Sie war ruhig gestorben, ohne Todeskampf, wie ein Weib, das ein unsträfliches Leben hinter sich hat, und nun lag sie mit geschlossenen Augen und friedlichen Zügen auf ihrem Bette, als ob sie schliefe; ihr langes weißes Haar war sorgfältig frisiert, als ob sie es erst zehn Minuten vor ihrem Tode geordnet hätte. Ihr marmornes Totenantlitz drückte solche Sammlung und Ruhe, eine solche Ergebung aus, dass man sich wohl vorstellen konnte, welche schöne Seele in diesem Körper gewohnt, welches sturmlose Leben diese heitere Greisin geführt, welches friedliche Ende ohne Qualen und Gewissensbisse diese unsträfliche Frau gefunden hatte.
An ihrem Bette knieten in verzweifeltem Schluchzen ihr Sohn, ein Beamter von unbeugsamen Grundsätzen, und ihre Tochter Marguerite, die als Nonne Schwester Eulalia hieß. Sie hatte sie in strenger Moral erzogen, im Glauben ohne Wankelmut unterwiesen und mit unwandelbarem Pflichtgefühl beseelt. Der Sohn war Beamter geworden; er hielt das Gesetz hoch und schlug die Lässigen und Saumseligen mit unerbittlicher Strenge. Und die Tochter war im Drange der Tugend, mit der sie dieses fromme Haus erfüllt hatte, und weil sie die Menschen verschmähte, Gottes Braut geworden.
Ihren Vater hatten sie nicht gekannt; sie wussten nur, dass er ihre Mutter unglücklich gemacht hatte; Einzelheiten hatten sie nie erfahren.
Die Nonne drückte in irrem Schmerz einen Kuss auf die herabhängende Elfenbeinhand der Toten, eine wahre Christushand. Die andere Hand, die auf der anderen Seite des hingestreckten Körpers ruhte, hatte sich noch vom Todeskampf her mit irrendem Tasten in das Betttuch gekrampft, und das Leinen lag noch in kleinen weißen, welligen Falten, wie in Erinnerung an diese letzten Bewegungen, die der ewigen Unbeweglichkeit vorausgehen.
Es klopfte leise an die Tür und die beiden verweinten Gesichter blickten auf. Es war der Priester, der vom Essen kam und eben eintrat. Er war rot und pustete von der beginnenden Verdauung, denn er hatte viel Cognac in den Kaffee gegossen, um die Müdigkeit der letzten verwachten Nächte und der bevorstehenden Nacht zu bekämpfen.
Er blickte traurig drein, mit jener berufsmäßigen Traurigkeit, hinter der die Freude über den einträglichen Todesfall grinst. Er machte das Zeichen des Kreuzes und kam in berufsmäßiger Gangart näher. »Meine lieben Kinder«, hub er an, »lasst mich Euch helfen, diese traurigen Stunden zu verbringen.« Aber Schwester Eulalia richtete sich plötzlich auf und sagte: »Danke, mein Vater, aber es ist unser beider Wunsch, allein bei der Toten zu bleiben. Es sind dies die letzten Augenblicke, wo wir sie sehen, und da wollen wir wieder alle drei zusammen sein, wie einst, als wir… als wir klein waren und unsere arme… arme Mutter…« Weiter kam sie nicht; der Schmerz und die hervorbrechenden Tränen erstickten ihre Stimme.
Der Priester verneigte sich; im Grunde freute er sich auf sein Bett. »Wie Ihr wollt, meine lieben Kinder«, sagte er salbungsvoll, kniete nieder, bekreuzigte sich, verrichtete sein Gebet, stand wieder auf und verließ das Zimmer mit sanften Schritten. »Sie war eine Heilige!« murmelte er.
