Morgenröthe

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15

Die ältesten Trostmittel. – Erste Stufe: der Mensch sieht in jedem Übelbefinden und Missgeschick etwas, wofür er irgend jemand anderes leiden lassen muß, – dabei wird er sich seiner noch vorhandenen Macht bewußt, und dies tröstet ihn. Zweite Stufe: der Mensch sieht in jedem Übelbefinden und Missgeschick eine Strafe, das heißt die Sühnung der Schuld und das Mittel, sich vom bösartigen Zauber eines wirklichen oder vermeintlichen Unrechtes loszumachen. Wenn er dieses Vorteils ansichtig wird, welchen das Unglück mit sich bringt, so glaubt er einen anderen nicht mehr dafür leiden lassen zu müssen, – er sagt sich von dieser Art Befriedigung los, weil er nun eine andere hat.

16

Erster Satz der Zivilisation. – Bei rohen Völkern gibt es eine Gattung von Sitten, deren Absicht die Sitte überhaupt zu sein scheint: peinliche und im Grunde überflüssige Bestimmungen (wie zum Beispiel die unter den Kamtschadalen, niemals den Schnee von den Schuhen mit dem Messer abzuschaben, niemals eine Kohle mit dem Messer zu spießen, niemals ein Eisen ins Feuer zu legen – und der Tod trifft den, welcher in solchen Stücken zuwiderhandelt!), die aber die fortwährende Nähe der Sitte, den unausgesetzten Zwang, Sitten zu üben, fortwährend im Bewusstsein erhalten: zur Bekräftigung des großen Satzes, mit dem die Zivilisation beginnt: jede Sitte ist besser als keine Sitte.

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Die gute und die böse Natur. – Erst haben die Menschen sich in die Natur hineingedichtet: sie sahen überall sich und ihresgleichen, nämlich ihre böse und launenhafte Gesinnung, gleichsam versteckt unter Wolken, Gewittern, Raubtieren, Bäumen und Kräutern: damals erfanden sie die »böse Natur«. Dann kam einmal eine Zeit, da sie sich wieder aus der Natur herausdichteten, die Zeit Rousseaus: man war einander so satt, daß man durchaus einen Weltwinkel haben wollte, wo der Mensch nicht hinkommt mit seiner Qual: man erfand die »gute Natur«.

