Das einfache Leben

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Из серии: Klassiker bei Null Papier
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Die Uhr über dem Guts­hof des Schlos­ses ist Maß und Re­gel für die Land­schaft um den See. Der Guts­hof liegt hoch über dem Was­ser, und der Turm über dem Stall­dach liegt hoch über dem Hof. Wenn die Luft ru­hig ist oder nur ein lei­ser Wind über die Wäl­der geht, dringt der hel­le Schlag weit in die Run­de hin­aus, und die Men­schen rich­ten sich auf von Ar­beit oder Schlaf, lau­schen auf die Zahl der Töne und mes­sen Schlaf oder Tag­werk da­nach ab. Die Kir­che ist weit, die Ei­sen­bahn ist weit, die Schnei­de­müh­len sind weit. Aber die Glo­cke des Schlos­ses ist in ih­rer Mit­te, und schon das vo­ri­ge Ge­schlecht hat sie ge­kannt. Ihr Al­ter ver­liert sich in der länd­li­chen Sage. Sie schweigt nur, wenn im Schloss sich je­mand zum Ster­ben be­rei­tet; sie wol­len nicht, dass der Schlag der Stun­de in den letz­ten Atem fällt.

Die ers­ten, die der Uhr ge­hor­chen, sind der Käm­me­rer und der Ele­ve im Schloss, Tho­mas und der Fisch­ad­ler. Die bei­den ers­ten rei­ben sich den Schlaf aus den Au­gen und sind nicht im­mer fröh­lich. Die bei­den an­de­ren sind ganz wach und auf ihr Tag­werk be­dacht. Tho­mas sitzt an dem grau­en Tisch vor sei­nem Haus, hat sei­nen Kaf­fee ge­trun­ken und raucht die ers­te Pfei­fe. Die Son­ne steht rot über den schwar­zen Kie­fern, der gan­ze See brennt, und die Ne­bel ste­hen wie glü­hen­der Rauch über den Buch­ten. An ih­rem Ran­de kann er als fei­ne graue Stri­che die Stö­cke er­ken­nen, zwi­schen de­nen die Reu­sen auf dem Grun­de lie­gen.

Der Ad­ler kommt von Os­ten hoch über den Wald, stumm, ei­lig, in ge­ra­der Bahn. Er über­fliegt die In­sel und wen­det sich erst am west­li­chen Wald. Schnee­weiß leuch­tet sei­ne Brust auf, wenn die Son­ne sie trifft. Über der Ot­ter­bucht zieht er den ers­ten Kreis, wo das Was­ser im­mer un­be­wegt ist und die al­ten Fi­sche un­ter der Ober­flä­che ste­hen. Dann fal­tet er die Schwin­gen zu­sam­men und stößt hin­un­ter. Eine Schaum­wol­ke steht auf, und aus ihr, ein­mal das Ge­fie­der schüt­telnd, hebt er sich lang­sam wie­der auf, hö­her und hö­her, bis die Beu­te in sei­nen Fän­gen ge­gen den wei­ßen Mor­gen­him­mel sich ab­zeich­net. Hoch über der In­sel er­tönt sein Schrei, ehe er in der Son­ne ver­schwin­det.

Wie­der schlägt die Glo­cke über den See. Der Kuckuck ruft, und das »Hup … hup … hup« des Wie­de­hopfs geht wie ein Kin­der­spiel­zeug durch den Wald. Die Ge­span­ne ver­las­sen den Guts­hof, und auf den be­tau­ten Wald­we­gen zie­hen die Mäd­chen zur Pflanz­ar­beit, die blo­ßen Füße in schwe­ren Schu­hen, weil der Sei­den­strumpf das Kni­en auf der feuch­ten Erde nicht ver­trägt. Hier und da murrt eine über die Skla­ven­ar­beit, aber dann zieht doch ein Lied vor ih­nen her über die glän­zen­den Scho­nun­gen, weil das Le­ben stär­ker ist als das an­de­re. Der Förs­ter hebt einen Bast­fet­zen von der nied­ri­gen Kie­fer, an der der Bock ge­fegt hat, und Tho­mas fährt mit den ers­ten nas­sen Net­zen ans Land.

Die Son­ne hebt sich über den Wald, und in dem öst­li­chen Gie­bel­zim­mer des Schlos­ses ver­sucht Herr Ber­gen­grün, an ei­nem klei­nen Glo­bus die Dre­hung der Erde an­schau­lich zu ma­chen. Ma­ri­an­ne von Pla­ten sieht mit erns­ten Au­gen zu und fragt, ob Herr Orla jetzt wohl den Fisch mit der Gold­kro­ne aus dem schwar­zen Was­ser hebe. Der Ge­ne­ral sitzt im Sat­tel, und der fri­de­ri­zia­ni­sche Sol­dat be­gibt sich an die Mün­dung der Ka­no­ne zu­rück. Die Glo­cke schlägt, ein wei­ßer Tau­ben­schwarm steigt in die blaue Luft, und in Feld und Wald zie­hen brau­ne Hän­de den Kork aus den Blech­kan­nen mit kal­tem Kaf­fee. Die Pfer­de­lei­ber damp­fen, und der Mor­gen­schweiß von Mensch und Tier trock­net im war­men Wind. Tho­mas brei­tet die nas­sen Net­ze aus. Er trägt nur ein Hemd und eine kur­ze Hose, sei­ne Haut ist braun, und Fisch­schup­pen blit­zen in sei­nem dunklen Haar. Die Frau mit dem er­lo­sche­nen Ge­sicht geht in dem Gie­bel­zim­mer auf und ab und singt ohne Wor­te das Lied mit der hei­te­ren Mar­schme­lo­die. Wenn die Son­ne auf die zer­schlis­se­ne Sei­de fällt, schim­mert es alt und grün­lich über den de­mü­ti­gen Schul­tern.

