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Neuntes Stueck Den 29. Mai 1767
In dem Romane hat St. Preux doch noch dann und wann Gelegenheit, seinen aufgeklaerten Verstand zu zeigen und die taetige Rolle des rechtschaffenen Mannes zu spielen. Aber Siegmund in der Komoedie ist weiter nichts, als ein kleiner eingebildeter Pedant, der aus seiner Schwachheit eine Tugend macht und sich sehr beleidiget findet, dass man seinem zaertlichen Herzchen nicht durchgaengig will Gerechtigkeit widerfahren lassen. Seine ganze Wirksamkeit laeuft auf ein paar maechtige Torheiten heraus. Das Buerschchen will sich schlagen und erstechen.
Der Verfasser hat es selbst empfunden, dass sein Siegmund nicht in genugsamer Handlung erscheinet; aber er glaubt, diesem Einwurfe dadurch vorzubeugen, wenn er zu erwaegen gibt: "dass ein Mensch seinesgleichen, in einer Zeit von vierundzwanzig Stunden, nicht wie ein Koenig, dem alle Augenblicke Gelegenheiten dazu darbieten, grosse Handlungen verrichten koenne. Man muesse zum voraus annehmen, dass er ein rechtschaffener Mann sei, wie er beschrieben werde; und genug, dass Julie, ihre Mutter, Clarisse, Eduard, lauter rechtschaffene Leute, ihn dafuer erkannt haetten."
Es ist recht wohl gehandelt, wenn man, im gemeinen Leben, in den Charakter anderer kein beleidigendes Misstrauen setzt; wenn man dem Zeugnisse, das sich ehrliche Leute untereinander erteilen, allen Glauben beimisst. Aber darf uns der dramatische Dichter mit dieser Regel der Billigkeit abspeisen? Gewiss nicht; ob er sich schon sein Geschaeft dadurch sehr leicht machen koennte. Wir wollen es auf der Buehne sehen, wer die Menschen sind, und koennen es nur aus ihren Taten sehen. Das Gute, das wir ihnen, bloss auf anderer Wort, zutrauen sollen, kann uns unmoeglich fuer sie interessieren; es laesst uns voellig gleichgueltig, und wenn wir nie die geringste eigene Erfahrung davon erhalten, so hat es sogar eine ueble Rueckwirkung auf diejenigen, auf deren Treu und Glauben wir es einzig und allein annehmen sollen. Weit gefehlt also, dass wir deswegen, weil Julie, ihre Mutter, Clarisse, Eduard, den Siegmund fuer den vortrefflichsten, vollkommensten jungen Menschen erklaeren, ihn auch dafuer zu erkennen bereit sein sollten: so fangen wir vielmehr an, in die Einsicht aller dieser Personen ein Misstrauen zu setzen, wenn wir nie mit unsern eigenen Augen etwas sehen, was ihre guenstige Meinung rechtfertiget. Es ist wahr, in vierundzwanzig Stunden kann eine Privatperson nicht viel grosse Handlungen verrichten. Aber wer verlangt denn grosse? Auch in den kleinsten kann sich der Charakter schildern; und nur die, welche das meiste Licht auf ihn werfen, sind, nach der poetischen Schaetzung, die groessten. Wie traf es sich denn indes, dass vierundzwanzig Stunden Zeit genug waren, dem Siegmund zu den zwei aeussersten Narrheiten Gelegenheit zu schaffen, die einem Menschen in seinen Umstaenden nur immer einfallen koennen? Die Gelegenheiten sind auch darnach; koennte der Verfasser antworten: doch das wird er wohl nicht. Sie moechten aber noch so natuerlich herbeigefuehret, noch so fein behandelt sein: so wuerden darum die Narrheiten selbst, die wir ihn zu begehen im Begriffe sehen, ihre ueble Wirkung auf unsere Idee von dem jungen stuermischen Scheinweisen nicht verlieren. Dass er schlecht handele, sehen wir: dass er gut handeln koenne, hoeren wir nur, und nicht einmal in Beispielen, sondern in den allgemeinsten schwankendsten Ausdruecken.
