Der Diktator oder Mr. Parham wird allmächtig

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Sir Walter, in eine Wolke jenes Idealismus gehüllt, der in seinem geliebten Genf daheim ist, hielt es für selbstverständlich, daß jeder der Anwesenden die Abschaffung des Krieges wünsche. Offenkundig konnte er sich eine andere Ansicht bei intelligenten Menschen überhaupt nicht vorstellen. Trotzdem fühlte er seltsamerweise genau, daß die Möglichkeit neuer Kriege mit jedem Jahre wuchs. Er verriet Angst und Bestürzung – und das mit gutem Grund; anscheinend war ihm in letzter Zeit ein Licht darüber aufgegangen, daß sein geliebter Völkerbund nicht imstande sei, die drohenden Gewitterwolken zu bannen, die sich allüberall zusammenballten. Er beschwerte sich über die britische Regierung und über die französische Regierung, über Schulen, Universitäten und die Literatur, über Rüstungen und Sachverständige und über die allenthalben herrschende Gleichgültigkeit gegen die zunehmende Kriegsgefahr. Der anglo-amerikanische Flottenstreit war ihm ganz besonders nahegegangen. Er bezeichnete ihn als »das Schlimmste, was seit langem passiert ist«. Wie Leute seiner Art in der Regel, hielt er sich an Tatsachen und äußerte seine Meinung unumwunden. Vor vier oder fünf Jahren hatten die Genfer Leute anders gesprochen, hatten ihre Mißerfolge nicht eingestanden und keinerlei Angst und Mutlosigkeit verraten.

Mr. Parham ließ ihn gewähren. Er war durchaus dafür, daß man den Äußerungen wohlinformierter Menschen lausche; deshalb wollte er Sir Walter gerne alles vorbringen lassen, was dieser vorzubringen wünschte. Hätte die ersehnte Wochenzeitschrift schon bestanden, so würde er den Genfer aufgefordert haben, einige Artikel für sie zu schreiben. Zum normalen Honorar. Und würde dann die pazifistischen Ideen des Mannes durch ein paar spöttische Begleitworte des Herausgebers in den Wind geschlagen haben.

Bei dem Diner verfolgte er eine ganz ähnliche Taktik. Eine Zeitlang verhielt er sich wie jemand, der sich belehren lassen will, stellte in einer beinahe ehrerbietigen Art und Weise Fragen. Dann aber schlug er einen anderen Ton an. Endlich sollte der gesunde Menschenverstand zu Wort kommen. Es habe ihn mit Genugtuung erfüllt, gestand er, daß man sich in Genf über die Ohnmacht des Völkerbundes klar zu werden beginne. Er wiederholte einige der Äußerungen des Sir Walter und ließ, den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, ein gütiges Lachen hören. »Ja, haben Sie denn etwas anderes erwartet?« fragte er.

Und im Grunde sei es auch gar nicht schlimm, fuhr er fort. Die überspannten Hoffnungen auf einen dauernden Weltfrieden, auf eine Art Welt-Utopie, die im Jahre 1918 wie eine Epidemie um sich gegriffen hätten, seien, das erkennten wir jetzt, nur eine Folge der allgemeinen Erschöpfung gewesen; ehrlicher Wille habe ihnen nicht zugrunde gelegen. Franzosen und Italiener, die unter allen Völkern den schärfsten Verstand und den größten Tatsachensinn besitzen, hätten sich derlei Träumen niemals hingegeben. Der Friede beruhe jetzt, wie allezeit, auf einem bewaffneten Gleichgewicht der Mächte.

Sir Walter versuchte zu widersprechen. Die kanadische Grenze zum Beispiel?

»In diesem Falle liegt der Druck anderswo«, sagte Mr. Parham mit einer Zuversicht, die jegliche Diskussion der ein wenig dunklen Behauptung ausschloß.

»Dies bewaffnete Gleichgewicht der Mächte, dem Sie das Wort reden, zehrt allen Wohlstand auf, den der Fortschritt der Industrie zu erzeugen vermag«, meinte Sir Walter. »Die Militärmacht Frankreichs ist riesengroß geworden. Sämtliche europäischen Budgets zeigen eine Zunahme der Rüstungen, und Leute wie Mussolini machen sich über den Kellogg-Pakt lustig, während sie ihn unterzeichnen.