Die Glo­cke schlägt, und Rauch steht über den Schorn­stei­nen, auch über dem grau­en Dach auf der In­sel. Tho­mas kocht sei­ne Fisch­sup­pe, und die blau­en Schleie zer­fal­len nicht mehr nach den ers­ten miss­glück­ten Ver­su­chen. Die Ge­span­ne keh­ren heim, die Mäd­chen auf der Pflan­zung lie­gen im Schat­ten, und Gru­ber sagt zu der blas­sen Frau, dass es ihm lan­ge nicht so gut ge­schmeckt habe. Sie wen­det den Kopf, als höre sie ihm zu, aber ihre Au­gen ge­hen durch ihn hin­durch, weit fort, bis zu dem dunklen Meer wahr­schein­lich, wo sie nun Krän­ze ver­sen­ken zum Ge­dächt­nis der To­ten und der schril­le Schrei der Mö­wen hin­ter den Schif­fen her­zieht. Der Ge­ne­ral hebt sei­nen Rot­wein ge­gen das Licht und fragt sein En­kel­kind, was es sich zum Ge­burts­tag wün­sche. Herr Ber­gen­grün meint vor sich hin, man ma­che jetzt viel Rüh­mens von ei­ner neu­en Aus­ga­be der Mär­chen von den Ge­brü­dern Grimm, und das Kind nickt ihm zu. Der me­lan­cho­li­sche Rie­se steht bol­zen­ge­ra­de an der An­rich­te, und auf sei­nem wei­ßen Le­der­zeug sit­zen ein paar hart­nä­cki­ge Flie­gen.

Die Glo­cke hat den Kreis ih­rer Schlä­ge vollen­det und be­ginnt von Neu­em mit ei­nem ein­zi­gen hel­len Ton. Der Zei­ger rückt vor, und die Ar­beit folgt, wird lang­sa­mer und mü­der und en­det. Der Ad­ler ist drei­mal da­ge­we­sen, und Tho­mas kehrt vom Netzaus­le­gen heim. Ne­ben ihm auf der Bank liegt die klei­ne Büch­se, aber ihr Lauf ist noch blank. Er hat sei­ne Post von der Förs­te­rei mit­ge­bracht, eine Zei­tung, vol­ler Ha­der, Un­ru­he und Lärm, eine Kar­te von Joa­chim, dass er im Rech­nen jetzt »sehr gut« sei und der Or­di­na­ri­us ihn ge­fragt habe, ob er nicht bald den schwarz­weiß­ro­ten Wim­pel von sei­nem Fahr­rad ab­neh­men wer­de. Dazu hat­te er in Klam­mern in sei­ner großen stei­fen Schrift »Fehl­an­zei­ge!« hin­ge­setzt. Und dass es bis zu den großen Fe­ri­en noch zwei­und­fünf­zig Tage sei­en. Auf der Vor­der­sei­te stand ge­hor­sam: »An Herrn Tho­mas Orla.«

Tho­mas hör­te die Glo­cke über den See schla­gen, sechs hel­le Töne, und so blei­ben noch vier Stun­den, die er für sich al­lein hat. Um zehn wird die Lam­pe ge­löscht. Tür und Fens­ter ste­hen weit auf in sei­nem Haus, und er bleibt eine Wei­le auf der Schwel­le und sieht hin­ein, ob Chri­stoph viel­leicht vor den Bü­chern steht und den Kopf schüt­telt. Denn die Bü­cher sind nun da, fünf brei­te und hohe Bret­ter, die gan­ze dunkle Boh­len­wand ent­lang. Der Glo­bus ist da, und der Mes­sing­strei­fen des Äqua­tors blitzt in der Son­ne, die durch das brei­te Fens­ter fällt. Und die bei­den schwe­ren Ses­sel ste­hen vor der Herd­tür, ein schma­les Feld­bett ist an der an­de­ren Wand, der Schrank mit den Waf­fen und Mas­ken und in der Fens­te­r­e­cke der schwe­re graue Tisch mit der Holz­bank. An den Wän­den nichts als das Bild des feu­ern­den Kreu­zers im Gol­d­rah­men.

Und al­les ist sein, ganz al­lein sein, er­füllt von sei­nem ei­ge­nen Le­ben, von der Erin­ne­rung an Tage und Näch­te, die er die­sen Din­gen hin­ge­ge­ben hat, mit Le­sen, Den­ken, Grü­beln und Sein. So ganz sein Ei­gen­tum wie die Klei­der, die er trägt, und der Atem, der aus sei­nem Mun­de geht. Das aus dem Schiff­bruch Ge­ret­te­te, das dop­pelt Teu­re und Kost­ba­re, mit ei­ge­nen Hän­den auf die In­sel ge­tra­gen wie aus der Bran­dung des Mee­res. Chri­stoph hat­te sich fürch­ten müs­sen, die Schnee­stür­me und das Kla­gen im Schorn­stein, die Ne­bel und die hei­se­ren Rufe der win­ter­li­chen Tie­re. Er hat­te nur das Feu­er, die Pfei­fe und den Schnaps. Und das bren­nen­de Bild der Zu­kunft, die im­mer Zu­kunft blieb.