Die Haerte, mit der Julien von ihrem Vater begegnet wird, da sie einen andern von ihm zum Gemahle nehmen soll, als den ihr Herz gewaehlet hatte, wird beim Rousseau nur kaum beruehrt. Herr Heufeld hatte den Mut, uns eine ganze Szene davon zu zeigen. Ich liebe es, wenn ein junger Dichter etwas wagt. Er laesst den Vater die Tochter zu Boden stossen. Ich war um die Ausfuehrung dieser Aktion besorgt. Aber vergebens; unsere Schauspieler hatten sie so wohl konzertieret; es ward, von seiten des Vaters und der Tochter, so viel Anstand dabei beobachtet, und dieser Anstand tat der Wahrheit so wenig Abbruch, dass ich mir gestehen musste, diesen Akteurs koenne man so etwas anvertrauen, oder keinen. Herr Heufeld verlangt, dass, wenn Julie von ihrer Mutter aufgehoben wird, sich in ihrem Gesichte Blut zeigen soll. Es kann ihm lieb sein, dass dieses unterlassen worden. Die Pantomime muss nie bis zu dem Ekelhaften getrieben werden. Gut, wenn in solchen Faellen die erhitzte Einbildungskraft Blut zu sehen glaubt; aber das Auge muss es nicht wirklich sehen.
Die darauf folgende Szene ist die hervorragendste des ganzen Stueckes. Sie gehoert dem Rousseau. Ich weiss selbst nicht, welcher Unwille sich in die Empfindung des Pathetischen mischet, wenn wir einen Vater seine Tochter fussfaellig um etwas bitten sehen. Es beleidiget, es kraenket uns, denjenigen so erniedriget zu erblicken, dem die Natur so heilige Rechte uebertragen hat. Dem Rousseau muss man diesen ausserordentlichen Hebel verzeihen; die Masse ist zu gross, die er in Bewegung setzen soll. Da keine Gruende bei Julien anschlagen wollen; da ihr Herz in der Verfassung ist, dass es sich durch die aeusserste Strenge in seinem Entschlusse nur noch mehr befestigen wuerde: so konnte sie nur durch die ploetzliche Ueberraschung der unerwartetsten Begegnung erschuettert, und in einer Art von Betaeubung umgelenket werden. Die Geliebte sollte sich in die Tochter, verfuehrerische Zaertlichkeit in blinden Gehorsam verwandeln; da Rousseau kein Mittel sahe, der Natur diese Veraenderung abzugewinnen, so musste er sich entschliessen, ihr sie abzunoetigen, oder, wenn man will, abzustehlen. Auf keine andere Weise konnten wir es Julien in der Folge vergeben, dass sie den inbruenstigsten Liebhaber dem kaeltesten Ehemanne aufgeopfert habe. Aber da diese Aufopferung in der Komoedie nicht erfolget; da es nicht die Tochter, sondern der Vater ist, der endlich nachgibt: haette Herr Heufeld die Wendung nicht ein wenig lindern sollen, durch die Rousseau bloss das Befremdliche jener Aufopferung rechtfertigen und das Ungewoehnliche derselben vor dem Vorwurfe des Unnatuerlichen in Sicherheit setzen wollte?—Doch Kritik, und kein Ende! Wenn Herr Heufeld das getan haette, so wuerden wir um eine Szene gekommen sein, die, wenn sie schon nicht so recht in das Ganze passen will, doch sehr kraeftig ist; er wuerde uns ein hohes Licht in seiner Kopie vermalt haben, von dem man zwar nicht eigentlich weiss, wo es herkoemmt, das aber eine treffliche Wirkung tut. Die Art, mit der Herr Ekhof diese Szene ausfuehrte, die Aktion, mit der er einen Teil der grauen Haare vors Auge brachte, bei welchen er die Tochter beschwor, waeren es allein wert gewesen, eine kleine Unschicklichkeit zu begehen, die vielleicht niemanden, als dem kalten Kunstrichter, bei Zergliederung des Planes, merklich wird.