Sogar die Amerikaner geben durch gewisse Einschränkungen deutlich zu verstehen, daß der Pakt eigentlich nichts bedeute. Sie wollen nicht dafür kämpfen. Und an der Monroe-Doctrin darf um seinetwillen nicht gerüttelt werden. Sie unterzeichnen den Pakt, behalten sich aber Freiheit des Handelns vor und lassen sich im Wettkampf der Rüstungen nicht beirren. In immer stärkerem Maße steuert die Welt dem Stand der Dinge zu, in dem sie sich 1913 befand.

Was mich dabei am ernstesten dünkt«, fuhr Sir Walter fort, »ist die zunehmende Schwierigkeit, eine Gegenbewegung in Gang zu halten. Die Hartnäckigkeit, mit der wir dem Unheil entgegentreiben, bedrückt mich vor allem. Durch die riesenhaften Rüstungen wird nicht nur jede Förderung des Wohlstands behindert, die Hebung des allgemeinen Lebensniveaus unterbunden, sondern auch der intellektuelle und moralische Fortschritt gehemmt. Der Patriotismus tötet die geistige Freiheit. Frankreich hat seit dem Jahre 1919 zu denken aufgehört, Italien ist gefesselt und geknebelt. Lange ehe es noch zu einem neuen Kriege kommt, kann in jedem Lande Europas die freie Meinungsäußerung durch eine patriotische Zensur unterdrückt werden. Und was soll man dagegen tun? Was kann man dagegen tun?«

»Ich schlage vor, man tue nichts dagegen«, sagte Mr. Parham. »Ich bin nicht im geringsten bedrückt durch die Tatsachen, die Sie anführen. Darf ich ganz offen sprechen – als ein Mann zum andern – als ein Realist in einer Welt menschlicher – allzu menschlicher Wesen? Ehrlich gesagt: Sie dürfen mir’s glauben, wir wollen Ihre pazifistische Bewegung nicht. Sie ist ein Traum. Die Sterne in ihrem Lauf sind gegen sie. Der bewaffnete Mann bleibt Herr in seinem Hause, bis ein stärkerer kommt. Das ist der Lauf der Welt, mein lieber Herr. So ist es immer gewesen. Was ist denn die freie Meinungsäußerung, der Sie das Wort reden, anderes als Freiheit, Unsinn zu schwätzen und Unheil zu stiften? Ich für mein Teil würde nicht einen Augenblick zögern, wenn es zwischen desorganisierendem Gestammel und nationaler Notwendigkeit zu wählen gilt. Können Sie es wirklich bedauern, wenn in Ländern, die sich bereits in einem Zustand sozialer Auflösung befanden, Zucht und Ordnung aufs neue hergestellt werden?«

Er führte eine jener auffälligen Tatsachen an, die selbst die verstocktesten Gemüter zum Verständnis der Wirklichkeit zurückzuführen pflegen. »Als meine Nichte im Jahre 1919 auf der Hochzeitsreise nach Italien kam, wurden ihr im Zuge zwei Handtaschen gestohlen; auf der Rückfahrt ging ihres Gatten aufgegebener Koffer verloren und fand sich niemals wieder. Das war der Stand der Dinge, ehe eine starke Hand die Zügel ergriff.

Nei-hein«, sagte Mr. Parham in klarem, gebieterischem Ton und wandte sich ohne Unterbrechung aufs neue der allgemeinen Frage zu. »Was die Tatsachen anbelangt, bin ich ganz Ihrer Meinung. Aber nicht im selben Geist. Wir treten in eine Phase der Rüstungen ein, die noch machtvoller ist als jene vor dem großen Kriege. Zugegeben. Doch die großen Umrisse des Kampfes beginnen sich zu zeigen – sie bilden sich vernünftig und logisch. Sie liegen in der Natur der Dinge. Es läßt sich nichts an ihnen ändern.«

Er schlug einen fast vertraulich zu nennenden Ton an. Seine Hände bewegten sich zeichnend auf dem Tischtuch und seine Stimme wurde leiser. Sir Walter beobachtete ihn mit großen Augen, die Stirn kummervoll gerunzelt.