Aber Tho­mas hat­te mehr. Er hat­te eine Ar­beit, die er lieb­te, und sei­ne Hän­de wa­ren hart vom Ru­dern. Er hat­te die Glo­cke, die durch sein Tag­werk ging, und die Bank, von der er die Son­ne un­ter­ge­hen sah. Er wuss­te, dass sie nur für die Mü­den un­ter­ging. Er hat­te die Welt­ku­gel da, und sie schwang sich lei­se durch den un­end­li­chen Raum, wenn sei­ne Hand sie be­rühr­te. Und er hat­te al­les, was auf die­ser Ku­gel Uns­terb­lich­keit ge­won­nen hat­te. Auf den schma­len Bret­tern vor der vom Herdrauch dun­kel ge­wor­de­nen Wand stan­den die Ewi­gen und sa­hen ihn an, nah und ver­traut, denn bei ih­nen al­len war er zu Gast, und der Blick sei­ner Au­gen war ih­nen be­kannt, die sorg­sa­me Be­we­gung, mit der er die Blät­ter um­wen­de­te, die Nei­gung der Stirn, mit der er ih­nen nachsah. Er be­saß ihre Ver­gan­gen­heit, die al­les um­fas­sen­de, und in ih­rer Ver­gan­gen­heit lag alle Zu­kunft be­schlos­sen, eine rei­ne und gläu­bi­ge Zu­kunft, von Hass und Hoch­mut ge­rei­nigt, die große Stil­le, nach der sie ge­trach­tet hat­ten am Ende ih­res Le­bens, und nach der auch er trach­te­te, ein de­mü­ti­ger Schü­ler, von ih­rem Hau­che ge­nährt.

Die Glo­cke schlägt, und alle hö­ren sie, die wis­sen, was der Fei­er­abend ist. Tho­mas sitzt auf dem Baum­stumpf un­ter den Ei­chen und weiß, wes­halb die Men­schen Gott ge­lobt ha­ben. Nur als Kind hat er so ge­wusst, wie schön die Welt ist, so schön, dass es in der Brust schmerzt. Das letz­te rote Licht auf dem See, der schla­fen­de Wald, das jun­ge Bir­ken­laub vor dem wei­ßen Him­mel und sein Duft, der kei­nem an­de­ren zu ver­glei­chen ist. Und nun be­gin­nen die Eu­len zu ru­fen, der Ne­bel steigt, Ster­ne zün­den sich an. Die Ruhe der Nacht brei­tet sich aus wie Wel­len­krei­se von ei­nem letz­ten Stein, wei­ter und wei­ter, und in der Mit­te sitzt er selbst, re­gungs­los, und sein Blut rauscht und singt wie ein Brun­nen im Traum.

Die Glo­cke schlägt. Das Licht der Lam­pe fällt auf die Sei­ten des Bu­ches in sei­ner Hand, die rot be­schie­nen ist von der Flam­me des Her­des. Wenn er den Kopf hebt, sieht er durch das of­fe­ne Fens­ter ein fer­nes, zit­tern­des Licht. Das ist das Licht im Forst­haus, und es ist das ein­zi­ge, das er sieht. Auch der alte Mann wird am Fens­ter sit­zen, rau­chen und schwei­gen. »Sie­ben Jah­re, lie­ber Herr …« Er wird es ge­lernt ha­ben. Und im Gie­bel­zim­mer singt die Frau. Die Die­le knarrt, und der Mann am Fens­ter hört den Ton nicht mehr. Oder er denkt an sei­ne Bäu­me im Wald, und wie der Wind noch lei­se an sie rührt. Und dass er einen Nach­barn ge­won­nen hat, bei dem er manch­mal sitzt um die­se Zeit, wenn das Dach ihn er­stickt, und der lei­se Ge­sang, der wie ein Kin­der­marsch un­ter den Ster­nen ist.

 

Der Na­bob aber hebt den Rot­wein ge­gen die Flam­me im rie­si­gen Ka­min und sieht, wie rot er im Gla­se leuch­tet, wie dunkles Blut, und er hat zwei Söh­ne be­gra­ben. Das große Haus liegt dun­kel und tot. Wie eine Kir­che ist die ge­wal­ti­ge Hal­le über ihm, ein Gol­d­rah­men fun­kelt, und die aus­ge­stopf­ten Tie­re ste­hen wie dunkle Hei­li­ge auf ih­ren So­ckeln. Die Flam­me leckt und er­lischt und glüht wie­der auf. So vie­le Bil­der und Ge­sich­ter, La­chen und lei­ser Ge­sang. Ein Ast, der sich krümmt und ver­fällt. Ein Ge­sicht mit ei­nem Gold­helm, zu­erst rot, dann grau, dann weiß … der Helm zer­fällt, die Stirn bricht auf, in Asche sinkt das Bild zu­sam­men … »Hal­tung, Ge­ne­ral­ma­jor!« Schon gut, schon gut. Das Wap­pen­schild wird zer­bro­chen, aber die To­ten blei­ben. Die To­ten und der kö­nig­li­che Herr. Er hebt das Glas, und es leuch­tet rot.