Nun waren sie wieder allein, die Tote und ihre Kinder. Eine Wanduhr, die man nicht sah, unterbrach das Schweigen mit regelmäßigem Ticken, und durch das offene Fenster quoll der weiche Duft des Heus und der Wälder mit dem sehnsüchtigen Schimmer des Mondes herein. Alles war still; nur zitternde Unkenrufe vernahm man, und zuweilen das nächtliche Surren eines Insekts, das wie eine Kugel hereingeflogen kam und brummend an die Wand stieß. Unendlicher Frieden, himmlische Schwermut und schweigende Heiterkeit waren um diese Tote, sie schienen von ihr auszugehen und sich besänftigend auf die Natur ringsum zu legen.
Da schluchzte der Beamte, der noch immer auf den Knien lag und das Haupt in die Leinentücher des Bettes vergraben hatte, plötzlich mit heiserer, herzbrechender Stimme durch Decken und Tücher hindurch: »O Mutter! Mutter! Mutter!« Und die Schwester warf sich wild auf den Fußboden nieder und schlug mit rasender Stirn gegen den Bettpfosten. Sie wand sich krampfhaft am Boden und zitterte, wie bei einem epileptischen Anfall. »Jesus! Jesus! O Mutter! Jesus!« hauchte sie.
Dann keuchten und röchelten beide, wie von einem Schmerzensorkan gepeitscht. Nur allmählich ließ der Anfall nach und machte einem sanften Weinen Platz, wie windstille Regengüsse nach Gewitterböen auf tobendem Meere.
Erst lange nachher erhoben sie sich wieder und begannen die teure Leiche zu betrachten. Und die Erinnerung, die gestern noch so süße, heute so quälende Erinnerung, befiel ihren Geist mit allen ihren vergessenen Einzelheiten, allen ihren intimen und trauten Kleinigkeiten; und die geliebte Tote lebte ihnen wieder auf. Sie erinnerten sich der mannigfachsten Lebenslagen, der Worte, des Lächelns, des Stimmfalls der Frau, die nun nie mehr mit ihnen reden sollte. Sie vergegenwärtigten sie sich in ihrer glücklichen Ruhe, sie entsannen sich aller Worte, die sie zu gebrauchen pflegte, und einer gewissen kleinen Handbewegung, die sie bisweilen machte, wenn sie ein wichtiges Gespräch führte.
Und sie liebten sie, wie sie sie nie geliebt hatten, und ermaßen an ihrer Verzweiflung, wie teuer sie ihnen gewesen war, wie allein und verlassen sie jetzt waren.
Sie war ihr Halt, ihr Leitstern gewesen; ihre ganze Jugend, die ganze fröhliche Hälfte ihres Daseins war mit ihr dahin; das Band, das sie an’s Leben geknüpft, ihre Mutter, der Leib, der sie geboren, das Glied, das sie an die Kette der Vorfahren gebunden, war zerrissen. Von nun an würden sie allein und vereinsamt sein und nicht mehr zurückblicken können.
– Du weißt, sagte die Nonne zu ihrem Bruder, wie gerne Mama ihre alten Briefe wieder las. Sie sind da alle in ihrer Schublade. Wenn wir sie jetzt lesen, werden wir ihr ganzes Leben in dieser Nacht noch einmal durchleben. Es wäre wie ein Gang auf den Kirchhof, denn wir würden auch ihre Mutter und ihre Großeltern kennen lernen, die wir nicht kannten, deren Briefe auch da sind, und von denen sie so oft sprach. Du entsinnst dich doch? –
Und sie nahmen aus der Schublade ein Dutzend Päckchen von vergilbtem Papier, die sorgfältig zusammengebunden und auf einander gelegt waren. Sie warfen diese Reliquien auf das Bett und nahmen ein Päckchen mit der Aufschrift »Vater« heraus, machten es auf und lasen.
Es waren alte Episteln, wie man sie in alten Familien-Schreibtischen vorfindet, Episteln, die nach dem letzten Jahrhundert schmeckten. Die erste begann: »Mein Herzchen«, eine andere »Mein liebes kleines Mädchen«, wieder andere: »Liebes Kind« und schließlich auch »Meine liebe Tochter.« Und plötzlich begann die Nonne laut zu lesen – der Toten ihre eigene Lebensgeschichte vorzulesen, all ihre holden Erinnerungen, und der Beamte hörte aufmerksam zu, während er einen Ellenbogen auf das Bett stützte und seine Mutter anblickte. Die Leiche lag unbeweglich; ihr schien wohl zu sein.