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Die Moral des freiwilligen Leidens. – Welcher Genuss ist für Menschen im Kriegszustand jener kleinen, stets gefährdeten Gemeinde, wo die strengste Sittlichkeit waltet, der höchste? Also für kraftvolle, rachsüchtige, feindselige, tückische, argwöhnische, zum Furchtbarsten bereite und durch Entbehrung und Sittlichkeit gehärtete Seelen? Der Genuss der Grausamkeit: so wie es auch zur Tugend einer solchen Seele in diesen Zuständen gerechnet wird, in der Grausamkeit erfinderisch und unersättlich zu sein. An dem Tun des Grausamen erquickt sich die Gemeinde und wirft einmal die Düsterkeit der beständigen Angst und Vorsicht von sich. Die Grausamkeit gehört zur ältesten Festfreude der Menschheit. Folglich denkt man sich auch die Götter erquickt und festlich gestimmt, wenn man ihnen den Anblick der Grausamkeit anbietet, – und so schleicht sich die Vorstellung in die Welt, daß das freiwillige Leiden, die selbsterwählte Marter einen guten Sinn und Wert habe. Allmählich formt die Sitte in der Gemeinde eine Praxis gemäß dieser Vorstellung: man wird bei allem ausschweifenden Wohlbefinden von nun an mißtrauischer und bei allen schweren schmerzhaften Zuständen zuversichtlicher; man sagt sich: es mögen wohl die Götter ungnädig wegen des Glücks und gnädig wegen unseres Leidens auf uns sehen, – nicht etwa mitleidig! Denn das Mitleiden gilt als verächtlich und einer starken, furchtbaren Seele unwürdig; – aber gnädig, weil sie dadurch ergötzt und guter Dinge werden: denn der Grausame genießt den höchsten Kitzel des Machtgefühls. So kommt in den Begriff des »sittlichsten Menschen« der Gemeinde die Tugend des häufigen Leidens, der Entbehrung, der harten Lebensweise, der grausamen Kasteiung, – nicht, um es wieder und wieder zu sagen, als Mittel der Zucht, der Selbstbeherrschung, des Verlangens nach individuellem Glück, – sondern als eine Tugend, welche der Gemeinde bei den bösen Göttern einen guten Geruch macht und wie ein beständiges Versöhnungsopfer auf dem Altare zu ihnen empordampft. Alle jene geistigen Führer der Völker, welche in dem trägen furchtbaren Schlamm ihrer Sitten etwas zu bewegen vermochten, haben außer dem Wahnsinn auch die freiwillige Marter nötig gehabt, um Glauben zu finden – und zumeist und zuerst, wie immer, den Glauben an sich selber! Je mehr gerade ihr Geist auf neuen Bahnen ging und folglich von Gewissensbissen und Ängsten gequält wurde, um so grausamer wüteten sie gegen das eigene Fleisch, das eigene Gelüste und die eigene Gesundheit, – wie um der Gottheit einen Ersatz an Lust zu bieten, wenn sie vielleicht um der vernachlässigten und bekämpften Gebräuche und der neuen Ziele willen erbittert sein sollte. Glaube man nicht zu schnell, daß wir jetzt von einer solchen Logik des Gefühls uns völlig befreit hätten! Die heldenhaftesten Seelen mögen sich darüber mit sich befragen. Jeder kleinste Schritt auf dem Felde des freien Denkens, des persönlich gestalteten Lebens ist von jeher mit geistigen und körperlichen Martern erstritten worden: nicht nur das Vorwärts-Schreiten, nein! vor allem das Schreiten, die Bewegung, die Veränderung hat ihre unzähligen Märtyrer nötig gehabt, durch die langen pfadsuchenden und grundlegenden Jahrtausende hindurch, an welche man freilich nicht denkt, wenn man, wie gewohnt, von »Weltgeschichte«, von diesem lächerlich kleinen Ausschnitt des menschlichen Daseins redet; und selbst in dieser sogenannten Weltgeschichte, welche im Grunde ein Lärm um die letzten Neuigkeiten ist, gibt es kein eigentlich wichtigeres Thema, als die uralte Tragödie von den Märtyrern, die den Sumpf bewegen wollten. Nichts ist teurer erkauft als das Wenige von menschlicher Vernunft und vom Gefühle der Freiheit, welches jetzt unsern Stolz ausmacht. Dieser Stolz aber ist es, dessentwegen es uns jetzt fast unmöglich wird, mit jenen ungeheuren Zeitstrecken der »Sittlichkeit der Sitte« zu empfinden, welche der »Weltgeschichte« vorausliegen, als die wirkliche und entscheidende Hauptgeschichte, welche den Charakter der Menschheit festgestellt hat: wo das Leiden als Tugend, die Grausamkeit als Tugend, die Verstellung als Tugend, die Rache als Tugend, die Verleugnung der Vernunft als Tugend, dagegen das Wohlbefinden als Gefahr, die Wissbegier als Gefahr, der Friede als Gefahr, das Mitleiden als Gefahr, das Bemitleidetwerden als Schimpf, die Arbeit als Schimpf, der Wahnsinn als Göttlichkeit, die Veränderung als das Unsittliche und Verderbenschwangere in Geltung war! – Ihr meint, es habe sich alles dies geändert, und die Menschheit müsse somit ihren Charakter vertauscht haben? Oh, ihr Menschenkenner, lernt euch besser kennen!

19

Sittlichkeit und Verdummung. – Die Sitte repräsentiert die Erfahrungen früherer Menschen über das vermeintlich Nützliche und Schädliche, – aber das Gefühl für die Sitte (Sittlichkeit) bezieht sich nicht auf jene Erfahrungen als solche, sondern auf das Alter, die Heiligkeit, die Indiskutabilität der Sitte. Und damit wirkt dies Gefühl dem entgegen, daß man neue Erfahrungen macht und die Sitten korrigiert: das heißt, die Sittlichkeit wirkt der Entstehung neuer und besserer Sitten entgegen: sie verdummt.

20

Freitäter und Freidenker. – Die Freitäter sind im Nachteil gegen die Freidenker, weil die Menschen sichtbarer an den Folgen von Taten als von Gedanken leiden. Bedenkt man aber, daß diese wie jene ihre Befriedigung suchen, und daß den Freidenkern schon ein Ausdenken und Aussprechen von verbotenen Dingen diese Befriedigung gibt, so ist in Ansehung der Motive alles eins: und in Ansehung der Folgen wird der Ausschlag sogar gegen den Freidenker sein, vorausgesetzt, daß man nicht nach der nächsten und gröbsten Sichtbarkeit – das heißt: nicht wie alle Welt urteilt. Man hat viel von der Verunglimpfung wieder zurückzunehmen, mit der die Menschen alle jene bedacht haben, welche durch die Tat den Bann einer Sitte durchbrachen, – im allgemeinen heißen sie Verbrecher. Jeder, der das bestehende Sittengesetz umwarf, hat bisher zuerst immer als schlechter Mensch gegolten: aber wenn man, wie es vorkam, hinterher es nicht wieder aufzurichten vermochte und sich damit zufrieden gab, so veränderte sich das Prädikat allmählich; – die Geschichte handelt fast nur von diesen schlechten Menschen, welche später gutgesprochen worden sind!