Die Glo­cke schlägt, und die Lich­ter er­lö­schen. Schlaf fällt wie Tau über die Au­gen­li­der. Ein Rei­her schlägt mit den Flü­geln und fal­tet sie wie­der zu­sam­men. Er sieht das Was­ser vol­ler Ster­ne, wie gol­de­ne Fi­sche ste­hen sie tief und un­be­wegt. Eine Krö­te sitzt vor der Schwel­le des Hau­ses. In ih­ren dunklen Flan­ken geht der Atem lei­se auf und ab.

Die Glo­cke schlägt, und Joa­chim von Orla fährt aus sei­nem ers­ten Schlaf. Er ist im Traum in die Kreu­zer­schlacht ge­fah­ren, und eine Glo­cke hat ihn in den Kom­man­do­turm ge­ru­fen. Aber al­les ist dun­kel, kein Ad­mi­ral ist da, der ihm den großen Auf­trag er­teilt, mit dem er, Joa­chim, die Schlacht ent­schei­den wird. Nur auf dem Schrank ihm ge­gen­über schim­mert das Schiff aus Lin­den­holz in dem mat­ten Licht, das durch das Stra­ßen­fens­ter fällt. An­se­hen müs­se man es, hat der Va­ter ge­sagt, dass es einen zum Dienst rufe. Weit ist der Va­ter, auf ei­nem großen See, wo er der Herr ist über Ad­ler, Rei­her und Fi­sche, und es sind nur noch fünf­zig Tage, bis er al­les das se­hen wird. Und viel­leicht tau­send Tage, bis er als Ka­dett ein­tre­ten wird, um Flot­ten­chef und Ad­mi­ral zu wer­den. Der Va­ter hat zu früh auf­ge­hört, aber er wird es wie­der­gut­ma­chen … zu­erst aber kommt das Kriegs­spiel in nächs­ter Wo­che, das ganz heim­li­che, und mor­gen gibt es Zitro­nen­spei­se, das hat Schwes­ter Bea­te ver­spro­chen … gut ist die Schwes­ter und wie das wei­ße Schaf an­zu­füh­len, das die Mut­ter ihm zu Weih­nach­ten ge­schenkt hat … nie­mals ver­ste­hen Müt­ter, was ein Jun­ge braucht … er hält noch ein­mal den Atem an, um zu hö­ren, ob Schwes­ter Bea­te hin­ter der ge­öff­ne­ten Tür schläft, und als sie sich lei­se un­ter ih­rer De­cke be­wegt, legt er sich wie­der auf die Sei­te und macht die Au­gen zu … die lie­ber sein, als hei­ßen woll­te … so merk­wür­di­ge Din­ge, die der Va­ter manch­mal sagt …

Die Glo­cke schlägt von dem Kirch­turm hin­ter den Kie­fern, der We­cker schnarrt, und mit ei­nem Sprung ist Joa­chim aus dem Bett, die Au­gen noch ohne Be­sin­nung und schwer von Schlaf. Aber nur Frau­en dre­hen sich noch ein­mal auf die an­de­re Sei­te und be­trü­gen Uhr und Tag. Die kal­te Du­sche rauscht, die Am­seln flö­ten vor dem schma­len Fens­ter. Schwes­ter Bea­te schwankt noch vor Mü­dig­keit, und er spritzt ihr das kal­te Was­ser ins Ge­sicht.

Dann isst er sein Ei, die la­tei­ni­sche Gram­ma­tik ne­ben dem Tel­ler. Sei­ne hel­len Au­gen sind ganz wach und lau­fen die Spal­ten hin­auf und hin­un­ter. »Heu­te schrei­be ich die bes­te Ar­beit, Schwes­ter Bea­te«, sagt er. Sie ist im­mer ein biss­chen ver­wirrt un­ter sei­ner Klar­heit und Si­cher­heit. Der Va­ter wür­de si­cher­lich nicht ge­glaubt ha­ben, die bes­te Ar­beit zu schrei­ben. »Du weißt al­les so ge­nau, Joa­chim«, seufzt sie. Er sieht sie von der Sei­te an und lä­chelt. »Das muss man auch, wenn man et­was wer­den will«, sag­te er wei­se. »Sie möch­ten so­wie­so gern auf der Pen­ne, dass alle dumm und faul sind, die ein ›von‹ vor dem Na­men ha­ben, aber für mei­ne Per­son: Fehl­an­zei­ge, ihr Lie­ben!« Die Schwes­ter lä­chelt, und einen Au­gen­blick lang sieht sie die zer­streu­ten und trau­ri­gen Au­gen des Ka­pi­täns vor sich. »Ja, ja, Joa­chim«, sag­te sie in Ge­dan­ken, »sei nur tüch­tig, dass der Va­ter sich freu­en kann …«

Dann fährt er die stil­le Stra­ße ent­lang, die Hän­de über der Brust ge­kreuzt. Der Wim­pel an der Lenk­stan­ge flat­tert im Wind.