Schwester Eulalia hielt plötzlich inne und sagte: »Wir sollten sie ihr alle ins Grab legen, ihr ein Leichentuch daraus machen und sie darin begraben.« Dann nahm sie ein andres Päckchen zur Hand, das keine Aufschrift trug, und begann mit lauter Stimme: »Angebetetes Weib! ich liebe dich bis zur Besessenheit. Seit gestern schmachte ich wie ein Verdammter im Fegefeuer; die Erinnerung an dich verzehrt mich. Ich fühle deine Lippen noch auf meinen Lippen, deine Augen noch in meinen Augen, deine Brust an meiner Brust. Ich liebe dich! Ich liebe dich! Rasend hast du mich gemacht. Meine Arme strecken sich dir entgegen. Ich atme beklommen und sehne mich unendlich, dich noch einmal mein zu nennen! Mein ganzes Wesen schreit nach dir! Auf meiner Zunge liegt mir noch der Geschmack deiner Küsse«…
Der Beamte hatte sich hoch aufgerichtet, die Nonne hielt inne. Er riss ihr das Blatt aus der Hand und suchte nach der Unterschrift. Es stand nichts darunter, als diese Worte: »Dein dich anbetender« und darunter »Henry.« Ihr Vater hatte René geheißen. Er konnte es also nicht sein. Da wühlte der Sohn mit zitternder Hand in den Päckchen herum, riss ein anderes Schreiben heraus und las: »Ich kann es ohne deine Liebe nicht mehr ertragen«… Er war aufgestanden, streng, als ob er von seinem Richterstuhl aufstünde, und sah die Tote unverwandt an.
Die Nonne stand hoch aufgerichtet, wie ein Marmorbild, und blickte, während Tränen ihr in die Augenwinkel traten, ihren Bruder erwartungsvoll an. Der aber schritt langsam durchs Zimmer bis an’s Fenster und starrte träumend in die Nacht hinaus.
Als er sich umdrehte, stand Schwester Eulalia, jetzt trockenen Auges, noch immer am Bette der Toten und senkte das Haupt.
Er trat wieder näher, hob die Briefe hastig auf und warf sie durcheinander in die Schublade, dann zog er den Bettvorhang schweigend zu.
Und als die Kerzen, die auf dem Tische brannten, im Tagesschein verblichen, erhob sich der Sohn langsam aus seinem Lehnstuhl, ohne die Mutter, die er so von ihren Kindern getrennt und verdammt hatte, noch eines Blickes zu würdigen, und sagte in langsamem Tone: »So, Schwester, nun können wir zur Ruhe gehen!«
*
Es war nach einem Essen unter guten, alten Freunden. Es waren ihrer fünf, ein Schriftsteller, ein Arzt und drei reiche Junggesellen ohne Beruf.
Sie hatten von allem Möglichen gesprochen und waren nun jener Abspannung verfallen, wie sie dem Aufbruch voranzugehen und ihn zu bestimmen pflegt. Endlich unterbrach einer der Gäste das Schweigen. Er hatte seit fünf Minuten dem lärmenden Treiben auf dem lichterdurchfluteten Boulevard unverwandt zugesehen.
– Ja, seufzte er, wenn man so vom Morgen bis in die Nacht nichts zu tun hat, sind die Tage lang!
– Und die Nächte gleichfalls, bemerkte sein Nachbar! Ich schlafe schon lange nicht mehr, die Vergnügungen langweilen mich, und die Unterhaltung ist immer dieselbe. Nicht einem neuen Gedanken begegnet man, und ehe ich mit irgendjemand spreche, packt mich schon ein heißes Verlangen, nichts zu sagen und nichts zu hören. Ich weiß nicht, wie ich meine Abende unterbringen soll.