21

»Erfüllung des Gesetzes.« – Im Falle, daß die Befolgung einer moralischen Vorschrift doch ein anderes Resultat ergibt, als versprochen und erwartet wird, und den Sittlichen nicht das verheißene Glück, sondern wider Erwarten Unglück und Elend trifft, so bleibt immer die Ausflucht des Gewissenhaften und Ängstlichen übrig: »es ist etwas in der Ausführung versehen worden.« Im allerschlimmsten Falle wird eine tief leidende und zerdrückte Menschheit sogar dekretieren: »es ist unmöglich, die Vorschrift gut auszuführen, wir sind durch und durch schwach und sündhaft und der Moralität im innersten Grunde nicht fähig, folglich haben wir auch keinen Anspruch auf Glück und Gelingen. Die moralischen Vorschriften und Verheißungen sind für bessere Wesen, als wir sind, gegeben.«

22

Werke und Glaube. – Immer noch wird durch die protestantischen Lehrer jener Grundirrtum fortgepflanzt: daß es nur auf den Glauben ankomme, und daß aus dem Glauben die Werke notwendig folgen müssen. Dies ist schlechterdings nicht wahr, aber klingt so verführerisch, daß es schon andere Intelligenzen als die Luthers (nämlich die des Sokrates und Plato) betört hat: obwohl der Augenschein aller Erfahrungen aller Tage dagegen spricht. Das zuversichtlichste Wissen oder Glauben kann nicht die Kraft zur Tat, noch die Gewandtheit zur Tat geben, es kann nicht die Übung jenes feinen, vielteiligen Mechanismus ersetzen, welche vorhergegangen sein muß, damit irgend etwas aus einer Vorstellung sich in Aktion verwandeln könne. Vor allem und zuerst die Werke! Das heißt Übung, Übung, Übung! Der dazugehörige »Glaube« wird sich schon einstellen, – dessen seid versichert!

 

23

Worin wir am feinsten sind. – Dadurch, daß man sich viele tausend Jahre lang die Sachen (Natur, Werkzeuge, Eigentum jeder Art) ebenfalls belebt und beseelt dachte, mit der Kraft zu schaden und sich den menschlichen Absichten zu entziehen, ist das Gefühl der Ohnmacht unter den Menschen viel größer und viel häufiger gewesen, als es hätte sein müssen: man hatte ja nötig, sich der Sachen ebenso zu versichern, wie der Menschen und Tiere, durch Gewalt, Zwang, Schmeichelei, Verträge, Opfer, – und hier ist der Ursprung der meisten abergläubischen Gebräuche, das heißt eines erheblichen, vielleicht überwiegenden und trotzdem vergeudeten und unnützen Bestandteils aller von Menschen bisher geübten Tätigkeit! – Aber weil das Gefühl der Ohnmacht und der Furcht so stark und so lange fast fortwährend in Reizung war, hat sich das Gefühl der Macht in solcher Feinheit entwickelt, daß es jetzt hierin der Mensch mit der delikatesten Goldwaage aufnehmen kann. Es ist sein stärkster Hang geworden; die Mittel, welche man entdeckte, sich dieses Gefühl zu schaffen, sind beinahe die Geschichte der Kultur.

24

Der Beweis einer Vorschrift. – Im allgemeinen wird die Güte oder Schlechtigkeit einer Vorschrift, zum Beispiel der, Brot zu backen, so bewiesen, daß das in ihr besprochene Resultat sich ergibt oder nicht ergibt, vorausgesetzt, daß sie genau ausgeführt wird.