Die Glo­cken schla­gen. Die Stun­den ge­hen da­hin. Er schreibt wirk­lich die bes­te Ar­beit, und in der großen Pau­se trägt er die Sa­che mit dem Ban­kiers­sohn end­gül­tig aus. Sei­ne Nase blu­tet zwar, und ein lan­ger Riss geht über sei­ne lin­ke Wan­ge, aber der an­de­re wird aus­ge­zählt, nach ei­nem pri­ma Kinn­ha­ken und stößt mit dem Kopf an die Kor­ri­dor­wand, als er wie­der in sei­ne Klas­se tor­kelt. Ekel­haf­ter Bur­sche. Im Auto vor­fah­ren und Ku­chen fres­sen, das hat das Va­ter­land ge­ra­de nö­tig!

Er ist be­liebt und et­was ge­fürch­tet in der Klas­se. Das Feu­er springt zu schnell in sei­ne grau­en Au­gen. Aber nie­mals wird er Un­an­stän­dig­keit in Hal­tung oder Ge­sin­nung dul­den. »Orla hat ge­sagt, das geht nicht.« Also fer­tig und er­le­digt. Den meis­ten Leh­rern ist er et­was un­heim­lich, ein Pfeil, der im­mer ge­spannt auf der Seh­ne liegt. Aber der Di­rek­tor, Ma­jor der Land­wehr, liebt ihn mehr als sein ei­ge­nes Kind. »Vom Va­ter ge­hört, Joa­chim?« »Ja­wohl, Herr Di­rek­tor, fischt vom Mor­gen bis zum Abend und isst wie ein Wolf!« Die grau­en Au­gen leuch­ten, und die zer­schramm­ten Hän­de lie­gen fest an der Naht der kur­z­en Hose. »Recht so!« sagt der Di­rek­tor und fährt ihm über den hel­len Schopf. »Zeigt den Leu­ten, was Ar­beit heißt. Fa­bel­haf­ter Mann, dein Va­ter!«

Zum Schluss die Turn­stun­de, und noch ein­mal leuch­tet Joa­chim. Wie eine Kat­ze läuft er das Tau hin­auf, und der Turn­leh­rer, im­mer ver­drieß­lich, sieht ihm mit schrä­gen Au­gen nach. »Geh nur nicht gleich durch die De­cke!« sagt er.

Aber Joa­chim ist schon wie­der un­ten. »Die Wan­ten sind hö­her«, be­merkt er nach­läs­sig.

Die Fin­ken schla­gen, als er mit­tags heim­fährt. An der Stra­ßen­e­cke stürzt er sich mit schril­lem Ge­klin­gel auf den Hund des Nach­barn, und strah­lend kommt er die Trep­pe hin­auf.

Ja, auch die Mut­ter ist ein­mal zu se­hen. Er mag die Far­ben auf ih­rem Ge­sicht nicht und hält ihr nur die Wan­ge zum Kuss hin, die rech­te. Aber als sie bei Tisch sit­zen, will sie al­les wis­sen, was er er­lebt hat und wie sei­ne Ka­me­ra­den sind. Sie kennt fast alle El­tern, und der Vo­r­ort ist wie ein Dorf.

Er er­zählt be­reit­wil­lig, noch ganz ohne Ei­tel­keit, aber im Be­wusst­sein des ei­ge­nen Wer­tes. Es er­gibt sich, dass in der Klas­se ein paar »pri­ma Ker­le« sind, aber auch, dass sie in Klei­nig­kei­ten nicht ganz an ihn her­an­rei­chen. Auch dass Wohl­ha­ben­heit und Ver­träumt­heit ihm als ne­ben­säch­li­che, wenn nicht ver­ächt­li­che Din­ge er­schei­nen.

Frau von Orla, mit tie­fen Schat­ten un­ter den Au­gen, hört ihm halb ernst­haft und halb be­lus­tigt zu. Nur als er vom Gel­de spricht, meint sie, er sol­le nicht so früh an­fan­gen, die Wirk­lich­kei­ten des Le­bens und der Macht ge­ring­zu­schät­zen. Schon der Va­ter habe be­denk­li­che An­sich­ten dar­über.

Fa­bel­haf­ter Mann, der Va­ter, habe der Di­rek­tor ge­sagt.

Ja, ja, meint sie lä­chelnd, nur wür­den die Wer­te des Le­bens im All­ge­mei­nen nicht von Schul­di­rek­to­ren be­stimmt, eher schon von Bank­di­rek­to­ren. Ob er denn auch spä­ter ein­mal, mit fünf­und­vier­zig Jah­ren, als Fi­scher le­ben möch­te?

Er denkt eine Wei­le nach, und wie­der er­schei­nen die ge­spann­ten Fal­ten auf sei­ner stei­len Stirn. Nein, das möch­te er nun wohl nicht, ent­schei­det er schließ­lich. Das sei zu we­nig, wenn auch für einen Som­mer wahr­schein­lich sehr schön. Ein Kreu­zer sei bes­ser als ein Boot, und ein Ge­schwa­der bes­ser als ein Kreu­zer. Ein biss­chen zu früh auf­ge­hört habe der Va­ter, aber das wer­de er selbst schon am bes­ten wis­sen.