– Und ich, erklärte der dritte Müßiggänger, ich würde eine Prämie dafür aussetzen, wenn einer ein Mittel erfände, das einem wenigstens zwei Stunden am Tage erträglich macht!
– Der Mensch, sagte der Schriftsteller, der soeben seinen Paletot über den Arm geworfen hatte, der Mensch, der ein neues Laster entdeckte, täte der Menschheit einen größeren Dienst, – auch wenn er ihre Lebenszeit um die Hälfte verringerte – als jemand, der ein Mittel ausfindig machte, das ihr ewige Gesundheit und Jugend sichert.
Der Arzt musste lachen.
– Jawohl, sagte er, indem er an seiner Zigarre kaute, aber solch ein Mittel entdeckt sich nicht so leicht, trotzdem man die Sache nach allen Richtungen hin versucht hat, seitdem die Welt steht. Die ersten Menschen sind da mit einem Schlage zur Vollendung gekommen und wir können uns kaum mit ihnen messen.
– Leider! brummte der eine Nichtstuer. Dann ließ er eine Minute verstreichen und fuhr fort: Wenn man nur wenigstens schlafen könnte, ohne irgendetwas zu empfinden; so schön schlafen, wie nach großen Anstrengungen, ganz fort sein, ohne Träume…
– Warum ohne Träume? fragte sein Nachbar.
– Weil Träume nie angenehm sind, erwiderte jener. Außerdem sind sie stets verdreht und unmöglich, ja ganz ungereimt, und im Schlafe können wir die besten nicht mal nach unserm Wunsche auskosten. Man muss im Wachen träumen!
– Wer hindert Sie denn daran? fragte der Schriftsteller.
– Mein Freund, sagte der Arzt, indem er seine Zigarre wegwarf, um im Wachen zu träumen, bedarf es einer großen Kraft- und Willensanstrengung, und darauf folgt dann eine große Schwäche. Gewiss gehört der wirkliche Traum, dieses Schweifen unserer Gedanken durch die Gefilde der Einbildung, zum Schönsten auf Erden, aber er muss von selbst kommen und nicht mühsam hervorgerufen werden. Auch muss er bei völligem leiblichen Wohlbefinden kommen und gehen. – Und diesen Traum, setzte er hinzu, kann ich Ihnen verschreiben, vorausgesetzt, dass Sie mir versprechen, keinen Missbrauch damit zu treiben.
Der Schriftsteller zuckte die Achseln.
– Jawohl, weiß schon, Haschisch, Opium, grünes Konfekt und künstliche Paradiese. Ich habe Baudelaire gelesen und selbst das berüchtigte Zeug genommen; und tüchtig krank bin ich davon geworden.
Der Arzt hatte sich wieder gesetzt.
– Nein, sagte er, Äther, nichts als Äther. Und zwar sollten gerade Sie, die Schriftsteller, zuweilen Gebrauch davon machen.
Die drei wohlhabenden Herren drängten sich wissbegierig heran.
– Erzählen Sie uns doch, welche Wirkungen das hat, bat der eine.
Und der Arzt begann.
– Zunächst wollen wir die großen Worte lassen, nicht wahr? Ich spreche weder medizinisch, noch moralisch, sondern einfach praktisch. Sie leisten sich jeden Tag Ausschweifungen, die Ihre Gesundheit zerrütten. Ich will Ihnen ein neues Gefühl sagen, das nur intelligenten, vielleicht nur sehr intelligenten Menschen zugänglich ist. Es ist gefährlich, wie alles, was unsre Organe reizt, aber großartig. Ich bemerke noch, dass es einer gewissen Vorbereitung bedarf, d. h. einer gewissen Gewohnheit, damit man die eigentümlichen Wirkungen des Äthers voll genießen kann.