Das Nachspiel dieses Abends war "Der Schatz", die Nachahmung des Plautinschen "Trinummus", in welcher der Verfasser alle die komischen Szenen seines Originals in einen Aufzug zu konzentrieren gesucht hat. Er ward sehr wohl gespielt. Die Akteurs alle wussten ihre Rollen mit der Fertigkeit, die zu dem Niedrigkomischen so notwendig erfodert wird. Wenn ein halbschieriger Einfall, eine Unbesonnenheit, ein Wortspiel langsam und stotternd vorgebracht wird; wenn sich die Personen auf Armseligkeiten, die weiter nichts als den Mund in Falten setzen sollen, noch erst viel besinnen: so ist die Langeweile unvermeidlich. Possen muessen Schlag auf Schlag gesagt werden, und der Zuhoerer muss keinen Augenblick Zeit haben, zu untersuchen, wie witzig oder unwitzig sie sind. Es sind keine Frauenzimmer in diesem Stuecke; das einzige, welches noch anzubringen gewesen waere, wuerde eine frostige Liebhaberin sein; und freilich lieber keines, als so eines. Sonst moechte ich es niemanden raten, sich dieser Besondernheit zu befleissigen. Wir sind zu sehr an die Untermengung beider Geschlechter gewoehnet, als dass wir bei gaenzlicher Vermissung des reizendern nicht etwas Leeres empfinden sollten.
Unter den Italienern hat ehedem Cecchi, und neuerlich unter den Franzosen Destouches, das naemliche Lustspiel des Plautus wieder auf die Buehne gebracht. Sie haben beide grosse Stuecke von fuenf Aufzuegen daraus gemacht und sind daher genoetiget gewesen, den Plan des Roemers mit eignen Erfindungen zu erweitern. Das vom Cecchi heisst "Die Mitgift" und wird vom Riccoboni, in seiner Geschichte des italienischen Theaters, als eines von den besten alten Lustspielen desselben empfohlen. Das vom Destouches fuehrt den Titel "Der verborgne Schatz", und ward ein einziges Mal, im Jahre 1745, auf der italienischen Buehne zu Paris, und auch dieses einzige Mal nicht ganz bis zu Ende, aufgefuehret. Es fand keinen Beifall, und ist erst nach dem Tode des Verfassers, und also verschiedene Jahre spaeter, als der deutsche Schatz, im Drucke erschienen. Plautus selbst ist nicht der erste Erfinder dieses so gluecklichen, und von mehrern mit so vieler Nacheifrung bearbeiteten Stoffes gewesen; sondern Philemon, bei dem es eben die simple Aufschrift hatte, zu der es im Deutschen wieder zurueckgefuehret worden. Plautus hatte seine ganz eigne Manier, in Benennung seiner Stuecke; und meistenteils nahm er sie von dem aller- unerheblichsten Umstande her. Dieses z.E. nennte er "Trinummus", den Dreiling; weil der Sykophant einen Dreiling fuer seine Muehe bekam.
Zehntes Stueck Den 2. Juni 1767
Das Stueck des fuenften Abends (dienstags, den 28. April) war "Das unvermutete Hindernis oder das Hindernis ohne Hindernis" vom Destouches.
