Menschen, Göttern gleich (Roman)

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12

Mehrere Utopen nannten den Erdlingen ihre Namen. Ihre Stimmen erschienen Mr. Barnstaple seltsamerweise alle gleichklingend, und ihre Worte waren so deutlich, als ob sie gedruckt wären. Die braunäugige Frau hieß Lychnis. Ein Mann mit einem Bart, der vielleicht gegen vierzig Jahre alt sein mochte, hieß entweder Urthred oder Adam oder Edom, es war sehr schwer, trotz der Deutlichkeit seiner Aussprache, den Namen mitzubekommen. Es war so, wie wenn große gedruckte Buchstaben zögerten. Urthred erklärte, daß er Ethnologe und Historiker sei und daß er wünsche, soviel wie nur irgend möglich über unsere Welt zu erfahren. Er machte auf Mr. Barnstaple den Eindruck, als hätte er eher das sichere Auftreten eines irdischen Finanzmannes oder eines großen Zeitungsgewaltigen, als die Schüchternheit, die in unserer Alltagswelt den Gelehrten auszeichnet. Ein anderer ihrer Gastgeber, Serpentin, war auch ein Mann der Wissenschaft, wie Mr. Barnstaple zu seiner Überraschung erfuhr; denn auch er benahm sich wie ein großer Herr. Er bezeichnete sich als etwas, was Mr. Barnstaple nicht erfassen konnte. Zuerst klang es wie ›Atom-Mechaniker‹ und dann, recht sonderbar, klang es wie ›Molekular-Chemiker‹. Dann wieder hörte Mr. Barnstaple, wie Mr. Burleigh zu Mr. Mush sagte: »Sagte er nicht, er sei ›Physio-Chemiker‹?«

»Mir schien es, als ob er sich einen ›Materialisten‹ genannt hätte!« erwiderte Mr. Mush.

»Ich dachte, er sagte, daß er irgend etwas abwäge«, bemerkte Lady Stella.

»Ihre Betonung ist merkwürdig«, sagte Mr. Burleigh. »Manchmal sind sie fast lauter, als angenehm ist, und dann entsteht wieder eine Art Lücke zwischen den Lauten.«

Als das Mahl beendet war, begab sich die ganze Gesellschaft in ein anderes kleines Gebäude, das offenbar für Unterrichtszwecke und Diskussionen bestimmt war. Es hatte eine halbkreisförmige Apsis, an deren Innenwand eine Reihe weißer Tafeln angebracht war, die anscheinend bei gewissen Gelegenheiten dem Vortragenden als Schreibtafeln dienten, da schwarze und farbige Stifte und Lappen zum Abwischen in passender Höhe unter den Tafeln auf breiten Marmorgesimsen lagen. Der Vortragende konnte, während er sprach, den ganzen Halbkreis Punkt für Punkt abschreiten. Lychnis und Urthred, Serpentin und die Erdlinge setzten sich auf eine halbkreisförmige Bank unterhalb dieses Vortragspodiums; auf den Sitzen vor ihnen war noch Platz für etwa achtzig bis hundert Leute. Alle Plätze waren besetzt, und dahinter standen einige anmutige Gruppen vor einem Hintergrund rhododendronartiger Büsche, zwischen denen Mr. Barnstaple grüne Alleen durchschimmern sah, die zu dem glitzernden Wasser des Sees hinunterführten.

Sie waren zusammengekommen, um über diesen außerordentlichen Einbruch in ihre Welt zu sprechen. Was konnte vernünftiger sein, als darüber zu sprechen? Konnte man sich etwas Phantastischeres, Unmöglicheres ausdenken?

»Komisch, daß es hier keine Schwalben gibt!« sagte Mr. Mush plötzlich Mr. Barnstaple ins Ohr. »Ich möchte gerne wissen, warum es hier keine Schwalben gibt?«

Mr. Barnstaple wandte seine Blicke dem leeren Himmel zu.

»Keine Mücken oder Fliegen«, riet er.

Es war sonderbar, daß er die Schwalben nicht schon früher vermißt hatte.