»Hier«, sagte Mr. Parham, »hier im Mittelpunkt der alten Welt, unendlich groß und potentiell mächtiger als die meisten übrigen Länder der Erde zusammengenommen …« er machte eine Pause, als fürchte er, von einem Unberufenen gehört zu werden, »liegt Rußland. Im Grunde ist es völlig gleichgültig, ob es von einem Zaren oder den Bolschewiken regiert wird. Rußland ist die große Gefahr – der überwältigende Feind. Wachsen muß es. Es hat Raum. Es hat riesenhafte Hilfsquellen. Es wendet sich gegen uns, durch die Türkei wie stets, durch Afghanistan wie stets, und nun auch noch durch China. Instinktiv tut es das – es kann nicht anders. Ich mache ihm keinen Vorwurf daraus. Doch wir – wir müssen uns wehren. Was wird Deutschland tun? Sich zum Osten schlagen? Oder zum Westen? Wer kann es sagen? Ein unberechenbares Volk, ein umstrittenes Land. Wir werden versuchen, die Deutschen für uns zu gewinnen, aber ich zähle nicht unbedingt auf sie. Die Politik, die die übrige Welt verfolgen muß, liegt auf der Hand. Wir müssen Rußland einkreisen; wir müssen uns gegen die Drohung der großen Ebenen zur Wehr setzen, ehe sie übermächtig wird. So wie wir uns gegen die geringere Drohung der Hohenzollern zur Wehr gesetzt haben. Zu rechter Zeit. Hier im Westen umschließen wir Rußland durch unseren Verbündeten, Frankreich, und durch dessen Schüler Polen; im Osten durch unseren Verbündeten Japan. Durch Indien hindurch strecken wir die Hand gegen es aus. Wir versuchen, ihm durch Afghanistan zu Leibe zu rücken. Seinetwegen halten wir Gibraltar besetzt; seinetwegen überwachen wir Konstantinopel. Amerika muß als unser Verbündeter mit uns gehen, ob es will oder nicht, denn es kann Rußland nicht durch China hindurch ans Meer vordringen lassen. Dies ist die Lage der Welt. In großen Umrissen und mutig betrachtet. Sie birgt ungeheure Gefahr in sich – jawohl. Sie ist tragisch – wenn Sie wollen. Aber sie bietet dem hingebungsvollen Mut der Völker unbegrenzte Möglichkeiten.«

Mr. Parham hielt inne. Als es völlig klar war, daß er nunmehr eine Pause zu machen gedachte, flüsterte Sir Bussy sein gewohntes »Nu!« Sir Walter knackte sich eine Nuß auf und ließ sein Glas mit Portwein füllen.

»Da haben Sie’s«, sagte er mit einem Seufzer, »wenn Mr. …?«

»Parham, mein Herr.«

»Wenn Mr. Parham das in irgend einer der Hauptstädte von Paris bis Tokio vorbrächte, würde es völlig ernst genommen werden. Völlig ernst. Und so weit also sind wir zehn Jahre nach dem Waffenstillstand.«

Camelford, der bisher nur zugehört hatte, ergriff nun das Wort. »Ganz richtig«, sagte er. »Unsere Regierungen sind wie Automaten. Einander zu bekämpfen und miteinander zu rivalisieren, war ihre ursprüngliche Aufgabe, und allem Anscheine nach können sie bis auf den heutigen Tag nichts anderes. Sie rüsten zum Kriege und bereiten den Krieg vor. Es ist wie das instinktive Jagdgelüst einer Katze. Man mag das Tier noch so gut füttern, es wird trotzdem Vögel fangen. Es kann nichts gegen seine Natur. Und die Regierungen ebenso wenig. Ehe wir sie nicht abschaffen, werden sie nicht von ihrem Spiel lassen. Darf ich Sie fragen, Sir Walter: Als Sie nach Genf gingen, da dachten Sie wohl, daß sich unsere lieben Regierungen besser halten würden, als es dann in Wirklichkeit der Fall war? Wesentlich besser?«

 

»Jawohl«, sagte Sir Walter. »Ich gebe zu, daß ich so manche Enttäuschung erlebt habe – besonders in den letzten drei oder vier Jahren.«

»Wir leben heute in einer unglaublich paradoxen Welt«, sagte Camelford. »Sie gleicht einem Ei mit einer unzerbrechlichen Schale oder einer Raupe, die, in ihrer Entwicklung seltsam gehemmt, zu einer Hälfte ein geflügeltes Insekt geworden und zur anderen ein Kriechtier geblieben ist. Wir kommen nicht über unsere Regierungen hinweg. Wir wachsen stückweise und verkehrt. Gewisse Dinge werden international – kosmopolitisch. Das Bankwesen zum Beispiel.« Er wandte sich an Hamp.

