Erklärung. Sie ging mit jener Sympathie zu Werke, die die Gestalten, welche sie schildert, von innen sieht, die mit ihnen versteht und fühlt. Je einfacher, je mehr aus einem Guß man eine Gestalt zu halten sucht, desto leichter wird sie verstanden, meinte Anne-Charlotte Leffler; je mannigfaltiger man das Bild zu geben trachtet, desto mehr verwirrt sich der Eindruck, desto unsicherer wird der Leser, dessen Gedanken hin und her gezerrt werden, etwa so wie wenn man eine Fußspur im Sande sucht.

Mit dem Bewußtsein, gerade diese Unsicherheit im Leser hervorrufen zu müssen, zeichnete Anne-Charlotte Leffler Sonja Kovalevska. Diese Biographie ist im Anfang, wo Sonjas eigene Schilderungen der Stoff sind, und am Schlusse, wo Anne-Charlotte Lefflers eigener Schmerz die Darstellung erhebt, wirklich etwas von dem geworden, was Ibsen meinte, als er Anne-Charlotte Leffler den eigentümlichen Rat gab: ihr Bild von Sonja nicht biographisch, sondern rein dichterisch zu gestalten! Aber in der Mittelpartie hat Anne-Charlotte Leffler keine genügend sichere Auswahl zwischen dem wirklich und dem nur scheinbar Charakteristischen getroffen, zwischen Wesentlichem und Zufälligem. Dies wirkt weitaus verwirrender als die Mannigfaltigkeit von Sonjas Natur, in anderer Weise behandelt, hätte wirken müssen.

Anne-Charlotte Leffler hat selbst – durch ihre Einleitung – jeden Anspruch an eine vollständig objektive Biographie entkräftet. Sie wollte nur, wie sie in einem Briefe schreibt, eine teure Herzenspflicht erfüllen: all das Interessante zu sammeln, was sie von Sonjas Persönlichkeit wußte, »um es für jene Zukunft zu bewahren, die Sonja Kovalevsky ganz gewiß einen Platz in der Geschichte ihrer Zeit anweisen wird.«

Bei der Erfüllung dieser Pflicht war Anne-Charlotte Leffler von der Gewißheit durchdrungen, daß es nicht möglich sei, »ein sympathischeres Bild von Sonja zu geben«, als das, welches sie gab. Auch schrieb sie mir, als sie die Schilderung beendet hatte:

»Ich weiß, daß ich die ganze Zeit bei der Verfassung dieser Biographie ein so lebendiges Pietätsgefühl zu meiner Richtschnur gehabt habe, daß ich bei jedem Wort, das ich sagte, gleichsam bestrebt war, Sonja ihren innersten Gedanken abzulauschen und sie so darzustellen, wie sie dargestellt werden wollte; daß ich mich von ihr und nur von ihr leiten ließ. Noch ist ihr Geist über mir, und darum konnte ich es tun. In ein paar Jahren könnte ich es vielleicht nicht mehr, könnte kein Wort hinzufügen, ohne den Geist des Ganzen zu stören.«

Anne-Charlotte Leffler übte, als sie so über Sonja schrieb, dieselbe große männliche Offenherzigkeit, die sie geübt hätte, wenn sie von sich selbst gesprochen haben würde. Aber sie hat dadurch Sonja nicht in jeder Beziehung so dargestellt, wie diese »dargestellt sein wollte«. Anne-Charlotte Leffler bedachte nämlich nicht, daß ein zusammengesetzter Stimmungsmensch nicht mit ganz denselben Mitteln verständlich gemacht werden kann wie ein einheitlicher Charakter.

Denn wenn eine Menge psychologisch eigentümlicher kleiner Züge dem mit der Persönlichkeit unbekannten Leser, unvermittelt von dem Charme des Lächelns, des Blickes, der Stimme und des für Sonja eigentümlichen Humors entgegentreten, aus dem Zusammenhang mit der Umgebung, mit den Ereignissen, mit der Zeit gerissen – dann erhalten sie eben viel härtere Linien als in der Wirklichkeit und scheinen auch viel größere Dimensionen zu besitzen.

Wenn man die Gemütsschattierungen, die Einfälle, die Selbstwidersprüche eines Stimmungsmenschen im Druck festhält, kristallisiert man sie nämlich unwillkürlich, gibt dem feste Konturen, was in Wirklichkeit die leichten, anmutsvollen, fließenden Formen der Wolken besaß.

