Mr. Blettsworthy auf der Insel Rampole (Roman)

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Liebe und Olive Slaughter

Einige Zeit hindurch setzte ich mein gewohntes Leben ohne wesentliche Veränderung fort. Die erste Empfindung der Einsamkeit, die mich am Totenbett meines Onkels überkommen hatte, blieb um mich schweben und verdichtete sich, anstatt zu verschwinden, doch bemühte ich mich eifrig, sie aus meinem Bewußtsein zu bannen, welches Bestreben er gewiß gutgeheißen haben würde.

Ich hatte mir gleich nach meiner Graduierung eine Wohnung von bescheidenem Komfort gemietet, und zwar in Carew Fossetts, einem außerhalb von Oxford Richtung Boars Hill gelegenen Dörfchen. Dort blieb ich. Einige Freunde und Bekannte an der Universität und in deren Umkreis waren meine Welt, und so konnte ich mir keinen besseren Wohnort vorstellen. Ich versprach mir lange Ferien in den Alpen, in Skandinavien, Afrika und dem Nahen Osten, hoffte, daß ich vielleicht auf irgendwelche Art in der ernsteren und allerdings auch schwerfälligeren Welt Londons Fuß fassen würde, und zählte die künstlerische Anregung des Pariser Lebens zu meinen glücklichen Möglichkeiten. In Paris, so meinte ich nach der Mode der damaligen Zeit, konnte man Amerika und Rußland in einer zwar verdünnten, aber doch hinlänglich klaren Form kennenlernen. Also wandte ich Rußland selbst den Rücken zu: War es doch eine Wildnis mit einem pervertierten Alphabet und einer unsprechbaren Sprache; auch den aufreizenden Glanz New Yorks, seine Vergnügungen und sein buntbewegtes Leben schob ich als unangenehme, aber vermeidliche Tatsache von mir weg. Wenn Leute da hinübergingen, Amerikaner wurden und sich eine eigene Welt aufbauten, so sah ich nicht ein, warum mich das interessieren sollte.

Ich besaß, das durfte ich mir eingestehen, eine gewisse geistige Regheit und war auch begabt, war mir aber über die Art dieser Begabung nicht im klaren; und ich war ängstlich bemüht, meine Fähigkeiten gut zu verwerten. Ich fühlte, daß mir ein ganz besonders glückliches Los zugefallen war, und hielt es für meine Pflicht, mich dieser Gunst des Schicksals würdig zu erweisen. Dafür schien mir eine künstlerische Betätigung sehr geeignet zu sein, und ich spielte mit dem Gedanken, der Welt eine Romantrilogie zu schenken – in jenen Tagen wurde ein Romanschriftsteller erst dann hochgeschätzt, wenn er eine Trilogie geschrieben hatte –, nach der Art Ruskins in den Galerien Europas Kunststudien zu betreiben und meine Eindrücke aufzuzeichnen, einen Kunstverlag zu gründen, der bibliophile Ausgaben verdienstvoller Werke herausbringen sollte, oder meine Erfahrungen in der Oxford University Dramatic Society als dramatischer Dichter zu verwerten. Auch andere Formen der Dichtkunst zog ich in Betracht: Eine Zeitlang beschäftigte mich der Plan zu einem Epos, doch fand ich schließlich, daß der Erwerb der notwendigen technischen Fertigkeiten meine schöpferische Kraft lähme. Bei alledem ließ ich die sozialen Fragen der Zeit keineswegs außer acht, sondern war mir wohl bewußt, daß dem vollendet künstlerischen Ausdruck meiner Bestrebungen ein moralischer und humanitärer Zweck zugrunde liegen müsse.

Außerdem hatte ich mich dazu überreden lassen, die Angelegenheiten eines sterbenden Bogenschützen-Klubs in die Hand zu nehmen, und ich errang als Ehrensekretär dieser Gesellschaft beträchtliche Erfolge.