»Ssssssst«, flüsterte Lady Stella, »er fängt an!«

13

Diese unglaubliche Konferenz begann. Sie wurde eröffnet durch den Mann, der sich Serpentin nannte; er stand vor seinen Zuhörern und schien eine Rede zu halten. Seine Lippen bewegten sich, und seine Hände bekräftigten seine Ausführungen. Sein Ausdruck wechselte mit dem Vortrag. Und dennoch konnte Mr. Barnstaple einen ganz leisen Zweifel nicht unterdrücken, ob Serpentin auch wirklich sprach. Irgend etwas Sonderbares war an der ganzen Sache. Manchmal fand das, was gesagt wurde, einen ganz besonderen Widerhall in seinem Kopf, manchmal war es undeutlich und unfaßbar wie ein Gegenstand, den man durch getrübtes Wasser sieht, manchmal gab es Lücken absoluter Stille, obwohl Serpentin immer noch seine feinen Hände bewegte und auf seine Hörer blickte – als ob Mr. Barnstaple für Augenblicke oder Minuten taub geworden wäre … Und doch war es ein Vortrag, der zusammenhängend war und Mr. Barnstaples Aufmerksamkeit fesselte.

Serpentin hatte die Art eines Mannes, der sich die größte Mühe gibt, ein ziemlich verwickeltes Problem so einfach wie nur möglich darzulegen. Und wirklich legte er nach jedem Satz eine Pause ein.

»Es war schon lange bekannt«, begann er, »daß die Dimensionen, ebenso wie irgend etwas anderes, das man zählen kann, in unbegrenzter Anzahl möglich sind!«

Ja, Mr. Barnstaple hatte das verstanden, aber für Freddy Mush erwies es sich als zu schwierig.

»O Gott!« sagte er, »Dimensionen!« Er ließ sein Monokel fallen und gab es auf, weiter zuzuhören.

»Für die meisten praktischen Zwecke«, fuhr Serpentin fort, »konnte man das Universum und das Bewegungssystem, in dem wir uns befanden und von dem wir einen Teil bildeten, als eine Erscheinung in einem Raum von drei geradlinigen Dimensionen ansehen, als eine Erscheinung, die durch eine vierte Dimension, die Zeit, einer stetigen Veränderung unterworfen ist, welche Veränderung in Wirklichkeit ein Gleichgewichtszustand war. Ein solches Bewegungssystem war also notwendigerweise ein Gravitationssystem.«

»Ah«, sagte Mr. Burleigh spitz, »entschuldigen Sie, ich seh’ das nicht ein!«

Er folgte also jedenfalls auch der Rede.

»Jedes Universum, das sich im Gleichgewicht befindet, muß notwendigerweise der Schwerkraft unterworfen sein«, wiederholte Serpentin, als ob er eine selbstverständliche Tatsache behauptete.

»So wahr ich lebe, ich kann das nicht einsehen«, sagte Mr. Burleigh, nachdem er einen Augenblick überlegt hatte. Serpentin dachte eine kleine Weile nach. »Es ist so!« sagte er und setzte seine Rede fort. »Unser Geist«, fuhr er fort, »hatte sich so entwickelt, daß er die Dinge auf diese Weise wahrnahm, sie als wirklich akzeptierte, und es bedurfte einer durch große Anstrengungen gestützten Analyse, um sich darüber klar zu werden, daß dieses Universum, in dem wir leben, sich nicht nur geradlinig, sondern sozusagen mit Krümmungen und Verzerrungen in eine Anzahl anderer, lange Zeit unvermuteter, räumlicher Dimensionen erstreckte. Außer in seine drei räumlichen Hauptdimensionen erstreckte es sich nach jenen anderen ebenso, wie sich ein dünnes Blatt Papier, das praktisch zweidimensional ist, nicht nur infolge seiner Stärke, sondern auch durch seine Falten und Krümmungen in eine dritte Dimension erstreckt.«

»Werde ich taub?« flüsterte Lady Stella, deutlich hörbar. »Ich verstehe kein Wort von alledem.«

»Auch ich nicht«, sagte Pater Amerton.

Mr. Burleigh gebot den beiden Unglücklichen mit einer Handbewegung Schweigen, ohne seine Augen von Serpentins Gesicht abzuwenden.