Ja, meint Frau von Orla für sich, viel­leicht habe er gar nicht an­ge­fan­gen ge­habt, und da eben die Zitro­nen­spei­se er­scheint, so hat Joa­chim auch nichts ge­hört.

Nur Schwes­ter Bea­te sitzt die gan­ze Zeit in ei­ner lei­sen Be­fan­gen­heit da, und am Schluss will sie das Fisch­be­steck statt der Spei­selöf­fel rei­chen. Ihre großen, den Trä­nen so leicht ge­öff­ne­ten Au­gen se­hen das Ge­sicht des Ka­pi­täns, wie es sich von der Trep­pe noch ein­mal zu­rück­wen­det … »Und der Jun­ge, Schwes­ter, hö­ren Sie? Ach­ten Sie mir auf den Jun­gen, Tag und Nacht!«

Gott weiß, dass sie es tut, aber so vie­les dürf­te nicht sein wie eben, und für vie­les ist es wohl auch zu spät. Sie weiß, dass Kin­der in vie­len Din­gen fer­ti­ge Leu­te sind. Die El­tern wol­len es meis­tens nicht wis­sen, aber sie weiß es. Man lebt nicht um­sonst mit frem­den Kin­dern, und sie zählt die fünf­zig Tage eben­so wie Joa­chim. We­nigs­tens mit der Zitro­nen­spei­se ist es noch so, wie es sein soll.

Als Frau von Orla noch ein­mal Joa­chims Tel­ler nimmt, bleibt die Spit­ze ih­res lo­sen Är­mels an ei­ner Fal­te des Tisch­tu­ches hän­gen, und der leich­te Stoff schiebt sich bis über den Ell­bo­gen hin­auf. »Sind das Nar­ben, Mut­ter?« fragt Joa­chim und fährt mit dem Fin­ger über die Beu­gung. Aber sie dreht das Ge­lenk has­tig zur Sei­te und zieht den Är­mel her­un­ter. Nein, es sei­en Mücken­sti­che, das Mäd­chen müs­se die Draht­fens­ter wie­der in den Schlaf­zim­mern ein­set­zen. Sie ist blass ge­wor­den und sieht Schwes­ter Bea­te an, aber die­se hat sich über einen lee­ren Glas­tel­ler ge­beugt und zieht mit dem Fin­ger die Li­ni­en des Schif­fes nach.

Die Glo­cken der Kir­che läu­ten, im­mer drei Töne in trau­ri­ger Fol­ge hin­ter­ein­an­der, und Schwes­ter Bea­te lässt die Wä­sche sin­ken, die sie mit der Na­del aus­bes­sert, und denkt nach, wer in der Um­ge­bung ge­stor­ben sein könn­te. Aber es ster­ben so vie­le in die­ser Zeit, nicht nur an Krank­hei­ten, son­dern an der Ar­mut, an der Verzweif­lung, ja am Hun­ger. Die Zeit hat den Be­sitz ge­fres­sen, schwin­delnd schnell, und nun, da die Schei­ne schon zehn­stel­li­ge Zah­len tra­gen, kommt die Na­chern­te. Sie trifft die al­ten Ex­zel­len­zen wie die neu­en Rei­chen, nur dass jene lei­ser da­hin­zu­ge­hen pfle­gen als die­se. Das Land ist wie ein kran­ker Wald, in dem die Bäu­me ge­zeich­net wer­den, und die Glo­cken läu­ten je­den Tag. Sie seufzt und sieht ver­stoh­len auf das Kind.

Joa­chim sitzt über sei­nen Hef­ten und Bü­chern, mit ge­fal­te­ter Stirn und gänz­lich ver­sun­ken. Wäh­rend der Ar­beit gibt es we­der Spiel noch Träu­me­rei für ihn, und er dul­det kei­ne Stö­rung. Sei­ne Stirn sieht aus wie die ei­nes al­ten Man­nes, und wenn er aus dem Fens­ter sieht, sitzt dort nicht Schwes­ter Bea­te, son­dern eine Vo­ka­bel ist über das spie­geln­de Glas ge­schrie­ben oder Zah­len, die sich ge­heim­nis­voll ord­nen. Die Schwes­ter hat kei­ne Mühe mit dem Schü­ler Joa­chim von Orla, und manch­mal hat sie Angst vor so viel Fleiß und frü­her Or­dent­lich­keit. Auch an sei­nem Bü­cher­brett steht ein klei­ner Glo­bus, und oft sieht sie ihn da­vor­ste­hen, aber er hat ein Buch in der Hand oder Ta­bel­len, und wenn er die Ku­gel be­rührt, so ge­schieht es mit ei­ner schnel­len Be­we­gung, und die Dre­hung der Erde hört dort auf, wo er sie auf­hö­ren las­sen will. Nie­mals mehr hört sie das lei­se Sur­ren, mit dem die bun­te Ku­gel im Zim­mer des Ka­pi­täns um die Ach­se ge­wan­dert ist, nicht an­ge­hal­ten von sei­ner Hand, und nie­mals auch wird sie den Blick ver­ges­sen, mit dem sei­ne Au­gen dem bun­ten Spiel zu fol­gen pfleg­ten, alte Au­gen, die noch ein­mal auf dem Glanz ei­ner Sei­fen­bla­se ver­wei­len.