Wenn wir die Annales des franzoesischen Theaters nachschlagen, so finden wir, dass die lustigsten Stuecke dieses Verfassers gerade den allerwenigsten Beifall gehabt haben. Weder das gegenwaertige, noch "Der verborgne Schatz", noch "Das Gespenst mit der Trommel", noch "Der poetische Dorfjunker" haben sich darauf erhalten; und sind, selbst in ihrer Neuheit, nur wenigemal aufgefuehret worden. Es beruhet sehr viel auf dem Tone, in welchem sich ein Dichter ankuendiget, oder in welchem er seine besten Werke verfertiget. Man nimmt stillschweigend an, als ob er eine Verbindung dadurch eingehe, sich von diesem Tone niemals zu entfernen; und wenn er es tut, duenket man sich berechtiget, darueber zu stutzen. Man sucht den Verfasser in dem Verfasser und glaubt, etwas Schlechters zu finden, sobald man nicht das naemliche findet. Destouches hatte in seinem "Verheirateten Philosophen", in seinem "Ruhmredigen", in seinem "Verschwender" Muster eines feinern, hoehern Komischen gegeben, als man vom Moliere, selbst in seinen ernsthaftesten Stuecken, gewohnt war. Sogleich machten die Kunstrichter, die so gern klassifizieren, dieses zu seiner eigentuemlichen Sphaere; was bei dem Poeten vielleicht nichts als zufaellige Wahl war, erklaerten sie fuer vorzueglichen Hang und herrschende Faehigkeit; was er einmal, zweimal nicht gewollt hatte, schien er ihnen nicht zu koennen: und als er nunmehr wollte, was sieht Kunstrichtern aehnlicher, als dass sie ihm lieber nicht Gerechtigkeit widerfahren liessen, ehe sie ihr voreiliges Urteil aenderten? Ich will damit nicht sagen, dass das Niedrigkomische des Destouches mit dem Molierischen von einerlei Guete sei. Es ist wirklich um vieles steifer; der witzige Kopf ist mehr darin zu spueren, als der getreue Maler; seine Narren sind selten von den behaglichen Narren, wie sie aus den Haenden der Natur kommen, sondern mehrenteils von der hoelzernen Gattung, wie sie die Kunst schnitzelt und mit Affektation, mit verfehlter Lebensart, mit Pedanterie ueberladet; sein Schulwitz, sein Masuren sind daher frostiger als laecherlich. Aber demohngeachtet,—und nur dieses wollte ich sagen,—sind seine lustigen Stuecke am wahren Komischen so geringhaltig noch nicht, als sie ein verzaertelter Geschmack findet; sie haben Szenen mitunter, die uns aus Herzensgrunde zu lachen machen, und die ihm allein einen ansehnlichen Rang unter den komischen Dichtern versichern koennten.
Hierauf folgte ein neues Lustspiel in einem Aufzuge, betitelt "Die neue Agnese".
Madame Gertrude spielte vor den Augen der Welt die fromme Sproede; aber insgeheim war sie die gefaellige, feurige Freundin eines gewissen Bernard. "Wie gluecklich, o wie gluecklich machst du mich, Bernard!" rief sie einst in der Entzueckung, und ward von ihrer Tochter behorcht. Morgens darauf fragte das liebe einfaeltige Maedchen: "Aber Mama, wer ist denn der Bernard, der die Leute gluecklich macht?" Die Mutter merkte sich verraten, fasste sich aber geschwind. "Er ist der Heilige, meine Tochter, den ich mir kuerzlich gewaehlt habe; einer von den groessten im Paradiese." Nicht lange, so ward die Tochter mit einem gewissen Hilar bekannt. Das gute Kind fand in seinem Umgange recht viel Vergnuegen; Mama bekoemmt Verdacht; Mama beschleicht das glueckliche Paar; und da bekoemmt Mama von dem Toechterchen ebenso schoene Seufzer zu hoeren, als das Toechterchen juengst von Mama gehoert hatte. Die Mutter ergrimmt, ueberfaellt sie, tobt. "Nun, was denn, liebe Mama?" sagt endlich das ruhige Maedchen. "Sie haben sich den h. Bernard gewaehlt; und ich, ich mir den h. Hilar. Warum nicht?"