Mr. Barnstaple zog die Stirn in Falten, umfaßte seine Knie, krampfte die Finger zusammen und bemühte sich verzweifelt, zu hören.

Er mußte hören – natürlich hörte er!

Serpentin fuhr fort, zu erklären, daß, ebenso wie es für eine Anzahl praktisch zweidimensionaler Universen möglich sei, in einem dreidimensionalen Raum nebeneinander zu liegen wie Blätter Papier, sich im mehrdimensionalen Raum, über den der schlecht ausgerüstete menschliche Geist nur langsam und mühevoll Kenntnis erwirbt, eine unzählbare Menge praktisch dreidimensionaler Weltenkörper nebeneinander befinden und annähernd parallel durch die Zeit bewegen könnten. Das tiefsinnige Werk von Monopetros und Kephalos habe schon seit langem die gesündeste Basis für die Annahme geschaffen, daß es eine sehr große Zahl solcher Raum-Zeit-Universen gebe, die untereinander parallel und ähnlich seien – sehr, aber doch nicht völlig ähnlich –, so, wie die Blätter eines Buches einander gleichen. Alle seien von Dauer, jedes sei ein Gravitationssystem.

(Mr. Burleigh schüttelte den Kopf, um zu zeigen, daß er dies immer noch nicht einsehen könne.)

Und diejenigen, welche am nächsten beieinander lägen, ähnelten einander auch am meisten. Wie sehr, das hätten sie nun Gelegenheit zu erfahren. Denn die kühnen Versuche jener zwei großen Genies, Ardenn und Chrysolagone, die – (unhörbar) – Kraft der Atome auszunützen, um einen Teil des utopischen Weltenkörpers in jene Dimension, die F-Dimension, in welche er sich bekanntlich auf etwa eines Armes Länge erstreckt, zu stoßen, so wie ein Tor sich in den Angeln bewegt, sei offensichtlich vollständig erfolgreich gewesen. Das Tor sei wieder zurückgeschwungen und habe einen Schwall dumpfer Luft, einen Sturm von Staub und zum größten Erstaunen Utopias drei Gruppen von Besuchern aus einer unbekannten Welt mitgebracht!

»Drei?« flüsterte Mr. Barnstaple voll Zweifel. »Sagte er drei?«

(Serpentin schenkte ihm keine Beachtung.)

»Unser Bruder und unsere Schwester wurden durch eine unerwartete Entfesselung von Kräften getötet, aber ihr Experiment hat einen Weg eröffnet, der nun nie wieder gesperrt zu werden braucht, aus den gegenwärtigen räumlichen Grenzen Utopias hinaus in einen unermeßlichen Raum voll bisher unvorstellbarer Welten; dicht neben uns, so wie es Monopetros bereits vor vielen Jahren annahm, uns näher, wie er sich so poetisch ausdrückte, als das Blut unseres Herzens …«

(»Näher als unser Atem oder als Hände und Füße …« Pater Amerton hatte, plötzlich aufwachend, falsch verstanden. »Aber worüber spricht er denn? Ich verstehe es nicht!«)

»… entdecken wir einen anderen Planeten, der, nach dem Ausmaß seiner Bewohner zu urteilen, ebenso groß ist wie unserer, und der sich, wie wir bestimmt annehmen können, um eine Sonne dreht, die derjenigen in unseren Himmelsräumen ähnlich ist, einen Planeten, der Leben auf sich trägt und wie unserer langsam durch vernunftbegabte Wesen unterworfen wird, die sich offenbar unter fast genau denselben Bedingungen entfalten wie die unserer eigenen Entwicklung. Diese Schwesterwelt ist, soweit wir nach dem Anschein urteilen können, im Verhältnis zu uns ein wenig zurückgeblieben. Unsere Besucher tragen etwas, das wie Kleider aussieht, und zeigen physische Eigenschaften, ähnlich denen unserer Vorfahren im letzten Zeitalter der Verwirrung.