Sie sind anders als die Wirkungen des Haschisch oder Morphium und dauern nur so lange, als der Genuss des Medikamentes anhält. Wogegen die Wirkungen der anderen Traumerzeuger Stunden lang fortdauert, wie Sie wissen.
Ich will nun versuchen, Ihnen so deutlich wie möglich zu machen, was man dabei empfindet. Es ist dies nämlich keine leichte Sache: so delikat, so unfasslich sind diese Empfindungen.
Was mich zu diesem Mittel greifen ließ, das ich in der Folge vielleicht etwas missbraucht habe, waren heftige neuralgische Schmerzen. Sie plagten mich in Kopf und Nacken, wärend ich eine unerträgliche Hitze in der Haut und eine fieberhafte Unruhe am ganzen Körper verspürte. Ich nahm mir also eine große Flasche Äther vor, legte mich hin und atmete sie langsam ein.
Nach einigen Minuten glaubte ich ein unbestimmtes Murmeln zu vernehmen, das bald zu einem lauten Schwirren wurde. Dabei war mir, als ob das ganze Innere meines Körpers leicht, federleicht würde und in Dunst zerginge.
Dann kam eine Art seelischer Starre, ein schläfriges Behagen, und trotz alledem dauerten die Schmerzen fort, hörten aber auf, qualvoll zu sein. Es war eine Art von Schmerzen, wie man sie gerne hinnimmt, und nicht mehr dieses schauderhafte Reißen, gegen das der ganze Körper sich sträubt.
Bald verbreitete sich dieses seltsame und angenehme Gefühl von Leere, das ich in der Brust hatte, auch über die Glieder; sie wurden gleichfalls so leicht, als ob Fleisch und Knochen schmölzen und die Haut allein übrig bliebe: gerade so viel Haut, um mich empfinden zu lassen, wie herrlich das Leben ist und das Liegen in diesem seligen Zustand… Ich merkte auch, dass ich nicht mehr litt, dass der Schmerz fort war, wie weggeweht, verdunstet… Ich hörte Stimmen, vier Stimmen, zwei Unterhaltungen, ohne von den Worten etwas zu verstehen. Bald waren es nur unbestimmte Laute, bald fing ich einzelne Worte auf, bis ich schließlich erkannte, dass es einfach das starke Brausen in meinen Ohren war, was sich so anhörte. Ich schlief nicht, ich wachte, ich hatte Verstand und Gefühl, ich dachte mit einer Helligkeit, mit einer tiefen, außerordentlichen Kraft und Lust am Geiste, einer seltsamen Trunkenheit, die von dieser mächtigen Entfaltung meiner mentalen Fähigkeiten herrührte.
Es war kein Haschischtraum noch eine jener krankhaften Visionen des Opiumrausches, sondern eine wunderbare Schärfe des Gedankens, eine neue Art, alle Dinge zu sehen, zu schätzen, zu beurteilen, und dies alles mit einer Sicherheit und dem unbedingten Bewusstsein, dass diese Art die richtige war.
Und plötzlich kam mir das alte Wort der Schrift in den Sinn. Mir war, als hätte ich vom Baum der Erkenntnis gegessen, als enthüllten sich mir alle Geheimnisse der Welt. Ich fühlte mich im Besitz einer neuen, seltsamen, unwiderleglichen Logik. Gründe, Vernunftschlüsse, Beweise strömten mir in Menge zu, um gleich darauf durch stärkere Gründe und Beweise wieder umgestoßen zu werden. Mein Kopf war zum Schlachtfeld von Ideen geworden. Ich war ein höheres Wesen mit unüberwindlicher Intelligenz, und ich hatte einen wunderbaren Genuss daran, meine Macht zu konstatieren…
Das dauerte lange, lange. Ich hatte immer noch das Mundstück meiner Ätherflasche vor dem Munde. Plötzlich merkte ich, dass sie leer war, und eine unglaubliche Traurigkeit überfiel mich.
– Doktor, schrien die vier Herren wie aus einer Kehle, schnell ein Rezept für ein Liter Äther.