Darum teilte ich Anne-Charlotte Lefflers Ansicht über den Umfang und namentlich über den Zeitpunkt der Herausgabe von Sonjas Biographie nicht ganz. Für die mit der Persönlichkeit oberflächlich oder gar nicht bekannten Zeitgenossen ist ein plastisches Zuwegegehen dasjenige, das das Bild am besten wiedergibt, und die Statue das einzige Kunstwerk, das eine große und darum auch eine wahre Wirkung einer großen Persönlichkeit hervorrufen kann.

Für die Zukunft hingegen, die – um ein Paradoxon anzuwenden – dadurch, daß sie sich noch weiter entfernt, wieder näher kommt, gibt die pittoreske Methode, die Anne-Charlotte Leffler gewählt hat, das wertvollste Bild. Das im Alltagsleben studierte, in ein intimes Milieu versetzte, bis in alle Einzelheiten genau ausgeführte Porträt wird das für eine folgende Generation interessanteste sein, wie auch das für eine sympathische und intelligente Auffassung schon in der Gegenwart teuerste.

Anne-Charlotte Leffler hatte das doppelte Interesse der Freundin und der Schriftstellerin für alles – das Kleinste wie das Größte – was für Sonja charakteristisch war. Sie liebte alles, und darum verstand sie vieles; und auch, wo sie nicht verstand, verurteilte sie nicht. Darum konnte sie nicht fassen, daß nicht auch alle anderen verstanden und sich des Aburteilens enthielten.

Anne-Charlotte Leffler verstand vieles. Aber in einigen wesentlichen Punkten verstand sie wenig oder nichts, und in diesen Punkten hat das Bild nicht die richtigen Valeurs bekommen. Zum Teil beruht dies auch auf der Fortlassung der ganzen wissenschaftlichen Seite von Sonjas Persönlichkeit. Aber die Liebe zur Wissenschaft war ganz ausgesprochen das, was Sonjas Persönlichkeit ihre Höhe und Festigkeit, sozusagen ihr geistiges Rückgrat gab. Und wenn Sonjas Verhältnis zur Wissenschaft – durch Anne-Charlotte Lefflers Entschluß, ihre Darstellung auf eine ganz und gar subjektive Schilderung zu beschränken – stark untergeordnet wurde, mußte folglich ihre ganze Persönlichkeit in der Biographie weniger kräftig und einheitlich wirken, als sie es in Wirklichkeit tat. Sonjas wissenschaftlich geschulte, durchsichtig klare, folgerichtige Art des Denkens, die ihre Dichtung, ihre Lebensanschauung, ihre Gefühle so stark bestimmte, ist darum nicht zu ihrem Recht gekommen, und so auch nicht die eine große Seite ihrer Genialität. Anne-Charlotte Leffler wollte mit vollem Recht das Weib in der Mathematikerin zeigen, aber sie hat nicht die Mathematikerin im Weibe gezeigt, es sei denn in bezug auf die Erotik, wo sie wieder der Wissenschaft einen Einfluß zuschreibt, den sie in diesem Fall nicht besaß.

Eine andere Seite von Sonjas Temperament, der ihr eigentümliche Humor, ist von Anne-Charlotte Leffler auch nicht richtig gezeichnet worden. Oftmals nahm Anne-Charlotte Sonjas Scherz ganz oder halb ernst, wie z. B., wenn diese ihre »Triumphe« als Sportdame schilderte, oder ihre »Verliebtheit« in diese oder jene Person, oder ihren »Abscheu« in dieser oder jener Richtung. Das Gewicht, das die Biographie all diesen Worten – sowohl in Sonjas mündlichen wie in ihren schriftlichen Mitteilungen – beigelegt hat, trübt das Bild. Selbst ein alltäglicher Mensch könnte – wenn seine Einfälle und Inkonsequenzen dieselben Proportionen erhielten wie seine Handlungen – bizarr wirken. Um wieviel mehr ist das nicht erst bei einer Ausnahmenatur der Fall!

Als ein Beispiel unter vielen mag hier Sonjas Schilderung ihrer Gefühle auf den Fahrten von und nach Stockholm angeführt sein: der Weg von Stockholm scheine ihr der kürzeste, aber der zurück nach Stockholm der längste in Europa.