 

Wir sind bis jetzt noch nicht berechtigt, anzunehmen, daß ihre Geschichte sich genau parallel der unseren entwickelt hat. Keine zwei Teilchen der Materie sind einander gleich, keine zwei Schwingungen. In keiner Dimension des Seins, in keiner Welt Gottes gab es je oder kann es jemals eine genaue Wiederholung geben. Daß dies unmöglich ist, haben wir einsehen gelernt. Nichtsdestoweniger ist uns diese Welt, die ihr Erde nennt, offenbar sehr nahe und unserem Weltkörper ähnlich.

Wir sind begierig, von euch Erdlingen zu lernen, unsere Geschichte, die uns noch höchst unvollkommen bekannt ist, anhand eurer Erfahrungen zu überprüfen, euch zu zeigen, was wir wissen, ausfindig zu machen, was an Verkehr und gegenseitiger Hilfe zwischen der Bevölkerung eures Planeten und der des unseren möglich und wünschenswert wäre. Wir hier sind die reinsten Anfänger im Wissen; wir haben bis jetzt kaum mehr erkannt, als die Unendlichkeit dessen, was wir noch zu erlernen und zu tun haben. In einer Million verwandter Dinge könnten unsere beiden Welten vielleicht einander belehren und einander mit Rat und Tat beistehen.

Möglicherweise gibt es auf eurem Planeten Entwicklungsrichtungen, die sich auf unserem nicht entwickeln konnten oder ausgestorben sind. Möglicherweise gibt es Elemente oder Mineralien in der einen Welt, die in der anderen selten sind oder völlig fehlen … Die Struktur eurer Atome? … unsere Welten könnten sich miteinander vermischen? … zu ihrer gemeinsamen Erstarkung …«

Er wurde gerade im Moment unhörbar, als Mr. Barnstaple am meisten bewegt und am begierigsten war, seinen Worten zu folgen. Trotzdem hätte ein Tauber erkannt, daß er noch sprach.

Mr. Barnstaple begegnete dem Blick Mr. Rupert Catskills, der ebenso bestürzt und verwundert war wie er. Pater Amerton hatte das Gesicht in die Hände vergraben. Lady Stella und Mr. Mush flüsterten leise miteinander; sie gaben sich seit langem nicht einmal mehr den Anschein, als ob sie zuhörten.

»Dies ist«, sagte Serpentin, auf einmal wieder vernehmbar, »unser erster Versuch einer Erklärung für euer Erscheinen in unserer Welt und der Möglichkeiten unseres Zusammenwirkens. Ich habe euch unsere Ideen so deutlich, wie ich nur konnte, auseinandergesetzt. Ich möchte vorschlagen, daß nun einer von euch einfach und offen erklärt, wie ihr über das Verhältnis eurer Welt zu der unseren denkt.«

V Die Regierungsform und die Geschichte Utopias

14

Eine Pause entstand. Die Erdlinge blickten einander an, und ihre Blicke schienen sich auf Mr. Cecil Burleigh zu konzentrieren. Aber dieser Staatsmann tat so, als ob er die allgemeine Erwartung nicht bemerke.

»Rupert«, sagte er, »möchtest du nicht …?«

»Ich hebe meine Bemerkungen für später auf«, sagte Mr. Catskill.

»Pater Amerton, Sie sind an den Umgang mit anderen Welten gewöhnt.«

»Nein, nicht in Ihrer Gegenwart, Mr. Cecil.«

»Aber was soll ich ihnen erzählen?«

»Was Sie darüber denken«, sagte Mr. Barnstaple.

»Jawohl«, sagte Mr. Catskill, »erzähl ihnen, was du darüber denkst.«

Kein anderer erschien würdig, in Betracht gezogen zu werden. Mr. Burleigh erhob sich langsam und schritt gedankenvoll zum Mittelpunkt des Halbkreises. Er faßte seine Rockaufschläge und verharrte einige Augenblicke mit gesenktem Antlitz, als ob er überlegte, was er sagen solle.

»Mr. Serpentin«, begann er endlich, indem er eine ehrliche Miene aufsetzte und den blauen Himmel über dem entfernten See durch seine Gläser betrachtete, »meine Damen und Herren …«

Er setzte zu einer Rede an, als befände er sich auf einem Gartenfest oder in einer Sitzung des Völkerbundes. Es war geschmacklos, aber was sollte er anderes tun?