»Das Bankwesen hat seit dem Kriege ungeheure Fortschritte in dieser. Richtung gemacht«, meinte Hamp. »Ungeheure Fortschritte, das kann man ohne Übertreibung sagen. Wir haben zusammen zu arbeiten gelernt. Und das in einem Maße, wie wir es uns vor dem Kriege nicht vorstellen konnten. Trotzdem dürfen Sie nicht glauben, wir Geldleute bildeten uns ein, wir könnten den Krieg verhindern. Der Gedanke liegt uns ferne. Dergleichen dürfen Sie nicht von uns erwarten. Dürfen nicht zu viel von uns verlangen. Wir vermögen nichts gegen die Stimme des Volkes und nichts gegen einen böswilligen Politiker, der das Volk aufwiegelt. Und vor allem sind wir der Presse gegenüber machtlos. Solange die souveränen Regierungen der Welt Papier in Geld verwandeln können, ist es ein leichtes, uns außer Tätigkeit zu setzen. Glauben Sie ja nicht, daß wir jene geheimnisvolle unsichtbare Macht, die Macht des Geldes, sind, von der Salonbolschewiken zu sprechen pflegen. Wir Bankiers sind das, wozu die äußeren Umstände uns gemacht haben, und die äußeren Umstände setzen uns ganz bestimmte Grenzen.«

»Unsere Lage ist phantastisch«, sagte Camelford. »Wenn ich ›unsere‹ sage, so meine ich damit die Unternehmen der chemischen Industrie auf der ganzen Welt, meine Associes sozusagen, hier und im Ausland. Ich freue mich, Sir Bussy nunmehr zu ihnen zählen zu können.«

Sir Bussys Gesicht blieb unbeweglich.

»Lassen Sie mich durch ein Beispiel erläutern, was ich mit dem Worte ›phantastisch‹ meine«, fuhr Camelford fort. »Wir in unseren mannigfachen Verzweigungen sind die einzigen Leute, die in dem für den modernen Krieg notwendigen Maßstabe Gas herstellen können. Alle chemischen Industrien der Welt sind heute so miteinander verknüpft, daß es durchaus berechtigt ist, wenn ich ›wir‹ sage. Also: wir haben die Herstellung von vielleicht hundert für die moderne Kriegsführung nötigen Dingen mehr oder weniger in der Hand; Gas ist das wichtigste unter ihnen. Wenn die souveränen Mächte, die die Welt auf eine so lästige Art und Weise in Stücke teilen, noch einen Krieg zustande bringen, werden sie ohne Zweifel Gas benutzen müssen, sie mögen vorher noch so schöne Abkommen dagegen getroffen haben. Und wir, unsere große Gruppe von Interessenten, werden ihnen das Gas beschaffen, gutes, brauchbares Gas, zu vernünftigen Preisen; so viel, ja noch mehr als sie wollen. Wir beliefern sie alle derzeit und werden sie wahrscheinlich, auch wenn der Krieg kommt, alle beliefern – die eine Seite wie die andere. Während des tatsächlichen Kampfes werden wir wohl unsere Verbindung ein wenig lockern, aber das wird nur eine vorübergehende Notwendigkeit sein. Und wir sind vorläufig nicht imstande, an unserer absonderlichen Lage etwas zu ändern. Genau wie ihr Bankleute sind wir das, wozu die Umstände uns gemacht haben. Wir haben nichts Souveränes. Wir sind keine Regierungen, die Krieg erklären oder Frieden schließen können. Der Einfluß, den wir auf Regierungen und Kriegsministerien haben, ist beschränkt und indirekt. Wir sind nichts weiter als Händler. Wir verkaufen Gas, genau so wie andere Leute der Armee Fleisch oder Kohle verkaufen.

Aber sehen wir uns die Sache einmal von einer andern Seite an. Ich habe neulich eine Berechnung aufgestellt. Eine ganz rohe, selbstverständlich. Nehmen wir einmal an, die Zahl der Toten im nächsten großen Krieg wird sich auf fünf Millionen belaufen, darunter drei Millionen, die an einer Gasvergiftung zugrunde gehen – das ist, glaube ich, eine ganz mäßige Schätzung. Ich bin nämlich überzeugt, daß der nächste Krieg ein Gaskrieg sein wird. Dann wird uns jeder mit Gas vergiftete Mann durchschnittlich einen Betrag zwischen vier und zehn Pence bezahlt haben – je nachdem wie viele Mächte an dem Krieg teilnehmen – vier bis zehn Pence für die Herstellung, Aufbewahrung und Lieferung des Gases, mit dem er vergiftet wird. Selbstverständlich ist das nur eine annähernde Schätzung. Eine größere Anzahl von Todesfällen bedeutet natürlich geringere Kosten für den einzelnen. Aber jeder dieser Gastod-Anwärter – wenn Sie mir die Bildung dieses Wortes gestatten – zahlt heute Jahr für Jahr ungefähr den erwähnten Betrag in der Form von Steuern. Und wir, das heißt die internationale Chemie-Industrie, sorgen dafür, daß er das bezahlte Gas auch bekomme. Wir sind eine Art Gaslotterie. Die Verlosung findet im nächsten großen Krieg statt. Ihr Los gewinnt Gastod, das Ihre eine kranke Lunge und Armut, Sie, glücklicher Kerl, haben eine Niete! Sie gehen leer aus, aber dafür bleibt Ihnen auch die Tortur erspart. Mir scheint das Ganze irrsinnig, aber den meisten anderen Leuten scheint es ganz vernünftig, und warum sollten wir den Instinkten und Institutionen der Menschheit entgegenarbeiten?«