Aber der Arzt setzte seinen Hut auf und ging.
– Das… nein! versetzte er. Gehen Sie zu anderen, um sich vergiften zu lassen.
*
Nun, wie wäre es damit, meine Herrschaften? Haben Sie keine Lust darauf?…
*
Sie baten mich, mein Freund, Ihnen die lebhaftesten Erinnerungen meines Daseins zu erzählen. Ich bin sehr alt und habe weder Verwandte noch Kinder; ich fühle mich also frei genug, mich Ihnen anzuvertrauen. Versprechen Sie mir nur, meinen Namen nicht preiszugeben.
Ich bin viel geliebt worden, das wissen Sie, und oft habe ich mich selbst geliebt. Ich war sehr schön, was ich heute unverhohlen sagen kann, da nichts mehr davon übrig ist. Die Liebe gab meiner Seele Leben, wie die Luft dem Körper Leben gibt. Ich wäre lieber gestorben, als ohne Zärtlichkeitsbeweise, ohne jemanden, der an mich dachte, zu leben. Die Frauen behaupten oft, dass sie nur einmal mit ganzer Seele liebten. Mir ist es oft so ergangen, dass ich so heiß liebte, dass ich das Ende meiner Leidenschaft für unmöglich hielt. Und doch verlosch sie allemal, wie ein Feuer, dem es an Holz mangelt.
Ich will Ihnen heute mein erstes Abenteuer erzählen, an dem ich sehr unschuldig war, das aber die anderen nach sich zog. Die furchtbare Rache des Apothekers Du Pecq gemahnt mich wieder an das erschütternde Drama, dem ich sehr wider Willen beiwohnte.
Ich war damals seit einem Jahre verheiratet. Mein Mann war ein Großgrundbesitzer, Graf Hervé de K…, ein Bretone von altem Adel, den ich – wohlverstanden – garnicht liebte. Die wahre Liebe bedarf, so glaube ich wenigstens, der Freiheit und der Hindernisse zugleich. Die gebotene, durch das Gesetz geheiligte, vom Priester geweihte Liebe – ist das überhaupt noch Liebe? Ein erlaubter Kuss – ist er einen geraubten wert?
Mein Mann war von hoher Statur, von elegantem Äußern und in seinem Auftreten ein wahrer Grandseigneur. Er sprach scharf und hart; seine Worte waren wie schneidende Klingen. Man merkte, dass dieser Geist ganz aus fertigen Gedanken bestand, die sein Vater und seine Mutter ihm eingeimpft – und ihrerseits wieder von ihren Voreltern überkommen hatten. Er zögerte nie mit seiner Meinungsäußerung, fällte über alles ein unbedingtes, borniertes Urteil ohne irgendwelche Einschränkung, und ohne zu begreifen, dass es auch eine andere Anschauung geben könnte. Man begriff, dass dieser Kopf verschlossen war, dass kein Gedanke aus und ein ging, der seinen Geist wieder verjüngte und erneuerte, wie der Wind durch ein Haus fährt, dessen Fenster und Türen offen stehen.
Das Schloss, das wir bewohnten, lag mitten im offenen Lande verloren. Es war ein großes, düsteres Gebäude mit riesigen Bäumen ringsum. Ihr langes Moos gemahnte mich immer an die weißen Bärte der Greise. Der Park, ein wahrer Wald, war von einem tiefen Graben umgeben, welcher der »Wolfssprung« hieß, und ganz am Ende, nach der Haide zu, hatten wir zwei große Teiche voller Schilf und schwimmender Wasserpflanzen. Zwischen beiden hatte mein Mann am Rande des kleinen Baches, der sie verband, eine kleine Hütte errichtet, um wilde Enten zu schießen.