Anders steht es jetzt mit den moralischen Vorschriften: denn hier sind gerade die Resultate nicht zu übersehen, oder deutbar und unbestimmt. Diese Vorschriften ruhen auf Hypothesen von dem allergeringsten wissenschaftlichen Werte, deren Beweis und deren Widerlegung aus den Resultaten im Grunde gleich unmöglich ist: – aber einstmals, bei der ursprünglichen Roheit aller Wissenschaft und den geringen Ansprüchen, die man machte, um ein Ding für erwiesen zu nehmen, – einstmals wurde die Güte oder Schlechtigkeit einer Vorschrift der Sitte ebenso festgestellt wie jetzt die jeder anderen Vorschrift: durch Hinweisung auf den Erfolg. Wenn bei den Eingeborenen in Russisch-Amerika die Vorschrift gilt: du sollst keinen Tierknochen ins Feuer werfen oder den Hunden geben, – so wird sie so bewiesen: »tue es und du wirst kein Glück auf der Jagd haben.«

Nun aber hat man in irgendeinem Sinne fast immer »kein Glück auf der Jagd«; es ist nicht leicht möglich, die Güte der Vorschrift auf diesem Wege zu widerlegen, namentlich wenn eine Gemeinde und nicht ein einzelner als Träger der Strafe gilt; vielmehr wird immer ein Umstand eintreten, welcher die Vorschrift zu beweisen scheint.

25

Sitte und Schönheit. – Zugunsten der Sitte sei nicht verschwiegen, daß bei jedem, der sich ihr völlig und von ganzem Herzen und von Anbeginn an unterwirft, die Angriffs- und Verteidigungsorgane – die körperlichen und geistigen – verkümmern: das heißt, er wird zunehmend schöner! Denn die Übung jener Organe und der ihnen entsprechenden Gesinnung ist es, welche häßlich erhält und häßlicher macht. Der alte Pavian ist darum häßlicher als der junge, und der weibliche junge Pavian ist dem Menschen am ähnlichsten: also am schönsten. – Hiernach mache man einen Schluß auf den Ursprung der Schönheit der Weiber!

26

Die Tiere und die Moral. – Die Praktiken, welche in der verfeinerten Gesellschaft gefordert werden: das sorgfältige Vermeiden des Lächerlichen, des Auffälligen, des Anmaßenden, das Zurückstellen seiner Tugenden sowohl wie seiner heftigeren Begehrungen, das Sich-gleichgeben, Sich-einordnen, Sich-verringern, – dies alles als die gesellschaftliche Moral ist im groben überall bis in die tiefste Tierwelt hinab zu finden, – und erst in dieser Tiefe sehen wir die Hinterabsicht aller dieser liebenswürdigen Vorkehrungen: man will seinen Verfolgern entgehen und im Aufsuchen seiner Beute begünstigt sein. Deshalb lernen die Tiere sich beherrschen und sich in der Weise verstellen, daß manche zum Beispiel ihre Farben der Farbe der Umgebung anpassen (vermöge der sogenannten »chromatischen Funktion«), daß sie sich tot stellen oder die Formen und Farben eines anderen Tieres oder von Sand, Blättern, Flechten, Schwämmen annehmen (das, was die englischen Forscher mit mimicry bezeichnen). So verbirgt sich der einzelne unter der Allgemeinschaft des Begriffes »Mensch« oder unter der Gesellschaft, oder paßt sich an Fürsten, Stände, Parteien, Meinungen der Zeit oder der Umgebung an: und zu allen den feinen Arten, uns glücklich, dankbar, mächtig, verliebt zu stellen, wird man leicht das tierische Gleichnis finden. Auch jenen Sinn für Wahrheit, der im Grunde der Sinn für Sicherheit ist, hat der Mensch mit dem Tiere gemeinsam: man will sich nicht täuschen lassen, sich nicht durch sich selber irreführen lassen, man hört dem Zureden der eigenen Leidenschaften mißtrauisch zu, man bezwingt sich, und bleibt gegen sich auf der Lauer; dies alles versteht das Tier gleich dem Menschen, auch bei ihm wächst die Selbstbeherrschung aus dem Sinn für das Wirkliche (aus der Klugheit) heraus. Ebenfalls beobachtet es die Wirkungen, die es auf die Vorstellung anderer Tiere ausübt, es lernt von dort aus auf sich zurückblicken, sich »objektiv« nehmen, es hat seinen Grad von Selbsterkenntnis. Das Tier beurteilt die Bewegungen seiner Gegner und Freunde, es lernt ihre Eigentümlichkeiten auswendig, es richtet sich auf diese ein: gegen einzelne einer bestimmten Gattung gibt es ein für allemal den Kampf auf und ebenso errät es in der Annäherung mancher Arten von Tieren die Absicht des Friedens und des Vertrags. Die Anfänge der Gerechtigkeit, wie die der Klugheit, Mäßigung, Tapferkeit, – kurz alles, was wir mit dem Namen der sokratischen Tugenden bezeichnen, ist tierhaft: eine Folge jener Triebe, welche lehren, nach Nahrung zu suchen und den Feinden zu entgehen. Erwägen wir nun, daß auch der höchste Mensch sich eben nur in der Art seiner Nahrung und in dem Begriff dessen, was ihm alles feindlich ist, erhoben und verfeinert hat, so wird es nicht unerlaubt sein, das ganze moralische Phänomen als tierhaft zu bezeichnen.