Mr. Parham spielte mit einem Nußknacker und sagte nichts. Dieser Camelford war ein widerlicher Zyniker. Nicht einmal der Tod auf dem Schlachtfeld war ihm heilig. Gastod-Anwärter!

»Mit der Lotterie der Gastod-Anwärter sind jedoch die Absurditäten der gegenwärtigen Lage keineswegs erschöpft«, hob Camelford wieder an. »All die verflixten Kriegsministerien der Welt haben Sogenannte Geheimnisse. Geheimnisse nennen sie den Kram! Und machen ein Getue. Treffen Vorsichtsmaßregeln. Unsere Kerle hier in England, ich meine die Herren unseres Kriegsministeriums, haben ein Gas, ein wunderbares Gas – L. Es ist das Steckenpferd des Generals Gerson. Ein verfluchter Dreck. Verursacht die fürchterlichsten Qualen, bis man schließlich daran zugrunde geht. Er weidet sich an dem Zeug. Zu seiner Herstellung braucht man gewisse selten vorkommende Erden und Minerale, die wir in Cayme in Cornwall produzieren. Sie haben doch schon von unseren neuen Werken dort gehört? – In ihrer Art ganz wunderbar. Etliche unserer jüngeren Leute leisten da Erstaunliches. Wir haben eine ganze Reihe von Zusammensetzungen, die sich zu den fabelhaftesten Zwecken verwenden lassen. Und in gewissem Ausmaße werden sie auch bereits verwendet. Nur kann man unglückseligerweise eines unserer Produkte auch zu dem verruchten Zweck des Vergiftens gebrauchen. Oder richtiger gesagt, jene Herren können das – und wir müssen so tun, als wüßten wir nicht, wozu sie es haben wollen. Es handelt sich da eben um ein großes Geheimnis. Ein wichtiges militärisches Geheimnis.

Die wissenschaftliche Industrie muß für ein halbes Dutzend Regierungen dergleichen Geheimnisse wahren … Es ist kindisch. Verrückt ist es.«

Mr. Parham schüttelte still für sich den Kopf wie einer, der besser Bescheid weiß.

»Wenn ich recht verstehe«, sagte Hamp vorsichtig, »kennen Sie also dieses neue britische Gas, von dem da und dort geflüstert wird …?«

Er brach in fragendem Tone ab.

»Wir müssen es wohl mehr oder weniger kennen. Wir sitzen da und schauen zu und tun so, als ob wir nichts sähen und nichts wüßten, während eure und unsere Spione und Sachverständigen sich mit Versuchen abmühen, reine Wissenschaft in reine Narretei zu verwandeln … Es kann nicht lange so weiter gehen, sagt man sich. Aber es geht doch so weiter. Das ist der Stand der Dinge. Dahin sind wir gekommen, weil die Welt nicht von ihren unabhängigen souveränen Regierungen lassen will. Was können wir dabei tun? Ihr sagt, ihr könntet nichts tun. Ich weiß nicht, ob das stimmt. Wir zum Beispiel könnten die weitere Lieferung dieses Lieblingsgases der Briten verweigern; ebenso die gewisser Explosivstoffe und anderer Lieblingsgeheimnisse der Deutschen und Ihrer Landsleute. Es würde vielleicht einen Kampf mit einigen unserer Schwestergesellschaften kosten. Aber ich glaube, wir würden durchdringen … Angenommen, wir machten den Versuch. Würde das den Stand der Dinge wesentlich ändern? Vielleicht hätten die Herren vom Kriegsministerium Courage genug, uns einzusperren. Und der dumme Durchschnittsmensch würde gegen uns sein.«