Dann ist Joa­chim fast bis zur Däm­me­rung im Wal­de und auf dem Was­ser. Sie ha­ben zu vie­ren ein Se­gel­boot, und fast im­mer ist er Ka­pi­tän. Sie spie­len nicht, und es schwimmt kei­ne Pi­ra­ten­in­sel für sie im Strom. Sie ar­bei­ten und ler­nen, und von den fau­len Ver­gnü­gungs­jach­ten folgt ih­nen manch nach­denk­li­cher Blick.

Am Abend baut er Schiffs­mo­del­le und lernt Flag­gen­si­gna­le, Ton­na­ge­zah­len und Be­stückungs­lis­ten. Dann spricht er müh­sam und sau­ber ein hal­be Stun­de eng­lisch mit Schwes­ter Bea­te. Er spielt nicht, er liest we­nig, und wenn er die De­cke über sei­ne Schul­tern zieht, fal­len ihm schon die Au­gen zu.

 

Die Glo­cke schlägt, und der Pfar­rer steht vor dem höl­zer­nen Chris­tus und sieht ihn lan­ge an. Er möch­te wis­sen, ob die To­ten an­de­re Ge­sich­te ha­ben als die Le­ben­den, aber er weiß es nicht. Er seufzt ein we­nig, blickt durch das of­fe­ne Fens­ter in die Nacht und denkt an die Or­la­sche In­sel, wo er ein­mal schla­fen möch­te, ein ein­zi­ges Mal so tief schla­fen, dass we­der Träu­me noch Sor­gen ihn be­rüh­ren, ein ein­zi­ges Mal wie die To­ten schla­fen. Aber was weiß er schon vom Schlaf der To­ten?

Er nimmt einen Brief­bo­gen und schreibt ein paar Wor­te an den Steu­er­mann Tho­mas Orla. Dass sein Sohn bei ihm ge­we­sen sei und ihm Grü­ße und al­les an­de­re aus­ge­rich­tet habe und dass er froh sei, ihn bei der Ar­beit zu wis­sen. Was sei­nen Sohn be­tref­fe, so glau­be er nicht, dass er oft zu ihm kom­men wer­de. Er sehe das Meer vor sich und habe kei­ne Zeit für dunkle Kir­chen­schif­fe, was auch ganz in der Ord­nung sei. Aber es sei ihm ein Vers aus den Sprü­chen Sa­lo­mo­nis ein­ge­fal­len, und den wol­le er zum Schluss noch hin­schrei­ben: »Ein Ge­dul­di­ger ist bes­ser denn ein Star­ker, und der sei­nes Mu­tes Herr ist, denn der Städ­te ge­win­net. Los wird ge­wor­fen in den Schoß; aber es fällt, wie der Herr will.« Vi­el­leicht kön­ne Herr von Orla es ein­mal über sei­nen Net­zen be­den­ken.

Zur sel­ben Stun­de hält der Wa­gen vor dem Or­la­schen Hau­se – Frau von Orla hat nun, der Zeit ent­spre­chend, solch ein blit­zen­des, dröh­nen­des Fahr­zeug in ih­rem Be­sitz –, und sie will eben aus der Haus­tür, die Hand­schu­he über­strei­fend, als durch das Gar­ten­tor ein blau­ge­klei­de­ter Mann her­ein­kommt, ein Ma­tro­se an­schei­nend, aber ohne Ab­zei­chen, auch ohne einen Schiffs­na­men an der Müt­ze. Der freie Hals ist braun, die Ho­sen be­de­cken un­ten die Stie­fel­spit­zen, und die schwar­zen Müt­zen­bän­der hän­gen bis tief auf den Rücken her­ab. Sein Ge­sicht ist breit und ohne Arg, aber et­was Wil­des und Aben­teu­er­li­ches weht mit sei­nen Müt­zen­bän­dern um die gan­ze Ge­stalt. Er kommt durch den Gar­ten wie durch einen Ha­fen, mit ei­ner läs­si­gen, aber ge­spann­ten Hung­rig­keit, und es sieht aus, als wer­de er mor­gen schon auf dem Klü­ver1 über ei­nem grü­nen Meer sit­zen, die Faust um ein Tau ge­legt und die großen Mö­wen über sei­nem weiß­blon­den Haar.

Doch schlägt er die Ab­sät­ze zu­sam­men und reißt die Müt­ze ab, als Frau von Orla auf ihn zu­kommt. Sie er­kennt ihn erst, als sie vor ihm steht, und reicht ihm lä­chelnd die Hand. »Hal­lo, Bil­der­mann, lan­ge nicht ge­se­hen. Ha­ben Sie mal wie­der ge­putscht?« Er er­wi­dert ihr Lä­cheln ohne Ver­le­gen­heit. »Aus mit Put­schen, Frau Ka­pi­tän«, sagt er, »jetzt wird ge­stem­pelt.« Und er schlägt mit der rech­ten Hand, in der er die Müt­ze hält, in die of­fe­ne lin­ke.