27

Der Wert im Glauben an übermenschliche Leidenschaften. – Die Institution der Ehe hält hartnäckig den Glauben aufrecht, daß die Liebe, obschon eine Leidenschaft, doch als solche der Dauer fähig sei, ja daß die dauerhafte lebenslängliche Liebe als Regel aufgestellt werden könne. Durch diese Zähigkeit eines edlen Glaubens, trotzdem daß derselbe sehr oft und fast in der Regel widerlegt wird und somit eine pia fraus ist, hat sie der Liebe einen höheren Adel gegeben. Alle Institutionen, welche einer Leidenschaft Glauben an ihre Dauer und Verantwortlichkeit der Dauer zugestehen, wider das Wesen der Leidenschaft, haben ihr einen neuen Rang gegeben: und der, welcher von einer solchen Leidenschaft nunmehr befallen wird, glaubt sich nicht, wie früher, dadurch erniedrigt oder gefährdet, sondern vor sich und seinesgleichen gehoben. Man denke an Institutionen und Sitten, welche aus der feurigen Hingebung des Augenblicks die ewige Treue geschaffen haben, aus dem Gelüst des Zornes die ewige Rache, aus Verzweiflung die ewige Trauer, aus dem plötzlichen und einmaligen Worte die ewige Verbindlichkeit. Jedesmal ist sehr viel Heuchelei und Lüge durch eine solche Umschaffung in die Welt gekommen: jedesmal auch, und um diesen Preis, ein neuer übermenschlicher, den Menschen hebender Begriff.

28

Die Stimmung als Argument. – Was ist die Ursache freudiger Entschlossenheit zur Tat? – diese Frage hat die Menschen viel beschäftigt. Die älteste und immer noch geläufige Antwort ist: Gott ist die Ursache, er gibt uns dadurch zu verstehen, daß er unserem Willen zustimmt. Wenn man ehemals die Orakel über ein Vorhaben befragte, wollte man von ihnen jene freudige Entschlossenheit heimbringen; und jeder beantwortete einen Zweifel, wenn ihm mehrere mögliche Handlungen vor der Seele standen, so: »ich werde das tun, wobei jenes Gefühl sich einstellt.« Man entschied sich also nicht für das Vernünftigste, sondern für ein Vorhaben, bei dessen Bilde die Seele mutig und hoffnungsvoll wurde. Die gute Stimmung wurde als Argument in die Waagschale gelegt und überwog die Vernünftigkeit: deshalb, weil die Stimmung abergläubisch ausgelegt wurde, als Wirkung eines Gottes, der Gelingen verheißt und durch sie seine Vernunft als die höchste Vernünftigkeit reden läßt. Nun erwäge man die Folgen eines solchen Vorurteils, wenn kluge und machtdurstige Männer sich seiner bedienten – und bedienen! »Stimmung machen!« – damit kann man alle Gründe ersetzen und alle Gegengründe besiegen!

29

Die Schauspieler der Tugend und der Sünde. – Unter den Männern des Altertums, welche durch ihre Tugend berühmt wurden, gab es, wie es scheint, eine Un- und Überzahl von solchen, die vor sich selber schauspielerten: namentlich werden die Griechen, als eingefleischte Schauspieler, dies eben ganz unwillkürlich getan und für gut befunden haben. Dazu war jeder mit seiner Tugend im Wettstreit mit der Tugend eines andern oder aller anderen: wie sollte man nicht alle Künste aufgewendet haben, um seine Tugend zur Schau zu bringen, vor allem vor sich selber, schon um der Übung willen! Was nützte eine Tugend, die man nicht zeigen konnte, oder die sich nicht zu zeigen verstand! – Diesen Schauspielern der Tugend tat das Christentum Einhalt: dafür erfand es das widerliche Prunken und Paradieren mit der Sünde, es brachte die erlogene Sündhaftigkeit in die Welt (bis zum heutigen Tage gilt sie als »guter Ton« unter guten Christen).