»Der dumme Durchschnittsmensch!« rief Mr. Parham, dem endlich die Geduld riß. »Damit wollen Sie sagen, mein Herr, daß die gesamte menschliche Erfahrung gegen Sie wäre. Was kann es denn anderes geben, als diese Regierungen, die Sie so spitzfindig schmähen? Was vertreten diese Regierungen denn? Leben und Gesinnung der Menschheit. Und – verzeihen Sie mir, wenn ich Sie in die Enge treibe – wer sind Sie? Wollen Sie die Regierungen abschaffen? Und irgend eine absonderliche Über-Regierung errichten, eine Freimaurerschaft der Bankleute und Wissenschaftler, die die Welt beherrschen soll?«

»Und Wissenschaftler! Bankleute und Wissenschaftler! Wir versuchen, auf unsere Art ebenfalls Wissenschaftler zu sein«, protestierte Hamp und blickte beifallsuchend zu Sir Bussy hinüber.

»Ich glaube, ich würde versuchen, die Angelegenheiten der Menschheit auf eine neue Art und Weise zu verwalten«, antwortete Camelford auf Mr. Parhams Frage. »Früher oder später werden wir meiner Meinung nach etwas dergleichen versuchen müssen. Meiner Meinung nach wird die Wissenschaft schließlich an leitende Stelle treten.«

»Das bedeutet Verrat und eine neue Internationale«, rief Mr. Parham heftig. »Noch dazu ohne daß Sie sich dabei auf die soziale Unzufriedenheit des Proletariats stützen könnten!«

»Warum nicht?« murmelte Sir Bussy.

»Und wie wollt ihr überlegenen Leute mit dem dummen Durchschnittsmenschen verfahren – das heißt mit dem Großteil der Menschheit?«

»Den könnte man zu einem Helfer erziehen«, meinte Atterbury. »Er ist stets recht gelehrig, wenn man ihn jung zu fassen bekommt.«

»Damit könnte etwas ganz Neues anheben«, sagte Camelford. »Eine neue Art Welt. Es ist gar nicht so unglaubhaft. Die Wissenschaft der modernen Politik befindet sich noch in den Kinderschuhen. Sie ist um etwa ein Jahrhundert jünger als die Chemie oder die Biologie. Vor allem müßten Erziehung und Unterricht in den Schulen ganz anders werden, nach völlig neuen Richtlinien orientiert. Die ganze vergiftete Nationalgeschichte zum Beispiel müßte zum alten Eisen geworfen werden, und man müßte das Denken der Jugend in neue Bahnen lenken, indem man sie darauf hinweist, wie gut es die Menschen auf der Welt haben könnten.«

Sir Bussy nickte zustimmend. Gereizt durch dieses Nicken, wollte Mr. Parham auffahren, doch bezwang er sich.

»Sie wollen etwas ganz Neues schaffen«, sagte er, »bedauerlicherweise sind aber die Tage der Erschaffung der Welt vorbei, und nun folgt ein Tag dem andern.«

Er war mit diesem seinem weisen Ausspruch zufrieden.

In der darauf folgenden Pause wandte sich Sir Walter an Camelford. »Was Sie von der Lotterie der Gastod-Anwärter sagten, ist sehr anschaulich. Ich hätte den Gedanken in einem Vortrag verwerten können, den ich vorige Woche hielt.«

Der junge Amerikaner, der sich bisher nicht an dem Gespräche beteiligt hatte, ergriff nun schüchtern das Wort: »Ich glaube, ihr Europäer, wenn ich so sagen darf, seid geneigt, die Bewegung, aus der der Kellogg-Pakt entsprang, zu unterschätzen. Der Pakt mag zwecklos erscheinen – wer kann das heute schon mit Bestimmtheit sagen? – aber man darf nicht vergessen, daß eine bestimmte Geistesrichtung ihn entstehen ließ. So viel ist jedenfalls klar, und das ist immerhin schon etwas. Der Kellogg-Pakt ist gewiß nicht der letzte Vorschlag dieser Art, der aus Amerika kommen wird.«

Er errötete, während er sein Sprüchlein vortrug, doch hatte er offenkundig bei seinen Worten etwas ganz Bestimmtes im Sinn.

»Das gebe ich zu«, sagte Sir Walter. »Es herrscht in Amerika gefühlsmäßig immer noch eine sehr starke Neigung zum Weltfrieden, und etwas Ähnliches findet sich in weniger entwickelter Form überall. Aber es kommt nicht klar zum Ausdruck, nimmt keine wirksame Entwicklung. Es bleibt ein bloßes Gefühl. Es schreitet nicht zu entscheidenden Taten. Und das eben bedrückt mich in immer stärkerem Maße. Ehe dieses Gefühl für den Frieden irgendwelche praktische Bedeutung erlangen kann, muß eine riesige Umgestaltung der herrschenden Ideen stattfinden.«

 

Mr. Parham deutete durch ein Kopfnicken an, daß er diesem letzten Satz zustimme, und nahm sich mit gleichgültiger Miene eine Traube.