»Ich muß gestehen, mein Herr, daß ich mich bei diesem Anlaß gewissermaßen in Verlegenheit befinde, obwohl ich im öffentlichen Sprechen keineswegs Neuling bin. Ihre bewundernswerten Ausführungen, mein Herr, einfach, zutreffend und klar, bisweilen zu Momenten ungekünstelter Beredsamkeit anwachsend, haben mir ein Vorbild errichtet, dem ich gerne folgen möchte – und vor dem ich, in aller Bescheidenheit, verzage. Sie fordern mich auf, Ihnen so einfach und klar wie möglich die wichtigsten Tatsachen über jene verwandte Welt zu berichten, aus der wir ohne jede Absicht zu Ihnen gelangt sind. Ich glaube nicht, daß meine schwachen Kräfte, so geheimnisvolle Angelegenheiten zu verstehen oder zu besprechen, ausreichen, um Ihre bewundernswerte Darlegung der mathematischen Aspekte dieses Falles besser darlegen oder ergänzen zu können. Was Sie uns erzählt haben, umfaßt die letzten, tiefsten Gedanken irdischer Weisheit und geht fürwahr weit über die uns geläufigen Ideen hinaus. In gewissen Dingen, zum Beispiel was die Verknüpfung von Zeit und Schwerkraft anbelangt, fühle ich mich allerdings verpflichtet, zu gestehen, daß ich nicht Ihrer Meinung bin, aber dies ist eher auf ein Nichtverstehen Ihres Standpunktes, als auf irgendeine tatsächliche Meinungsverschiedenheit zurückzuführen. Über die breiteren Aspekte des Problems wird es keine Meinungsverschiedenheiten zwischen uns geben. In der Hauptsache schließen wir uns vorbehaltslos Ihren Behauptungen an; das heißt, wir sind uns dessen bewußt, daß wir in einem Universum leben, das dem Ihren gleichgerichtet ist, auf einem Planeten, der als Bruder des Ihrigen ihm wirklich merkwürdig ähnlich sieht, auch unter Berücksichtigung aller möglichen Kontraste, die wir hier entdeckt haben. Ihre Ansicht, daß unser System aller Wahrscheinlichkeit nach zeitlich etwas verspätet und weniger gereift ist und vielleicht einige hundert oder einige tausend Jahre hinter Ihren Erfahrungen zurücksteht, interessiert uns, und wir sind sehr geneigt, sie zu teilen. Wenn wir dies zugeben, mein Herr, ist es unvermeidlich, daß unser Benehmen Ihnen gegenüber eine gewisse Bescheidenheit annimmt. Als den Jüngeren steht es uns nicht zu, zu lehren, sondern zu lernen. An uns liegt es eher, zu fragen: Was haben Sie geschaffen? Was haben Sie erreicht?, als mit naiver Überheblichkeit all das, was wir noch zu lernen und zu leisten haben, vor Ihnen auszubreiten …«

›Nein‹, sagte Mr. Barnstaple zu sich, aber halb hörbar, ›das ist ein Traum … Wenn das jemand anderer gesagt hätte …‹

Er rieb sich mit den Fingerknöcheln die Augen, öffnete sie dann wieder, aber immer noch war er da und saß neben Mr. Mush mitten unter diesen olympischen Gottheiten. Und Mr. Burleigh, dieser weltmännische Skeptiker, der an nichts glaubte, der sich über nichts wunderte, beugte sich auf den Fußspitzen vor und sprach und sprach mit dem Selbstbewußtsein eines Mannes, der schon zehntausend Reden gehalten hatte. Er hätte seiner selbst und seiner Zuhörerschaft im Londoner Rathaus nicht sicherer sein können. Und sie verstanden ihn! Das war absurd!

Es blieb weiter nichts übrig, als bei dieser erstaunlichen Sinnlosigkeit mitzutun – dazusitzen und zuzuhören.