Wir hatten außer unsern gewöhnlichen Dienstboten noch einen Wächter, der meinem Manne auf Tod und Leben ergeben war, und ich eine Zofe, fast eine Freundin, die für mich durchs Feuer ging. Ich hatte sie vor fünf Jahren aus Spanien mitgebracht. Sie war ein verlassenes Kind. Man hätte sie für eine Zigeunerin halten können, so dunkel war ihre Haut und ihre Augen, so schwarz ihr Haar, das dicht wie ein Wald ihr kraus und störrisch die Stirne umrahmte. Sie war damals sechzehn Jahre alt, sah aber aus wie zwanzig.
Als es herbstete, wurde viel gejagt, und zwar bald bei uns, bald in der Nachbarschaft, wobei mir ein junger Mann, Baron von C… besonders auffiel. Seine Besuche auf dem Schloss wurden merkwürdig häufig, dann hörten sie plötzlich ganz auf, und ich dachte nicht mehr daran; aber ich merkte sehr bald, dass mein Gatte sein Benehmen gegen mich änderte.
Er schien frostig und kalt und küsste mich nicht mehr. Und trotzdem er nie in mein Zimmer kam – ich hatte mein eigenes Zimmer für mich verlangt, um ungestört allein sein zu können – hörte ich nachts oft leise Schritte bis zu meiner Tür kommen und dann wieder verhallen.
Da mein Fenster im Erdgeschoss war, glaubte ich auch oft im Schatten um das Schloss herum etwas schweifen zu hören. Als ich es meinem Gatten sagte, blickte er mich einen Augenblick fest an und erwiderte dann: »Es ist nichts, es ist der Wächter.«
*
Eines Abends nun nach dem Essen schien Hervé besonders aufgeräumt, aber von heimtückischer Heiterkeit. »Würde es dir Spaß machen«, fragte er mich, »ein paar Stunden mit mir auf den Anstand zu gehen, um einen Fuchs zu schießen, der mir jeden Abend meine Hühner wegschnappt?« Ich war überrascht und zögerte; da er mich aber mit seltsamer Beharrlichkeit anblickte, sagte ich schließlich: »Aber selbstredend, mein Lieber!«
Ich muss hinzufügen, dass ich damals Wolf und Eber jagte, wie ein Mann. Sein Anerbieten hatte also nichts Unnatürliches.
Indessen schien mein Mann plötzlich von merkwürdiger Nervosität befallen, er war den ganzen Abend über sehr unruhig und stand in einem fort fieberhaft auf, um sich wieder zu setzen.
Gegen zehn Uhr sagte er plötzlich zu mir:
»Bist du bereit?« Ich stand auf, und als er mir selbst meine Flinte brachte, fragte ich: »Soll ich mit Kugel oder Schrot laden?« Er war verblüfft, dann antwortete er: »Oh, nur mit Schrot, das ist genug, verlass dich drauf!« Und nach einigen Minuten setzte er in eigentümlichem Tone hinzu: »Mit deiner Kaltblütigkeit kannst du dich wirklich sehen lassen!« Ich musste lachen. »Ich – warum? Kaltblütigkeit, um einen Fuchs zu schießen? Was du dir denkst, mein Freund!«
Wir gingen also möglichst geräuschlos durch den Park. Das ganze Haus schlief. Der Vollmond beglänzte das Schieferdach des alten düstren Gebäudes, das er ganz in fahles Gelb zu tauchen schien. Die beiden Seitentürmchen trugen auf ihrem First zwei silberne Fähnchen. Kein Laut störte das Schweigen dieser hellen, trüben Nacht, die weich und schwer war und wie tot auf der Erde lag. Kein Lüftchen regte sich, kein Unkenruf ertönte, kein Nachtkauz seufzte; eine trübe Starre lastete auf allem.
Als wir unter den Bäumen des Parks waren, ergriff mich ein leichter Schauder und ein Duft von gefallenen Blättern wallte auf. Mein Gatte sagte nichts, aber horchte, spähte und witterte im Dunkeln; er schien vom Kopf bis zu Füßen von der Jagdpassion erfasst.