Man empfängt aus diesen Worten den Eindruck einer Bitterkeit gegen Schweden, die doch in Wirklichkeit nicht vorhanden war. Mehr als einmal sprach Sonja im Gegenteil warme Dankbarkeit gegen das Land aus, das ihr ein Heim und eine Arbeit gegeben hatte; und so äußerte sie sich nicht nur zu Schweden, sondern auch zu Ausländern. Ihr Tadel Stockholms war der sehr berechtigte, daß man sich da in einer Kleinstadt befinde, wo sich jeder in die Angelegenheiten des anderen mischte und man nie zwischen Sache und Person unterscheiden konnte. Sie fand – und zwar mit gutem Grunde – daß der geistige Horizont in Schweden eng sei, und das Verständnis, die Toleranz neuen Ideen oder ungewöhnlichen Handlungen gegenüber geradezu mittelalterlich. Aber zugleich ließ Sonja den guten Seiten der Schweden volle Gerechtigkeit widerfahren. Sie bewunderte das – in allem, was nicht neue Ideen betrifft – Generöse im Charakter der Schweden, namentlich glaubte sie niemals soviel Opferwilligkeit für gemeinnützige Zwecke gesehen zu haben wie bei den Stockholmern.

Auch Anne-Charlotte Lefflers Urteil über Sonjas nur »scheinbare« Anspruchslosigkeit bedarf der Richtigstellung. Ihre Anspruchslosigkeit war wie Anne-Charlotte Lefflers eigene echt, aber darum nicht töricht: daß Sonja ihre Überlegenheit kannte und einsah, war selbstverständlich, und dies hat mit Anspruchslosigkeit gar nichts zu tun. Die Anspruchslosigkeit des Genies besteht teils darin, die Art und die Tragweite seiner Überlegenheit nicht zu überschätzen, teils darin, andere nicht auf Grund dieser Überlegenheit hochmütig zu übersehen und schließlich sich durch die eigene Überlegenheit nicht für berechtigt zu halten, unverhältnismäßige Ansprüche an andere zu stellen. Nichts von alledem war bei Sonja der Fall. Sie unterschätzte ihre Begabung eher als sie sie überschätzte; sie interessierte sich für die einfachsten Menschen und war auch gegen den unbedeutendsten rücksichtsvoll; sie war ebenso rührend dankbar für die kleinste Gefälligkeit oder Freundlichkeit, als sie zartfühlend darin war, eine solche von jemand anderem als von wirklichen Freunden anzunehmen. Und während Anne-Charlotte Leffler recht damit hat, daß Sonja keine bürgerlichen Tugenden erstrebte, hat sie unrecht, wenn sie glaubte, daß Sonja sie gering schätzte. Sie bedauerte im Gegenteil, daß sie die Pflichten des Alltags nicht so erfüllen konnte, wie sie es gewünscht hätte. Namentlich in dem Verhältnis, das die Biographie fast ganz übergeht, dem Verhältnis zur Tochter, hatte Sonja viel mehr von der Liebe einer Mutter, als man aus der Schilderung glauben sollte. Obgleich ihre Zeit nicht hinreichte, um sich der Entwicklung der Tochter so zu widmen, wie sie es gewünscht hätte, gab sie ihr in den Stunden, in denen sie sich mit ihr beschäftigte, mehr an Zärtlichkeit, Verständnis und Entwicklung als viele der »hingebungsvollsten« Mütter, die nie an etwas anderes denken als an ihre Kinder, ohne ihnen doch geistig einen einzigen Schritt vorwärts zu helfen.

Ein wesentlicher Grund, weshalb Sonja durch Anne-Charlotte Lefflers Biographie so widerspruchsvoll wirkt, ist, daß man in ihr nicht nur einer eigentümlichen Persönlichkeit begegnet, sondern einer eigentümlichen Nationalität, oder richtiger einer Mischung von Nationalitäten: sie ist Deutsche, Zigeunerin, Polin, aber vor allem Russin! Das Temperament der Russin – folglich auch das Sonjas – ist eine Isotherme, die bald hoch über, bald tief unter die Parallelkreise geht, die dem nordischen Frauenideal und Frauenrechtlerinnenideal gezogen sind. Vieles, was wundernimmt, ist aus dem russischen Gesichtspunkt erklärlich, allerdings für Germanen kaum verständlich. In Rußland hingegen ist die Biographie als ein geniales psychologisches Bild des russischen Temperamentes geschätzt worden, obgleich dieses Temperament in der Biographie nicht besonders charakterisiert wird.