—Dieses ist eines von den lehrreichen Maerchen, mit welchen das weise Alter des goettlichen Voltaire die junge Welt beschenkte. Favart fand es gerade so erbaulich, als die Fabel zu einer komischen Oper sein muss. Er sahe nichts Anstoessiges darin, als die Namen der Heiligen, und diesem Anstosse wusste er auszuweichen. Er machte aus Madame Gertrude eine platonische Weise, eine Anhaengerin der Lehre des Gabalis; und der h. Bernard ward zu einem Sylphen, der unter dem Namen und in der Gestalt eines guten Bekannten die tugendhafte Frau besucht. Zum Sylphen ward dann auch Hilar, und so weiter. Kurz, es entstand die Operette "Isabelle und Getrude, oder die vermeinten Sylphen", welche die Grundlage zur "Neuen Agnese" ist. Man hat die Sitten darin den unsrigen naeherzubringen gesucht; man hat sich aller Anstaendigkeit beflissen; das liebe Maedchen ist von der reizendsten, verehrungswuerdigsten Unschuld; und durch das Ganze sind eine Menge gute komische Einfaelle verstreuet, die zum Teil dem deutschen Verfasser eigen sind. Ich kann mich in die Veraenderungen selbst, die er mit seiner Urschrift gemacht, nicht naeher einlassen; aber Personen von Geschmack, welchen diese nicht unbekannt war, wuenschten, dass er die Nachbarin, anstatt des Vaters, beibehalten haette.—Die Rolle der Agnese spielte Mademoiselle Felbrich, ein junges Frauenzimmer, das eine vortreffliche Aktrice verspricht und daher die beste Aufmunterung verdienet. Alter, Figur, Miene, Stimme, alles koemmt ihr hier zustatten; und ob sich, bei diesen Naturgaben, in einer solchen Rolle schon vieles von selbst spielet: so muss man ihr doch auch eine Menge Feinheiten zugestehen, die Vorbedacht und Kunst, aber gerade nicht mehr und nicht weniger verrieten, als sich an einer Agnese verraten darf.
Den sechsten Abend (mittwochs, den 29. April) ward die "Semiramis" des Hrn. von Voltaire aufgefuehret.
Dieses Trauerspiel ward im Jahre 1748 auf die franzoesische Buehne gebracht, erhielt grossen Beifall und macht in der Geschichte dieser Buehne gewissermassen Epoche.—Nachdem der Hr. von Voltaire seine "Zaire" und "Alzire", seinen "Brutus" und "Caesar" geliefert hatte, ward er in der Meinung bestaerkt, dass die tragischen Dichter seiner Nation die alten Griechen in vielen Stuecken weit uebertraefen. "Von uns Franzosen", sagt er, "haetten die Griechen eine geschicktere Exposition und die grosse Kunst, die Auftritte untereinander so zu verbinden, dass die Szene niemals leer bleibt und keine Person weder ohne Ursache koemmt noch abgehet, lernen koennen. Von uns", sagt er, "haetten sie lernen koennen, wie Nebenbuhler und Nebenbuhlerinnen in witzigen Antithesen miteinander sprechen; wie der Dichter mit einer Menge erhabner, glaenzender Gedanken blenden und in Erstaunen setzen muesse. Von uns haetten sie lernen koennen"—O freilich; was ist von den Franzosen nicht alles zu lernen! Hier und da moechte zwar ein Auslaender, der die Alten auch ein wenig gelesen hat, demuetig um Erlaubnis bitten, anderer Meinung sein zu duerfen. Er moechte vielleicht einwenden, dass alle diese Vorzuege der Franzosen auf das Wesentliche des Trauerspiels eben keinen grossen Einfluss haetten; dass es Schoenheiten waeren, welche die einfaeltige Groesse der Alten verachtet habe. Doch was hilft es, dem Herrn von Voltaire etwas einzuwenden? Er spricht, und man glaubt. Ein einziges vermisste er bei seiner Buehne; dass die grossen Meisterstuecke derselben nicht mit der Pracht aufgefuehret wuerden, deren doch die Griechen die kleinen Versuche einer erst sich bildenden Kunst gewuerdiget haetten. Das