30

Die verfeinerte Grausamkeit als Tugend. – Hier ist eine Moralität, die ganz auf dem Triebe nach Auszeichnung beruht, – denkt nicht zu gut von ihr! Was ist denn das eigentlich für ein Trieb und welches ist sein Hintergedanke? Man will machen, daß unser Anblick dem anderen wehe tue und seinen Neid, das Gefühl der Ohnmacht und seines Herabsinkens wecke; man will ihm die Bitterkeit seines Fatums zu kosten geben, indem man auf seine Zunge einen Tropfen unseres Honigs träufelt und ihm scharf und schadenfroh bei dieser vermeintlichen Wohltat ins Auge sieht. Dieser ist demütig geworden und vollkommen jetzt in seiner Demut, – suchet nach denen, welchen er damit seit langer Zeit eine Tortur hat machen wollen! ihr werdet sie schon finden! Jener zeigt Erbarmen gegen die Tiere und wird deshalb bewundert, – aber es gibt gewisse Menschen, an welchen er eben damit seine Grausamkeit hat auslassen wollen. Dort steht ein großer Künstler: die vorempfundene Wollust am Neide bezwungener Nebenbuhler hat seine Kraft nicht schlafen lassen, bis er groß geworden ist, – wie viele bittere Augenblicke anderer Seelen hat er sich für das Großwerden zahlen lassen! Die Keuschheit der Nonne: mit welchen strafenden Augen sieht sie in das Gesicht anderslebender Frauen! wie viel Lust der Rache ist in diesen Augen! – Das Thema ist kurz, die Variationen darauf könnten zahllos sein, aber nicht leicht langweilig, – denn es ist immer noch eine gar zu paradoxe und fast wehe tuende Neuigkeit, daß die Moralität der Auszeichnung im letzten Grunde die Lust an verfeinerter Grausamkeit ist. Im letzten Grunde – das soll hier heißen: jedesmal in der ersten Generation. Denn wenn die Gewohnheit irgendeines auszeichnenden Tuns sich vererbt, wird doch der Hintergedanke nicht mit vererbt (nur Gefühle, aber keine Gedanken erben sich fort): und vorausgesetzt, daß er nicht durch die Erziehung wieder dahintergeschoben wird, gibt es in der zweiten Generation schon keine Lust der Grausamkeit mehr dabei: sondern Lust allein an der Gewohnheit als solcher. Diese Lust aber ist die erste Stufe des »Guten«.

31

Der Stolz auf den Geist. – Der Stolz des Menschen, der sich gegen die Lehre der Abstammung von Tieren sträubt und zwischen Natur und Mensch die große Kluft legt, – dieser Stolz hat seinen Grund in einem Vorurteil über das, was Geist ist: und dieses Vorurteil ist verhältnismäßig jung. In der großen Vorgeschichte der Menschheit setzte man Geist überall voraus und dachte nicht daran, ihn als Vorrecht des Menschen zu ehren. Weil man im Gegenteil das Geistige (nebst allen Trieben, Bosheiten, Neigungen) zum Gemeingut und folglich gemein gemacht hatte, so schämte man sich nicht, von Tieren oder Bäumen abzustammen (die vornehmen Geschlechter glaubten sich durch solche Fabeln geehrt) und sah in dem Geiste das, was uns mit der Natur verbindet, nicht was uns von ihr abscheidet. So erzog man sich in der Bescheidenheit, – und ebenfalls infolge eines Vorurteils.

 

32

Der Hemmschuh. – Moralisch zu leiden und dann zu hören, dieser Art Leiden liege ein Irrtum zugrunde: dies empört. Es gibt ja einen so einzigen Trost, durch sein Leiden eine »tiefere Welt der Wahrheit« zu bejahen, als alle sonstige Welt ist, und man will viel lieber leiden und sich dabei über die Wirklichkeit erhaben fühlen (durch das Bewusstsein, jener »tieferen Welt der Wahrheit« damit nahe zu kommen), als ohne Leid und dann ohne dies Gefühl des Erhabenen sein. Somit ist es der Stolz und die gewohnte Art, ihn zu befriedigen, welche sich dem neuen Verständnis der Moral entgegenstemmen. Welche Kraft wird man also anzuwenden haben, um diesen Hemmschuh zu beseitigen? Mehr Stolz? Einen neuen Stolz?