Manchmal schweiften Barnstaples Gedanken von dem, was Mr. Burleigh sagte, vollkommen ab. Dann kehrten sie wieder zurück und klammerten sich verzweifelt an seine Rede. In seiner zurückhaltenden parlamentarischen Art, mit seinem Monokel spielend oder mit den Händen die Rockaufschläge umkrampfend, erstattete Mr. Burleigh Utopia kurz Bericht über die Welt der Menschen, wobei er versuchte, sachlich, klar und vernünftig zu sein. Er erzählte ihnen von Staaten und Königreichen, von Kriegen und dem Weltkrieg, von wirtschaftlicher Organisation und Desorganisation, von Revolutionen und Bolschewismus, von der schrecklichen russischen Hungersnot, die eben begonnen hatte, von der Schwierigkeit, anständige Staatsmänner und Beamte zu finden, von der Nutzlosigkeit der Zeitungen, von all dem dunklen und verwirrten Spektakel des menschlichen Lebens. Serpentin hatte den Ausdruck ›das letzte Zeitalter der Verwirrung‹ gebraucht, Mr. Burleigh griff den Ausdruck auf und baute ihn weitschweifig aus …

Es war eine große rednerische Improvisation. Sie mußte ungefähr eine Stunde gedauert haben; die Utopen hörten mit klugen, aufmerksamen Gesichtern zu und gaben dann und wann ihren Beifall und ihr Verständnis für die eine oder andere Darlegung durch Kopfnicken zu erkennen.

In Mr. Barnstaples Hirn erklang es leise: ›Ganz wie bei uns – im Zeitalter der Verwirrung.‹ Endlich kam Mr. Burleigh mit der ruhigen Überlegenheit eines alten Parlamentariers zum Schluß. Beifall …

Er verbeugte sich; er hatte es hinter sich. Mr. Mush erschreckte alle durch ein heftiges Händeklatschen, in das niemand anderer einstimmte.

Die Spannung in Mr. Barnstaple war unerträglich geworden, er sprang auf.

15

Er stand da, und seine Hände vollführten jene schwachen entschuldigenden Gebärden, die für den unerfahrenen Redner so charakteristisch sind.

»Meine Damen und Herren, Utopen, Mr. Burleigh!« begann er. »Ich bitte Sie für einen Augenblick um Entschuldigung. Eine Kleinigkeit! Sehr dringend!«

Für kurze Zeit blieb er stumm.

Dann fand er Aufmerksamkeit und Aufmunterung in den Augen Urthreds.

»Etwas verstehe ich nicht. Etwas Unglaubliches – ich meine etwas Widerspruchsvolles. Die kleine Lücke – sie macht aus allem eine phantastische Wahnvorstellung!«

Das Verständnis, das aus Urthreds Augen leuchtete, war sehr ermutigend.

Mr. Barnstaple unterließ jeden Versuch, sich an die ganze Versammlung zu wenden, und sprach direkt zu Urthred.

»Sie leben in Utopia mit einem Vorsprung von Hunderttausenden von Jahren. Wieso ist es möglich, daß Sie ein modernes Englisch sprechen – genau die gleiche Sprache wie wir? Ich frage Sie, wieso kommt das? Es ist unglaublich! Es ist ein Widerspruch. Es macht aus Ihnen einen Traum, und Sie sind doch kein Traum? Es macht mich schon – fast – verrückt!«

Urthred lächelte freundlich. »Wir sprechen nicht Englisch.«

Mr. Barnstaple fühlte den Boden unter seinen Füßen entgleiten.

»Aber ich höre Sie doch Englisch sprechen!«

»Trotzdem sprechen wir es nicht«, sagte Urthred.

Sein Lächeln wurde noch breiter. »Wir sprechen – für gewöhnlich – überhaupt nicht.«

Mr. Barnstaple, dessen Hirn den Dienst versagte, verharrte in einer Haltung, die achtungsvolle Aufmerksamkeit ausdrückte.