 

Namentlich einen slavischen Zug hat Anne-Charlotte Leffler nur unvollkommen verstanden, wenn sie sagt, daß Sonja ein beständiges Bedürfnis nach Abwechslung und Stimulanz hatte. Dies war – im gewöhnlichen Sinne des Wortes – nicht der Fall. Sie konnte sich halbe Jahre lang bei wahnsinniger Arbeit isolieren. Aber die Arbeit war dann für sie das, was in einer anderen Periode das Weltleben oder die Freunde schaff oder die Liebe war: der Anreiz, durch den sie sich leben fühlte. Der Slave hat mehr als der Germane das Bedürfnis, sein eigenes Dasein energisch, leidenschaftlich zu empfinden, gerade, weil er weiß, daß der geistige Tod auf ihn lauert – jene Tendenz zum Nirvana, zu tatenloser Melancholie, zu willenlosem Stillstand, die ihren vollendetsten dichterischen Ausdruck im Oblomow-Typus gefunden hat. Diesem anheimzufallen ist für den Slaven – ein halber Morgenländer wie er ist – eine stete Möglichkeit. Der Slave wird maßlos – mag er sich nun auf die Wissenschaft oder die Religion, den Genuß oder die Askese, den Nihilismus oder das Weltleben, die Liebe oder die Selbstverleugnung werfen, um das Dasein intensiv zu empfinden, was unzweifelhaft die tiefste Forderung seines Wesens ist. Ist eine russische Frau dazu ein Genie wie Sonja, dann wird die Selbstverbrennung ihr unentrinnbares Schicksal.

Die ganze ursprünglich-russische Seite von Sonjas Wesen war von dem Anne-Charlotte Lefflers so verschieden als nur möglich. Diese war ebenso maßvoll, ebenso anpassungsfähig an die Verhältnisse, als Sonja in Lebensfragen intensiv war. Anne-Charlotte Leffler hatte in ihren Entschließungen die Langsamkeit des Germanen, Sonja die heftige Impulsivität des Slaven; Anne-Charlotte Leffler hatte die ihrer Rasse angeborene Bedächtigkeit und Ausdauer, Sonja des Russen plötzliche, unmotivierte Übergänge von einem Seelenzustande zu einem anderen, von äußerster Fröhlichkeit zu tiefster Melancholie, von fieberhaftester Arbeit zur gemächlichsten Ruhe, von Wärme zur Kälte. Anne-Charlotte Leffler war eine freudige Opportunistin, die aus den Verhältnissen das Beste machte; Sonja eine ungestüme Idealistin – wie ihre Rasse es ist – eine Idealistin, die unaufhörlich ihre Stirn an die Wirklichkeit stieß. Anne-Charlotte Lefflers eigenes Temperament war eines, das ohne Schwierigkeit einsah:

»Die Sterne, die begehrt man nicht.«

Sonja wollte nichts anderes haben als die Sterne. Ihr Ehrgeiz war nicht der trockene, heiße, gallische Ehrgeiz, auch nicht der verschlossene, schwere, nordische: er war dem Märchendurst – dem Durst des Morgenländers – nach dem Wunderbaren verwandt. Wenn sie ihr Ziel erreicht hatte, hatte es keinen Wert mehr für sie; sie strebte dann einem neuen nach – weniger von Ehrgeiz getrieben als von ihrer glühenden Phantasie. Neue Gedanken, Arbeitspläne, Einfälle wurden beständig in ihrer Feuerseele geboren und strömten ohne merkbaren Zusammenhang in ihrer Rede aus. Das Grenzenlose im slavischen Temperament war das vor allem für Sonja Charakteristische. Bestimmte Begrenzungen können darum nur den Eindruck ihrer Persönlichkeit verringern.

Leider nahm Anne-Charlotte Leffler gerade eine solche Begrenzung vor, als sie Sonja hauptsächlich aus weiblichem, allgemein-menschlichem Gesichtspunkt schildern wollte. Denn auch als Weib, auch in ihrer erotischen Geschichte war Sonja zugleich das Genie und die Russin – und hält man beides nicht fest, bleibt sie als Weib unerklärlich.