Dann aber schien es ihm, als ob die andern unter wohlüberlegter Außerachtlassung dessen, was er gesagt hatte, weiter redeten. Oder, genauer ausgedrückt: unter wohlüberlegter Außerachtlassung der unbestreitbaren Richtigkeit dessen, was er gesagt hatte.

Mr. Parham hatte die Neigung, im Verlauf der geselligen Abende bei Sir Bussy starken Schwankungen seiner Laune zu unterliegen. Zeitweise fühlte er sich fest und stark und vermochte sich außerordentlich klar zu äußern. Dann aber wurde er plötzlich gereizt, und Zorn und Argwohn erfüllten sein Gemüt. Und während er nun dem Gespräche lauschte – eine längere Weile beteiligte er sich nämlich nicht daran – überkam ihn mit einem Male ein Gefühl, das ihn in letzter Zeit immer häufiger heimgesucht hatte: das Gefühl nämlich, daß die Welt sich mit etwas wie nachlässiger Bosheit in steigendem Maße von allem abwende, was als gesund, schön und dauerhaft im menschlichen Dasein gelten kann. Wenn man es recht überlegte, planten diese Männer da ganz offen die Unterdrückung von Patriotismus, Loyalität, Zucht und allen Errungenschaften der Staatskunst durch ein unbestimmtes internationales Gemeinwesen, irgend eine phantastische kosmopolitische Organisation von Finanz und Industrie. Sie sagten Dinge, die in jeder Hinsicht ganz ebenso schändlich waren wie das Gerede, um dessentwillen man geschwätzige Bolschewiken so schnell wie möglich in ihr geliebtes Rußland zurückbefördert. Und sie beharrten bei ihrer Meinung, obgleich er ihnen die wirkliche politische Lage der Welt so klar und deutlich auseinandergesetzt hatte. Hatte es überhaupt einen Zweck, noch weiter mit ihnen zu reden?

Aber durfte er andererseits zu all dem Unsinn schweigen? Da saß Sir Bussy und lauschte hingerissen!

Sie redeten und redeten.

»Als ich seinerzeit nach Genf ging«, sagte Sir Walter, »war ich mir nicht darüber klar, wie wenig wir dort auf Grundlage der herrschenden Mentalität zu leisten imstande sein würden. Ich wußte nicht, wie sehr sich der überall noch bestehende Patriotismus dem Erwachen eines internationalen Bewußtseins widersetzt. Ich bildete mir ein, der Patriotismus würde allmählich einem hochherzigen Wettkampf im Dienste der Menschheit Platz machen. Doch während wir drüben in Genf uns um die Sicherung eines dauernden Weltfriedens bemühen, erziehen die Schulmeister in England wie in Frankreich die nächste Generation dazu, alles, was wir aufbauen, wiederum über den Haufen zu werfen, tun, was möglich ist, um die hochfliegenden jungen Gemüter zu den unsinnigen Irrtümern des Patriotismus der Kriegszeit zurückzuführen … Allüberall in der Welt scheint das ganz ebenso zu sein.«

Der junge Amerikaner, schüchtern in einem Kreise älterer Männer, vermochte nur einen Laut des Protestes von sich zu geben, wie einer, der sich im Schlafe bewegt. Wodurch er sein Vaterland ausnahm.

»Dann wollen Sie also«, sagte Mr. Parham, indem er zu lächeln versuchte, jedoch wider Willen den linken Nasenflügel höhnisch rümpfte, »das Zeitalter der großen künftigen Zivilisation damit beginnen, daß Sie unsere Schulen schließen?«

»Er will sie nur ändern«, verbesserte Sir Bussy.

»Schulen, Kirchen, Universitäten, Armeen, Flotten, Fahnen und die Ehre zum alten Eisen werfen, und das Millenium auf kahlem Boden aufbauen«, höhnte Mr. Parham.

»Warum nicht?« fragte Sir Bussy, und aus seiner Stimme klang plötzlich ein warnendes Grollen.

»Das ist es just«, erklärte Hamp mit tiefgründiger Miene und jener nur Amerikanern eigenen Art, eine ganz einfache Bemerkung so vorzubringen, als ob sie den Beginn einer neuen Epoche bedeute, »was so viele unter uns zu sagen nicht den Mut haben –: Warum nicht? Sir Bussy, mit diesem ›Warum nicht‹ sind Sie den Dingen auf den Grund gegangen.«

Die an sich schon großen und durch seine Brille noch vergrößerten dunklen Augen des Sprechers wanderten von einem Gesicht zum andern; seine Wangen waren gerötet.