33

Die Verachtung der Ursachen, der Folgen und der Wirklichkeit. – Jene bösen Zufälle, welche eine Gemeinde treffen, plötzliche Wetter oder Unfruchtbarkeiten oder Seuchen, leiten alle Mitglieder auf den Argwohn, daß Verstöße gegen die Sitte begangen sind oder daß neue Gebräuche erfunden werden müssen, um eine neue dämonische Gewalt und Laune zu beschwichtigen. Diese Art Argwohn und Nachdenken geht somit gerade der Ergründung der wahren natürlichen Ursachen aus dem Wege, sie nimmt die dämonische Ursache als die Voraussetzung. Hier ist die eine Quelle der erblichen Verkehrtheit des menschlichen Intellekts: und die andere Quelle entspringt daneben, indem man ebenso grundsätzlich den wahren natürlichen Folgen einer Handlung ein viel geringeres Augenmerk schenkte, als den übernatürlichen (den sogenannten Strafen und Gnaden der Gottheit). Es sind zum Beispiel bestimmte Bäder für bestimmte Zeiten vorgeschrieben: man badet, nicht um rein zu werden, sondern weil es vorgeschrieben ist. Man lernt nicht die wirklichen Folgen der Unreinlichkeit fliehen, sondern das vermeintliche Mißfallen der Götter an der Versäumnis eines Bades. Unter dem Drucke abergläubischer Angst argwöhnt man, es müsse sehr viel mehr mit diesem Abwaschen der Unreinlichkeit auf sich haben, man legt zweite und dritte Bedeutungen hinein, man verdirbt sich den Sinn und die Lust am Wirklichen und hält dies zuletzt, nur insofern es Symbol sein kann, noch für wertvoll. So verachtet der Mensch im Banne der Sittlichkeit der Sitte erstens die Ursachen, zweitens die Folgen, drittens die Wirklichkeit, und spinnt alle seine höheren Empfindungen (der Ehrfurcht, der Erhabenheit, des Stolzes, der Dankbarkeit, der Liebe) an eine eingebildete Welt an: die sogenannte höhere Welt. Und noch jetzt sehen wir die Folge: wo das Gefühl eines Menschen sich erhebt, da ist irgendwie jene eingebildete Welt im Spiel. Es ist traurig: aber einstweilen müssen dem wissenschaftlichen Menschen alle höheren Gefühle verdächtig sein, so sehr sind sie mit Wahn und Unsinn verquickt. Nicht daß sie es an sich oder für immer sein müßten: aber gewiß wird von allen allmählichen Reinigungen, welche der Menschheit bevorstehen, die Reinigung der höheren Gefühle eine der allmählichsten sein.

34

Moralische Gefühle und moralische Begriffe. – Ersichtlich werden moralische Gefühle so übertragen, daß die Kinder bei den Erwachsenen starke Neigungen und Abneigungen gegen bestimmte Handlungen wahrnehmen und daß sie als geborene Affen diese Neigungen und Abneigungen nachmachen; im späteren Leben, wo sie sich voll von diesen angelernten und wohlgeübten Affekten finden, halten sie ein nachträgliches Warum, eine Art Begründung, daß jene Neigungen und Abneigungen berechtigt sind, für eine Sache des Anstandes. Diese »Begründungen« aber haben weder mit der Herkunft, noch dem Grade des Gefühls bei ihnen etwas zu tun: man findet sich eben nur mit der Regel ab, daß man als vernünftiges Wesen Gründe für sein Für und Wider haben müsse, und zwar angebbare und annehmbare Gründe. Insofern ist die Geschichte der moralischen Gefühle eine ganz andere als die Geschichte der moralischen Begriffe. Erstere sind mächtig vor der Handlung, letztere namentlich nach der Handlung, angesichts der Nötigung, sich über sie auszusprechen.

35

Gefühle und deren Abkunft von Urteilen. – »Vertraue deinem Gefühle!« – Aber Gefühle sind nichts Letztes, Ursprüngliches, hinter den Gefühlen stehen Urteile und Wertschätzungen, welche in der Form von Gefühlen (Neigungen, Abneigungen) uns vererbt sind. Die Inspiration, die aus dem Gefühle stammt, ist das Enkelkind eines Urteils – und oft eines falschen! – und jedenfalls nicht deines eigenen! Seinem Gefühle vertrauen – das heißt seinem Großvater und seiner Großmutter und deren Großeltern mehr gehorchen als den Göttern, die in uns sind: unserer Vernunft und unserer Erfahrung.