»Ach ja«, seufzt sie, »es sind trü­be Zei­ten, Bil­der­mann, und der Ka­pi­tän ist nicht da. Weiß Gott, ob er noch ein­mal wie­der­kommt … Ha­ben Sie schon ge­hört?«

Nein, er habe nichts ge­hört, und sein Ge­sicht ist mit ein­mal ernst und ge­spannt. »So, so …«, sagt er, als sie ihm das Wich­tigs­te von Tho­mas er­zählt hat, »fa­bel­haf­ter Mann, der Herr Ka­pi­tän! Ganz pri­ma! Geht hin und fängt Fi­sche. Soll ihm mal ei­ner nach­ma­chen …«

Wahr­schein­lich wer­den nicht vie­le Lust dazu ha­ben, meint Frau von Orla und lä­chelt auf eine be­son­de­re Wei­se. In die­sem Hand­werk wer­de er nun wohl al­lein blei­ben.

Aber der See­mann blick­te schon lan­ge über sie hin­weg in den Abend. Er lä­chelt nicht mehr, er hat schon wie­der »Meerau­gen«.

»Ja, Bil­der­mann«, sag­te Frau von Orla end­lich und sucht in ih­rem Hand­täsch­chen, »wenn Sie mal hin­schrei­ben wol­len, hier ist die Adres­se, aber ich glau­be, der Herr Ka­pi­tän möch­te vor­läu­fig al­lein dort blei­ben, er war zu­letzt so ein biss­chen men­schen­scheu, wis­sen Sie?«

»Kunst­stück!« sag­te der Ma­tro­se nur und sieht sich ab­we­send im Gar­ten um. Nein, er dan­ke ge­hor­samst, aber er sei noch nicht am Ver­hun­gern. Wenn es so weit sei, wer­de er die Hand nicht zu­ma­chen.

Er be­glei­tet Frau von Orla zum Wa­gen, schließt die Tür hin­ter ihr und fragt, ob er noch ein biss­chen zum jun­gen Herrn hin­auf dür­fe.

Ja, das dür­fe er na­tür­lich, und Schwes­ter Bea­te sol­le ihm we­nigs­tens ein or­dent­li­ches Abend­brot vor­set­zen.

Eine Stun­de spä­ter frag­te sie den Ad­mi­ral, ob er sich auch ein­mal das Le­ben habe ret­ten las­sen. Nein, das nicht, aber es sei oft ge­nug vor­ge­kom­men, er­wi­dert er. Es habe oft ge­nug Ge­le­gen­heit ge­ge­ben, bei an­de­ren.

»Et­was un­be­quem sind sie schon, die­se Le­bens­ret­ter«, sag­te Frau von Orla nach­denk­lich. »So wie stil­le Gläu­bi­ger, die nichts sa­gen, aber im­mer da sind … und fort­schi­cken kann man sie nicht …«

Um die­sel­be Zeit ist der See­mann wie­der un­ter­wegs, vom west­li­chen Vo­r­ort nach der nörd­li­chen Lau­ben­ko­lo­nie. Er hat die Hän­de in den Ta­schen ver­gra­ben, hält die kur­ze Pfei­fe zwi­schen den Zäh­nen und sieht nach­denk­lich aus. Zu­erst ver­sucht er aus­zu­rech­nen, ob die Ab­nut­zung sei­ner Schuh­soh­len mehr oder we­ni­ger be­tra­gen könn­te als das Fahr­geld für die Un­ter­grund­bahn. Dann aber zählt er an den Fin­gern die Mo­na­te bis zum Be­ginn der Herbst­stür­me ab, dann Ki­lo­me­ter­zah­len und Ta­ges­mär­sche, dann sein Stem­pel­geld. Schließ­lich nimmt er die Pfei­fe aus dem Mund, spuckt ei­nem Mann im Abend­pelz vor die Füße, sagt »Schiet!« und springt auf das Tritt­brett ei­nes fah­ren­den Au­to­bus, wo er bleibt, bis der Schaff­ner in der Tür er­scheint. Dann springt er ab, winkt mit der Hand und war­tet auf die nächs­te Fahr­ge­le­gen­heit. Er al­lein weiß, wann sein Ka­pi­tän ihn braucht, denkt er. Er ganz al­lein und nie­mand sonst. Noch nie zu früh und noch nie zu spät ge­kom­men!

Die Glo­cken schla­gen über al­lem Land, die Ster­ne stei­gen auf und ver­sin­ken. Auf den Land­stra­ßen wan­dern die Hei­mat­lo­sen, und die Fi­sche wan­dern im dunklen Was­ser. Vor der Mor­gen­däm­me­rung noch be­ginnt der Kuckuck zu ru­fen. Die Städ­te lie­gen wie hel­le In­seln auf der dunklen Erde, und die wei­ßen Schnü­re der Ei­sen­bah­nen lau­fen wie ein Spin­nen­netz über die Ebe­nen und Ge­bir­ge. Die Wäl­der aber schla­fen, die Seen, die Moo­re, die grü­nen Saa­ten. Ne­bel ste­hen auf, und zie­hen­de Vö­gel ru­fen über den Ne­beln. Der Saft steigt in den Bäu­men, und Tau fällt von den Ster­nen her­ab. »Los wird ge­wor­fen in den Schoß«, steht ge­schrie­ben, »aber es fällt, wie der Herr will.«

1 ein drei­e­cki­ges Vor­se­gel <<<

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