»Vor Zeiten«, fuhr Urthred fort, »haben wir sicherlich Sprachen gesprochen, wir gaben Laute von uns, und wir hörten Laute. Man dachte, dann wählte man Worte, setzte sie zusammen und sprach sie aus. Der Zuhörer hörte, registrierte und übersetzte die Laute wieder in Gedanken. Dann begann man auf irgendeine Weise, die wir noch nicht genau verstehen, den Gedanken zu erfassen, noch bevor er in Worte gekleidet und durch Laute ausgedrückt war. Man begann mit dem Verstand zu hören, sobald der Sprecher seine Gedanken geordnet und ehe er sie bei sich selbst in Wortsymbole geformt hatte. Man wußte, was er sagen wollte, ehe er es sagte. Diese direkte Übertragung ist jetzt allgemein geworden. Man überzeugte sich, daß die meisten Leute mit einer kleinen Anstrengung sich auf diese Weise bis zu einem gewissen Grade miteinander verständigen konnten, und diese neue Art der gegenseitigen Verständigung wurde systematisch ausgebaut.

Das tun wir nun in dieser Welt gewohnheitsmäßig. Wir denken direkt miteinander. Wir beschließen, den Gedanken zu entsenden, und schon ist er entsandt – vorausgesetzt, daß die Entfernung nicht zu groß ist. Wir verwenden Laute in dieser Welt jetzt nur noch für Dichtungen und zum Vergnügen oder in Augenblicken der Erregung, auch um auf eine weite Entfernung zu rufen oder Tieren gegenüber, aber nie mehr für die Übermittlung von Gedanken von einem menschlichen Geist zu einem verwandten andern. Wenn ich zu Ihnen denke, so wird der Gedanke von Ihrem Kopf reflektiert, sofern er entsprechende Gedanken und passende Worte in Ihrem Geiste vorfindet. Mein Gedanke kleidet sich in Ihrem Geist in Worte, die Sie zu hören glauben – und natürlicherweise in Ihrer eigenen Sprache und in dem Ihnen geläufigen Satzbau. Es ist sehr wahrscheinlich, daß die Mitglieder Ihrer Gesellschaft hören, was ich Ihnen sage, jeder mit den ihm eigentümlichen Verschiedenheiten des Wortschatzes und Satzbaues.«

Mr. Barnstaple hatte diese Rede mit heftigem und verständnisvollem Nicken begleitet und war manchmal nahe daran, zu unterbrechen. Jetzt platzte er heraus: »Und daher kommt es, daß wir – zum Beispiel als Mr. Serpentin seine wundervolle Erklärung abgab – gerade dann gar nichts hörten, wenn Sie sich zu Gedanken aufschwangen, von denen wir in unserem Verstand keine blasse Ahnung haben.«

 

»Gibt es solche Lücken?« fragte Urthred.

»Viele, fürchte ich – für uns alle!« sagte Mr. Burleigh.

»Es ist so, als ob man von Zeit zu Zeit taub wäre«, sagte Lady Stella, »und diese Pausen dauern lange.«

»Und daher kommt es, daß wir uns nicht darüber klar sind, ob Sie Urthred oder Adam heißen und weshalb sich in meinem Kopf die Namen Ardenn, Arbor und Silvia durcheinander mengten.«

»Ich hoffe, daß Sie sich nun geistig wohler fühlen«, sagte Urthred.

»Oh, völlig«, sagte Mr. Barnstaple, »völlig. Und wenn man es recht überlegt, so ist diese Methode der Verständigung für uns wirklich sehr bequem. Denn andernfalls wüßte ich nicht, wie wir es hätten vermeiden können, uns wochenlang mit der Sprachlehre zu quälen, mit den Anfangsgründen unserer beiderseitigen Grammatik, Logik, Schriftzeichen und so weiter, meist langweiliges Zeug, ehe wir uns annähernd so hätten verstehen können wie jetzt.«

»Da haben Sie recht, da haben Sie ganz recht«, sagte Mr. Burleigh, der sich freundlich zu Mr. Barnstaple umdrehte. »Ich hätte es niemals bemerkt, wenn Sie mich nicht darauf aufmerksam gemacht hätten. Es ist ganz außergewöhnlich, ich hätte nichts von diesem – diesem Unterschied bemerkt. Ich muß gestehen, ich war mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt. Ich setzte voraus, daß sie Englisch sprachen, ich hielt das für ganz selbstverständlich!«

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