Theater in Paris, ein altes Ballhaus, mit Verzierungen von dem schlechtesten Geschmacke, wo sich in einem schmutzigen Parterre das stehende Volk draengt und stoesst, beleidigte ihn mit Recht; und besonders beleidigte ihn die barbarische Gewohnheit, die Zuschauer auf der Buehne zu dulden, wo sie den Akteurs kaum so viel Platz lassen, als zu ihren notwendigsten Bewegungen erforderlich ist. Er war ueberzeugt, dass bloss dieser Uebe1stand Frankreich um vieles gebracht habe, was man, bei einem freiern, zu Handlungen bequemern und praechtigern Theater, ohne Zweifel gewagt haette. Und eine Probe hiervon zu geben, verfertigte er seine "Semiramis". Eine Koenigin, welche die Staende ihres Reichs versammelt, um ihnen ihre Vermaehlung zu eroeffnen; ein Gespenst, das aus seiner Gruft steigt, um Blutschande zu verhindern und sich an seinem Moerder zu raechen; diese Gruft, in die ein Narr hereingeht, um als ein Verbrecher wieder herauszukommen: das alles war in der Tat fuer die Franzosen etwas ganz Neues. Es macht so viel Laermen auf der Buehne, es erfordert so viel Pomp und Verwandlung, als man nur immer in einer Oper gewohnt ist. Der Dichter glaubte das Muster zu einer ganz besondern Gattung gegeben zu haben; und ob er es schon nicht fuer die franzoesische Buehne, so wie sie war, sondern so wie er sie wuenschte, gemacht hatte: so ward es dennoch auf derselben, vorderhand, so gut gespielet, als es sich ohngefaehr spielen liess. Bei der ersten Vorstellung sassen die Zuschauer noch mit auf dem Theater; und ich haette wohl ein altvaetrisches Gespenst in einem so galanten Zirkel moegen erscheinen sehen. Erst bei den folgenden Vorstellungen ward dieser Unschicklichkeit abgeholfen; die Akteurs machten sich ihre Buehne frei; und was damals nur eine Ausnahme, zum Besten eines so ausserordentlichen Stueckes, war, ist nach der Zeit die bestaendige Einrichtung geworden. Aber vornehmlich nur fuer die Buehne in Paris; fuer die, wie gesagt, "Semiramis" in diesem Stuecke Epoche macht. In den Provinzen bleibet man noch haeufig bei der alten Mode, und will lieber aller Illusion, als dem Vorrechte entsagen, den Zairen und Meropen auf die Schleppe treten zu koennen.
Eilftes Stueck Den 5. Junius 1767
Die Erscheinung eines Geistes war in einem franzoesischen Trauerspiele eine so kuehne Neuheit, und der Dichter, der sie wagte, rechtfertiget sie mit so eignen Gruenden, dass es sich der Muehe lohnet, einen Augenblick dabei zu verweilen.
"Man schrie und schrieb von allen Seiten", sagt der Herr von Voltaire, "dass man an Gespenster nicht mehr glaube und dass die Erscheinung der Toten, in den Augen einer erleuchteten Nation, nicht anders als kindisch sein koenne." "Wie?" versetzt er dagegen; "das ganze Altertum haette diese Wunder geglaubt, und es sollte nicht vergoennt sein, sich nach dem Altertume zu richten? Wie? unsere Religion haette dergleichen ausserordentliche Fuegungen der Vorsicht geheiliget, und es sollte laecherlich sein, sie zu erneuern?"
Diese Ausrufungen, duenkt mich, sind rhetorischer, als gruendlich. Vor allen Dingen wuenschte ich, die Religion hier aus dem Spiele zu lassen. In Dingen des Geschmacks und der Kritik sind Gruende, aus ihr genommen, recht gut, seinen Gegner zum Stillschweigen zu bringen, aber nicht so recht tauglich, ihn zu ueberzeugen. Die Religion, als Religion, muss hier nichts entscheiden sollen; nur als eine Art von Ueberlieferung des Altertums, gilt ihr Zeugnis nicht mehr und nicht weniger, als andere Zeugnisse des Altertums gelten. Und sonach haetten wir es auch hier nur mit dem Altertume zu tun.