»Wir haben Kutschen und Pferde zum alten Eisen geworfen, Kaminfeuer und Gasbeleuchtung werden eben abgeschafft, es gibt keine großen Schiffe aus Holz mehr, wir können heutzutage hören und sehen, was auf der andern Seite der Erdkugel vor sich geht, wir bringen tausenderlei – Wunder, kann man ruhig sagen – zustande, die vor hundert Jahren völlig unmöglich gewesen wären. Warum sollten nicht auch Grenzen veralten? Warum Länder und Kulturen nicht zu klein geworden sein? Warum in aller Welt müssen wir immer noch Schulen und Universitäten haben, die für unsere Urgroßväter taugten, und Regierungen, die vor anderthalb Jahrhunderten das Modernste auf dem Gebiete der Staatskunst waren?«

»Vermutlich«, sagte Mr. Parham – da keiner der Anwesenden ihm Beachtung schenkte, sprach er zu den Blumen vor ihm auf dem Tische – »vermutlich, weil die Beziehungen der Menschen zueinander etwas ganz anderes sind als mechanische Vorgänge.«

»Ich sehe nicht ein, warum nicht auf dem Gebiete der Psychologie ganz ebenso wie auf dem der Chemie oder der Physik Erfindungen gemacht werden sollten«, meinte Camelford.

»Ihre Welt des Friedens«, sagte Mr. Parham, »steht, wenn Sie sie recht betrachten, im Widerspruch zu den grundlegenden – den uralten und erprobten Institutionen der Menschheit, den Institutionen, die den Menschen zu dem gemacht haben, was er ist. Das ist der Grund.«

»Die Institutionen der Menschheit«, widersprach Camelford mit ruhiger Sicherheit, »sind in ebenso starkem oder ebenso geringem Maße grundlegend wie eine Hose. Wenn das Kleidungsstück der Welt zu klein oder zu unbequem wird, muß sie sich ein anderes anschaffen, und dadurch wird nichts von wesentlicher Bedeutung im Menschen abgetötet werden. Der Mensch ist, will mir scheinen, heute eben dabei, sich ein neues Kleidungsstück anzuschaffen. Er macht sich immer mehr von dem Glauben los, daß seine Hose er selber ist. Wenn Herrscher und Schulmeister es nicht mit einem neuen Kleidungsstück probieren wollen: umso schlimmer für sie. Letzten Endes. Wiewohl vielleicht eine Zeitlang, wie Sir Walter zu denken scheint, der Druck auf uns fallen wird. Letzten Endes werden wir eine neue Weltordnung bekommen müssen – und eine neue Sorte Lehrer für unsere Söhne. So mühselig das vielleicht auch sein wird. So lange die schwierige und möglicherweise blutige Übergangszeit auch dauern mag.«

»Warum sollten wir uns denn so gräßlich davor fürchten, etwas zum alten Eisen zu werfen?« fragte Sir Bussy. »Wenn die Schulen Unheil stiften und unsern Kindern die Ideen eintrichtern, die zum Kriege geführt haben, warum sollten wir sie dann nicht abschaffen? Zum Kuckuck mit unsern überlebten Schulmeistern! Es wird uns schon gelingen, eine neue Art Schule aufzubauen.«

»Und die Universitäten?« sagte Mr. Parham, so sehr belustigt, daß seine Stimme fast umschnappte.

Sir Bussy wendete sich ihm zu und betrachtete ihn ernst.

»Parham«, sagte er langsam, »Sie sind mächtig zufrieden mit der Welt. Ich nicht. Sie fürchten, daß sie sich verändern könnte. Sie wollen, daß sie stille stehe. Denn sonst könnte es ja dahin kommen, daß Sie etwas Neues lernen und Ihre alten Künste beiseite lassen müßten. Ja – ich kenne Sie. So schaut es in Ihnen aus. Sie fürchten, daß eine Zeit kommen könnte, wo alles heute Wichtige nichts mehr bedeuten wird; wo die berühmte Mission Napoleons oder die wunderbare auswärtige Politik des alten Richelieu gescheiten Leuten ebenso gleichgültig sein wird wie …« er suchte bedächtig nach einem Vergleiche, »wie die Ideen eines alten Kaninchens aus den Tagen der Königin Elisabeth.«

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