Ich besprach die Frage meiner Lebenspläne mit fast jedermann, der mir zuzuhören geneigt war; insbesondere erörterte ich das Thema mit meinem Freund Lyulph Graves, in dessen Gesellschaft ich lange Spaziergänge zu machen pflegte, und mit Olive Slaughter, dem lieblichen jungen Mädchen, das ich bereits erwähnt habe. Die Bewunderung und Freundschaft, die ich diesem Geschöpf in meinen Studententagen entgegengebracht hatte, verwandelte sich nunmehr rasch in eine große und ideale Liebe. Wie strahlend war sie doch, wie blond und hübsch! Noch heute könnte ich mir tausenderlei reizende Einzelheiten ihrer Erscheinung ins Gedächtnis zurückrufen, wenn ich mich mit solchen Erinnerungen quälen wollte. Sie hatte goldblondes Haar. Der Glanz, der von ihr ausging, schimmerte durch die Tabakpäckchen und Zigarettenschachteln des Schaufensters hindurch, so wie die Sonne durch das Laub eines Baumes scheint. Schon in den Tagen, da ich noch Student war, pflegte sie in die Tür zu treten und mir zuzulächeln, sooft mich mein Weg an dem Laden vorbei führte – und es ist erstaunlich, wie oft das der Fall war. Sie lächelte auch mit der Stirn und den Augen, so daß sich die linke Seite der Oberlippe beim Lächeln ein wenig stärker emporzog und einen Schimmer der Zähne sehen ließ.

Anlässe zu kurzen heimlichen Gesprächen ergaben sich immer wieder; sie schienen sich im dritten Jahr meiner Studienzeit zu vermehren. Eines Tages trafen wir uns nach Schluß der Vorlesungen auf unseren Rädern bei Abingdon und verbrachten einen entzückenden Nachmittag miteinander. Wir tranken in einem ländlichen kleinen Restaurant Tee, und als wir dann durch einen Obstgarten zum Fluß hinuntergingen, küßten wir einander, zitternd unter dem Zauber von Kräften, die stärker waren als wir. Ich küßte sie, küßte den Mundwinkel, der die kleinen Zähne sehen ließ, schloß sie dann in die Arme, zog sie dicht an mich und küßte ihren schönen schlanken Nacken, indes ihr weiches Haar meine Wange liebkoste. Dann fuhren wir, so weit wir es wagten, gemeinsam gegen Oxford zurück, ehe wir uns trennten; den ganzen Rückweg sprachen wir kaum ein Wort miteinander. Mir war, als sei uns beiden das Wunderbarste im Leben widerfahren, und ich glaubte, daß sie ebenso empfand.

Der Sonnenuntergang war warm, sanft und goldig, und Olive war warm, sanft und goldig; ich wußte nicht, was wunderbarer war, das Mädchen oder das Naturschauspiel, und meine Seele glich einem Stäubchen, das unter einem Sonnenstrahl gleich einem Stern leuchtete.

Von da ab entwickelten wir beide große Freude am Küssen, und da ich gut erzogen worden war, deutete ich unsere Umarmungen auf eine schöne und edle Art. Zwischen unseren Küssen sprach ich von den hohen Zielen, denen unsere Leidenschaft geweiht sein sollte; und alle meine Gedanken umgaben die Geliebte mit schützendem Besitzergefühl, gleichsam als wäre ich eine ihr geweihte Kirche und sie der heilige Altar darin. Und dann küßten wir uns wieder. Sie küßte mit solcher Hingabe und liebkoste mich so zärtlich, daß nur mein Glaube an ihre vollkommene Unschuld die Inbrunst meiner Umarmungen milderte. Und ich war über alle Maßen glücklich.