Sehr wohl; das ganze Altertum hat Gespenster geglaubt. Die dramatischen Dichter des Altertums hatten also recht, diesen Glauben zu nutzen; wenn wir bei einem von ihnen wiederkommende Tote aufgefuehret finden, so waere es unbillig, ihm nach unsern bessern Einsichten den Prozess zu machen. Aber hat darum der neue, diese unsere bessere Einsichten teilende dramatische Dichter die naemliche Befugnis? Gewiss nicht.—Aber wenn er seine Geschichte in jene leichtglaeubigere Zeiten zuruecklegt? Auch alsdenn nicht. Denn der dramatische Dichter ist kein Geschichtschreiber; er erzaehlt nicht, was man ehedem geglaubt, dass es geschehen, sondern er laesst es vor unsern Augen nochmals geschehen; und laesst es nochmals geschehen, nicht der blossen historischen Wahrheit wegen, sondern in einer ganz andern und hoehern Absicht; die historische Wahrheit ist nicht sein Zweck, sondern nur das Mittel zu seinem Zwecke; er will uns taeuschen, und durch die Taeuschung ruehren. Wenn es also wahr ist, dass wir itzt keine Gespenster mehr glauben; wenn dieses Nichtglauben die Taeuschung notwendig verhindern muesste; wenn ohne Taeuschung wir unmoeglich sympathisieren koennen: so handelt itzt der dramatische Dichter wider sich selbst, wenn er uns demohngeachtet solche unglaubliche Maerchen ausstaffieret; alle Kunst, die er dabei anwendet, ist verloren.
Folglich? Folglich ist es durchaus nicht erlaubt, Gespenster und Erscheinungen auf die Buehne zu bringen? Folglich ist diese Quelle des Schrecklichen und Pathetischen fuer uns vertrocknet? Nein; dieser Verlust waere fuer die Poesie zu gross; und hat sie nicht Beispiele fuer sich, wo das Genie aller unserer Philosophie trotzet und Dinge, die der kalten Vernunft sehr spoettisch vorkommen, unserer Einbildung sehr fuerchterlich zu machen weiss? Die Folge muss daher anders fallen; und die Voraussetzung wird nur falsch sein. Wir glauben keine Gespenster mehr? Wer sagt das? Oder vielmehr, was heisst das? Heisst es so viel: wir sind endlich in unsern Einsichten so weit gekommen, dass wir die Unmoeglichkeit davon erweisen koennen; gewisse unumstoessliche Wahrheiten, die mit dem Glauben an Gespenster im Widerspruche stehen, sind so allgemein bekannt worden, sind auch dem gemeinsten Manne immer und bestaendig so gegenwaertig, dass ihm alles, was damit streitet, notwendig laecherlich und abgeschmackt vorkommen muss? Das kann es nicht heissen. Wir glauben itzt keine Gespenster, kann also nur so viel heissen: in dieser Sache, ueber die sich fast ebensoviel dafuer als darwider sagen laesst, die nicht entschieden ist und nicht entschieden werden kann, hat die gegenwaertig herrschende Art zu denken den Gruenden darwider das Uebergewicht gegeben; einige wenige haben diese Art zu denken, und viele wollen sie zu haben scheinen; diese machen das Geschrei und geben den Ton; der groesste Haufe schweigt und verhaelt sich gleichgueltig und denkt bald so, bald anders, hoert beim hellen Tage mit Vergnuegen ueber die Gespenster spotten und bei dunkler Nacht mit Grausen davon erzaehlen.
Aber in diesem Verstande keine Gespenster glauben, kann und darf den dramatischen Dichter im geringsten nicht abhalten, Gebrauch davon zu machen. Der Same, sie zu glauben, liegt in uns allen, und in denen am haeufigsten, fuer die er vornehmlich dichtet. Es koemmt nur auf seine Kunst an, diesen Samen zum Keimen zu bringen; nur auf gewisse Handgriffe, den Gruenden fuer ihre Wirklichkeit in der Geschwindigkeit den Schwung zu geben. Hat er diese in seiner Gewalt, so moegen wir in gemeinem Leben glauben, was wir wollen; im Theater muessen wir glauben, was Er will.
So ein Dichter ist Shakespeare, und Shakespeare fast einzig und allein. Vor seinem Gespenste im "Hamlet" richten sich die Haare zu Berge, sie moegen ein glaeubiges oder unglaeubiges Gehirn bedecken. Der Herr von Voltaire tat gar nicht wohl, sich auf dieses Gespenst zu berufen; es macht ihn und seinen Geist des Ninus—laecherlich.