Bald kamen wir an den Rand der Teiche. Unbeweglich stand das Schilf; kein Hauch regte sich darin. Nur über den Wasserspiegel lief ein leiser, kaum wahrnehmbarer Schauer. Bisweilen bewegte sich auch etwas auf der Oberfläche, und erregte leichte Wasserringe wie leuchtende Runzeln, die ins Weite zerflossen.
Als wir die Hütte erreicht hatten, die uns zum Hinterhalt dienen sollte, ließ mein Mann mir den Vortritt und lud dann langsam sein Gewehr. Das trockene Knacken seiner Hähne verursachte mir einen eigentümlichen Eindruck. Er sah mich zusammenfahren und fragte: »Sollte diese Probe dir genügen, dann sprich.« Sehr überrascht antwortete ich: »Keineswegs. Ich bin nicht hierhergekommen, um wieder umzukehren. Bist du sonderbar heute Abend!« – »Wie du willst,« murmelte er.
So blieben wir, ohne uns zu rühren.
Ungefähr eine halbe Stunde verging, ohne dass etwas die lastende, klare Stille dieser Herbstnacht störte. Da fragte ich meinen Mann ganz leise: »Bist du auch sicher, dass er hier vorbeikommt?«
Hervé zuckte zusammen, als ob ich ihn gebissen hätte, und hielt den Mund an mein Ohr. »Ich bin sicher, verlass dich drauf!«
Wieder Schweigen.
Ich glaube, ich begann einzuschlafen, als mein Mann mich plötzlich am Arme zerrte und mit scharfer, veränderter Stimme zischte: »Da – siehst du ihn? Da unten, unter den Bäumen?« Ich blickte hin, erkannte aber nichts. Hervé legte langsam an, indem er mich fest im Auge behielt. Ich selbst hielt mich schussbereit, und plötzlich, keine dreißig Schritt vor uns, tauchte ein Mensch im vollen Mondlicht auf; er ging mit raschen Schritten, vornübergebeugt, als ob er flöhe, und eilte an uns vorüber.
Ich war dermaßen entsetzt, dass ich einen furchtbaren Schrei tat. Aber ehe ich mich umwenden konnte, flammte es vor meinen Augen auf, ein betäubendes Krachen folgte, und der Mann rollte am Boden, wie ein Wolf, der eine Kugel bekommen hat.
Ich stieß ein schrilles, entsetztes, wahnsinniges Geschrei aus. Eine wütende Hand, Hervés Hand, packte mich an der Gurgel. Ich wurde zu Boden geworfen und von starken Armen hochgehoben. Er lief, während er mich hoch in der Luft hielt, auf den ins Gras gestreckten Körper zu und warf mich gewaltsam darauf, als ob er mir den Kopf zerbrechen wollte.
Ich hielt mich für verloren; er wollte mich töten. Schon setzte er den Hacken auf meine Stirn, – als er selber umschlungen und niedergeworfen wurde, ohne dass ich noch begriff, was geschah.
Ich fuhr jäh auf und sah Paquita, meine Zofe, auf ihm knien. Sie hatte sich festgekrallt wie eine wütende Katze, und riss ihm in rasender Wut den Bart und die Haut vom Gesichte.
Dann schnellte sie, wie von einem anderen Gedanken ergriffen, wieder empor, warf sich über den Leichnam, umschlang ihn mit beiden Armen, küsste ihn auf die Augen, auf den Mund, schob seine Lippen mit den ihren auseinander und suchte einen letzten Lebenshauch, eine innige Liebkosung in des Toten Munde.
Mein Mann war aufgesprungen und blickte starr zu. Er begriff und fiel mir zu Füßen. »Verzeihung, meine Teuerste!« flehte er. »Ich hatte dich im Verdacht und ich habe den Geliebten dieses Mädchens getötet. Mein Wächter hat mich betrogen.«
Ich schaute den seltsamen Küssen dieses Toten und dieser Lebenden zu und hörte ihr Schluchzen und die Ausbrüche ihrer verzweifelten Liebe.
Und von Stund’ an begriff ich, dass ich meinem Manne untreu sein würde.
*
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