36

Eine Narrheit der Pietät mit Hintergedanken. – Wie! die Erfinder der uralten Kulturen, die ältesten Verfertiger der Werkzeuge und Messschnüre, der Wagen und Schiffe und Häuser, die ersten Beobachter der himmlischen Gesetzmäßigkeit und der Regeln des Einmaleins, – sie seien etwas unvergleichlich anderes und Höheres als die Erfinder und Beobachter unserer Zeiten? Die ersten Schritte hätten einen Wert, dem alle unsere Reisen und Weltumsegelungen im Reiche der Entdeckungen nicht gleichkämen? So klingt das Vorurteil, so argumentiert man für die Geringschätzung des gegenwärtigen Geistes. Und doch liegt auf der Hand, daß der Zufall ehemals der größte aller Entdecker und Beobachter und der wohlwollende Einbläser jener erfinderischen Alten war, und daß bei der unbedeutendsten Erfindung, die jetzt gemacht wird, mehr Geist, Zucht und wissenschaftliche Phantasie verbraucht wird, als früher in ganzen Zeitläuften überhaupt vorhanden war.

37

Falsche Schlüsse aus der Nützlichkeit. – Wenn man die höchste Nützlichkeit einer Sache bewiesen hat, so ist damit auch noch kein Schritt zur Erklärung ihres Ursprungs getan: das heißt, man kann mit der Nützlichkeit niemals die Notwendigkeit der Existenz verständlich machen. Aber gerade das umgekehrte Urteil hat bisher geherrscht – und bis in die Gebiete der strengsten Wissenschaft hinein. Hat man nicht selbst in der Astronomie die (angebliche) Nützlichkeit in der Anordnung der Satelliten (das durch die größere Entfernung von der Sonne abgeschwächte Licht anderweitig zu ersetzen, damit es den Bewohnern der Gestirne nicht an Licht mangele) für den Endzweck ihrer Anordnung und für die Erklärung ihrer Entstehung ausgegeben? Wobei man sich der Schlüsse des Kolumbus erinnern wird: die Erde ist für den Menschen gemacht, also, wenn es Länder gibt, müssen sie bewohnt sein. »Ist es wahrscheinlich, daß die Sonne auf nichts scheine, und daß die nächtlichen Wachen der Sterne an pfadlose Meere und menschenleere Länder verschwendet werden?«

38

Die Triebe durch die moralischen Urteile umgestaltet. – Derselbe Trieb entwickelt sich zum peinlichen Gefühl der Feigheit, unter dem Eindruck des Tadels, den die Sitte auf diesen Trieb gelegt hat: oder zum angenehmen Gefühl der Demut, falls eine Sitte, wie die christliche, ihn sich ans Herz gelegt und gut geheißen hat. Das heißt: es hängt sich ihm entweder ein gutes oder ein böses Gewissen an! An sich hat er, wie jeder Trieb, weder dies noch überhaupt einen moralischen Charakter und Namen, noch selbst eine bestimmte begleitende Empfindung der Lust oder Unlust: er erwirbt dies alles erst, als seine zweite Natur, wenn er in Relation zu schon auf Gut und Böse getauften Trieben tritt, oder als Eigenschaft von Wesen bemerkt wird, welche vom Volke schon moralisch festgestellt und abgeschätzt sind. – So haben die älteren Griechen anders über den Neid empfunden als wir; Hesiod zählt ihn unter den Wirkungen der guten, wohltätigen Eris auf, und es hatte nichts Anstößiges, den Göttern etwas Neidisches zuzuerkennen: begreiflich bei einem Zustande der Dinge, dessen Seele der Wettstreit war; der Wettstreit aber war als gut festgestellt und abgeschätzt. Ebenfalls waren die Griechen von uns verschieden in der Abschätzung der Hoffnung: man empfand sie als blind und tückisch; Hesiod hat das Stärkste über sie in einer Fabel angedeutet, und zwar etwas so Befremdendes, daß kein neuerer Erklärer es verstanden hat, – denn es geht wider den modernen Geist, welcher vom Christentum her an die Hoffnung als eine Tugend zu glauben gelernt hat. Bei den Griechen dagegen, welchen der Zugang zum Wissen der Zukunft nicht gänzlich verschlossen schien, und denen in zahllosen Fällen eine Anfrage um die Zukunft zur religiösen Pflicht gemacht wurde, wo wir uns mit der Hoffnung begnügen, mußte wohl, dank allen Orakeln und Wahrsagern, die Hoffnung etwas degradiert werden und ins Böse und Gefährliche hinabsinken. – Die Juden haben den Zorn anders empfunden als wir und ihn heilig gesprochen: dafür haben sie die düstere Majestät des Menschen, mit welcher verbunden er sich zeigte, unter sich in einer Höhe gesehen, die sich ein Europäer nicht vorzustellen vermag; sie haben ihren zornigen heiligen Jehova nach ihren zornigen heiligen Propheten gebildet. An ihnen gemessen, sind die großen Zürner unter den Europäern gleichsam Geschöpfe aus zweiter Hand.

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