Shakespeares Gespenst koemmt wirklich aus jener Welt; so duenkt uns. Denn es koemmt zu der feierlichen Stunde, in der schaudernden Stille der Nacht, in der vollen Begleitung aller der duestern, geheimnisvollen Nebenbegriffe, wenn und mit welchen wir, von der Amme an, Gespenster zu erwarten und zu denken gewohnt sind. Aber Voltairens Geist ist auch nicht einmal zum Popanze gut, Kinder damit zu erschrecken; es ist der blosse verkleidete Komoediant, der nichts hat, nichts sagt, nichts tut, was es wahrscheinlich machen koennte, er waere das, wofuer er sich ausgibt; alle Umstaende vielmehr, unter welchen er erscheinet, stoeren den Betrug und verraten das Geschoepf eines kalten Dichters, der uns gern taeuschen und schrecken moechte, ohne dass er weiss, wie er es anfangen soll. Man ueberlege auch nur dieses einzige: am hellen Tage, mitten in der Versammlung der Staende des Reichs, von einem Donnerschlage angekuendiget, tritt das Voltairische Gespenst aus seiner Gruft hervor. Wo hat Voltaire jemals gehoert, dass Gespenster so dreist sind? Welche alte Frau haette ihm nicht sagen koennen, dass die Gespenster das Sonnenlicht scheuen und grosse Gesellschaften gar nicht gern besuchten? Doch Voltaire wusste zuverlaessig das auch; aber er war zu furchtsam, zu ekel, diese gemeinen Umstaende zu nutzen; er wollte uns einen Geist zeigen, aber es sollte ein Geist von einer edlern Art sein; und durch diese edlere Art verdarb er alles. Das Gespenst, das sich Dinge herausnimmt, die wider alles Herkommen, wider alle gute Sitten unter den Gespenstern sind, duenket mich kein rechtes Gespenst zu sein; und alles, was die Illusion hier nicht befoerdert, stoeret die Illusion.
Wenn Voltaire einiges Augenmerk auf die Pantomime genommen haette, so wuerde er auch von einer andern Seite die Unschicklichkeit empfunden haben, ein Gespenst vor den Augen einer grossen Menge erscheinen zu lassen. Alle muessen auf einmal, bei Erblickung desselben, Furcht und Entsetzen aeussern; alle muessen es auf verschiedene Art aeussern, wenn der Anblick nicht die frostige Symmetrie eines Balletts haben soll. Nun richte man einmal eine Herde dumme Statisten dazu ab; und wenn man sie auf das gluecklichste abgerichtet hat, so bedenke man, wie sehr dieser vielfache Ausdruck des naemlichen Affekts die Aufmerksamkeit teilen, und von den Hauptpersonen abziehen muss. Wenn diese den rechten Eindruck auf uns machen sollen, so muessen wir sie nicht allein sehen koennen, sondern es ist auch gut, wenn wir sonst nichts sehen, als sie. Beim Shakespeare ist es der einzige Hamlet, mit dem sich das Gespenst einlaesst; in der Szene, wo die Mutter dabei ist, wird es von der Mutter weder gesehen noch gehoert. Alle unsere Beobachtung geht also auf ihn, und je mehr Merkmale eines von Schauder und Schrecken zerruetteten Gemuets wir an ihm entdecken, desto bereitwilliger sind wir, die Erscheinung, welche diese Zerruettung in ihm verursacht, fuer eben das zu halten, wofuer er sie haelt. Das Gespenst wirket auf uns, mehr durch ihn, als durch sich selbst. Der Eindruck, den es auf ihn macht, gehet in uns ueber, und die Wirkung ist zu augenscheinlich und zu stark, als dass wir an der ausserordentlichen Ursache zweifeln sollten. Wie wenig hat Voltaire auch diesen Kunstgriff verstanden! Es erschrecken ueber seinen Geist viele; aber nicht viel. Semiramis ruft einmal: "Himmel! ich sterbe!" und die andern machen nicht mehr Umstaende mit ihm, als man ohngefaehr mit einem weit entfernt geglaubten Freunde machen wuerde, der auf einmal ins Zimmer tritt.