Sonja Kovalevska war ebenso wie Anne-Charlotte Leffler, wie so viele andere begabte moderne Frauen nicht von »womanhood to selfhood« gegangen, sondern umgekehrt. Ihre menschlich-persönlichen Entwicklungsforderungen, ihre intellektuellen Bedürfnisse waren zuerst erwacht und befriedigt worden, ehe sie noch zu fühlen anfingen, daß diese doch nicht das Zentrale ihrer Persönlichkeit waren; daß es ihnen nicht genügte, die Arbeitskameradinnen der Männer zu sein oder als ihnen geistig ebenbürtig anerkannt. Aber als diese neue Überzeugung bei Anne-Charlotte Leffler erwachte, war es, weil die Liebe sie suchte, Sonja hingegen suchte die Liebe. Das ist die Grundverschiedenheit in ihrem Schicksal, die auch daran schuld ist, daß Anne-Charlotte Leffler Sonja in diesem heiklen Punkt nicht voll verstehen konnte. Dabei interessierte Sonjas erotischer Konflikt Anne-Charlotte Leffler, für die das Leben gleichzeitig durch die Liebe einen neuen Inhalt bekommen hatte, mehr als alles andere. Sie hat darum die Unruhe, die Wetterwendischkeit, die Schwermut und den Schmerz in Sonjas späteren Lebensjahren so sehr betont, daß sie die ruhige Arbeitsfreude und den freundschaftlichen Austausch der vorangegangenen Jahre verdunkeln – wo Anne-Charlotte bei ihren geistigen Gastmählern das Brot und Sonja der Wein war. Dazu kommt, daß die beiden Freundinnen sich in den letzten Jahren sehr wenig trafen, daß Sonja lange Zeiten hindurch auch nicht an Anne-Charlotte schrieb – was diese bei ihrer Rücksicht für die Gefühle anderer nicht fassen konnte – und daß Sonja, im ganzen sehr verschlossen über ihre erotische Geschichte, es Anne-Charlotte gegenüber noch ganz besonders war. Denn einerseits hatte Sonja eine Scheu, ihren Schatten in den Sonnenschein anderer fallen zu lassen, andrerseits glaubte sie, daß »wer satt ist, den Hungrigen nicht verstehen kann«, wie ein russisches Sprichwort sagt.

Je bewegter und inhaltsreicher das Leben der beiden Freundinnen sich gestaltete, desto weniger verstanden sie so einander. Die Verschiedenheit zwischen der weichen Natur der einen, der stolzen der anderen trat unaufhörlich zutage. Anne-Charlotte Leffler konnte nicht einsehen, warum Sonja kein Kompromiß schließen, nichts von ihren Forderungen preisgeben wollte. Sie schob dies auf Sonjas anspruchsvolles Temperament, aber mit Unrecht. Sonja forderte allerdings grenzenlos, aber sie konnte auch grenzenlos geben, und nicht ihr Ehrgeiz oder ihre Unfähigkeit, ganz im Gefühl aufzugehen, zerstörte in diesem bestimmten Falle ihre Glücksmöglichkeiten. Aber weil Anne-Charlotte Leffler selbst so ganz von ihrer eigenen glücklichen erotischen Erfahrung, ihrem Gefühl von der Macht der weiblichen Hingebung erfüllt war, mußte sie Sonja in doppelter Beziehung mißverstehen: sie faßte sie zugleich leidenschaftlicher und weniger hingebungsvoll auf, als sie wirklich war.

In allem, auch in der Erotik, hat sich Sonja durch Anne-Charlotte Lefflers Schilderung mit viel schärferer Eigentümlichkeit profiliert, als dies der Fall gewesen wäre, wenn man sie gegen den Hintergrund ihres Nationalcharakters gezeichnet hätte. Sonja hatte manche der Züge, die Turgenjew seinen besten Frauentypen gibt: kühle Sinne und ein feuriges Herz, großzügigen Edelmut und opferwillige Stärke, im Verein mit unerhörten idealen Forderungen: ein Gewebe von goldenen und purpurroten Fäden, in dem bei Sonja das schwarze Gespinst der Schwermut und das bunte der Phantasie den Einschlag bildete.

Ohne das russische Seelenleben in Betracht zu ziehen, ist auch Sonjas erste Ehe ganz unfaßbar. Und diese hatte so viele verwickelte psychologische Momente, daß man den Knoten nicht durch Anne-Charlotte Lefflers kurzgefaßtes Urteil löst, daß diese Ehe kein Glück gebracht habe, weil Sonja »besitzen wollte, sich nicht besitzen lassen«. In gleicher Weise irrt sich Anne-Charlotte Leffler in der Überbetonung des Erotischen in den letzten Jahren von Sonjas Leben. Die Erotik war allerdings in den letzten Jahren der Mittelpunkt ihres Daseins, aber die Wissenschaft, die Dichtung, die Mutterschaft hatten darum nicht ihr Interesse verloren, obgleich all dies bis auf weiteres untergeordnet wurde.

Другие книги автора

Купите 3 книги одновременно и выберите четвёртую в подарок!

Чтобы воспользоваться акцией, добавьте нужные книги в корзину. Сделать это можно на странице каждой книги, либо в общем списке:

  1. Нажмите на многоточие
    рядом с книгой
  2. Выберите пункт
    «Добавить в корзину»