Da mein Herz nach den ersten heiligen Zärtlichkeiten zwischen uns von ihr überfloß, erzählte ich trotz meiner zurückhaltenden Wesensart meinem Freunde Lyulph Graves immer wieder von ihr. Nach langen Gesprächen über unsere Lebensaufgabe hatten er und ich einen sehr hoffnungsfrohen Plan zu einem neuartigen buchhändlerischen Unternehmen entwickelt, welches nicht nur großen erzieherischen Wert für unser Land haben, sondern auch für uns selbst eine Quelle des Wohlstands und des Einflusses werden sollte. Man sprach damals in England allenthalben über die Mängel und Auswüchse des Buchhandels, und wir wollten diesen Klagen durch die Firma Blettsworthy & Graves abhelfen. Wir gedachten, in mehreren und schließlich in einer großen Anzahl von Städten Läden aufzumachen, die durch einen einheitlichen Farbanstrich von künstlerischem Blau in die Augen fallen und alle miteinander in Verbindung stehen sollten. Wir wollten sie höchst behaglich einrichten, sie mit Lehnstühlen und Leselampen versehen, und unsere Kunden sollten nicht so sehr zu Einkäufen genötigt, als vielmehr belehrt und zum Lesen eingeladen werden. Sooft es zu regnen begann, wollten wir ein Schild aushängen: »Tritt ein und lies, bis der Regen vorüber ist.« Wir planten eine ganze Reihe solcher erfreulicher Verbesserungen der damaligen Buchhandlung.

Auf unseren Spaziergängen unterhielten wir uns darüber – jeder wartete voll Ungeduld darauf, daß der andere mit seiner Rede zu Ende komme –, welch große Vorteile unser Unternehmen uns sowie der ganzen Menschheit bringen sollte. Wir gedachten, unser Lager stetig zu vergrößern, bis wir die Verleger in der Hand haben würden; wir wollten die Achtung und die Zuneigung der gesamten intellektuellen Welt gewinnen. »Wir wollen die öffentliche Meinung organisieren«, sagte Lyulph Graves. Gute, junge Verlagsfirmen gedachten wir aufzumuntern und zu fördern, schlechte sollten entmutigt oder gebessert werden. Ich hegte den Gedanken an einen wachsenden kritischen Einfluß durch eine literarische Zeitschrift, deren Umschlag dasselbe gefällige Blau wie die Fassaden unserer Läden aufweisen sollte. Beiträge zu dieser Zeitschrift liefern zu dürfen, sollte, so beschloß ich, eine begehrte Ehre werden. Wir verbrachten glücklich einen ganzen Nachmittag damit, einander die Leute aufzuzählen, die keine Beiträge würden liefern dürfen.

Schließlich gründeten wir in aller Form eine Gesellschaft. Zu dem Kapital von viertausend Pfund stellte jeder von uns die Hälfte. Da Graves kein Geld besaß, lieh ich ihm die notwendigen zweitausend zu einem mäßigen Zinssatz. Ich wollte mir eigentlich gar keine Zinsen zahlen lassen; Graves aber, der in Gelddingen höchst ehrenhaft war, zwang mich, es doch zu tun. Wir ernannten uns zu Geschäftsführern mit einem Gehalt von je fünfhundert Pfund jährlich, so daß meine Einkünfte durch die erfolgte Überweisung nicht verringert, sondern vergrößert wurden. Wir beschlossen, unseren ersten Laden in Oxford aufzumachen. Wir mieteten ein zwar ziemlich verfallenes, aber bequemes Haus mit Geschäftsräumen zwischen einem Metzgerladen und einer Leichenbestattungsfirma; die Miete war nicht hoch, doch mußten wir das ganze Haus neu instandsetzen lassen; hinter dem Laden richteten wir ein Büro ein, das sehr bequeme und teure Schreibtische und Schränke aufwies, im ersten Stock eine hübsche Wohnung für Graves, der sich im Hause selbst einquartieren wollte, um das Geschäft aufs beste überwachen zu können. Er bestand darauf, daß er im Hause wohnen müsse. Tag und Nacht wollte er sich unserem Unternehmen widmen.

 

Wir ließen die Ladenfront dreimal streichen, bis wir endlich überzeugt waren, daß die nunmehr gewählte Blauschattierung Erfolg verspreche, und ich habe wohl kaum jemals einen prächtiger angestrichenen Laden gesehen. Unglücklicherweise schätzte der Maler unseren Geschmack so hoch, daß er sich mehr Farbe verschaffte, als für uns nötig war, und um sie aufzubrauchen, überredete er den Besitzer eines Teegeschäfts und einer Bäckerei in derselben Straße, sich einen Anstrich zuzulegen, von dem wir gehofft hatten, daß er das einzigartige Kennzeichen unserer Firma sein würde. Diesem Umstand verdankten wir etliche Anfragen nach chinesischem Tee und Hafermehlkuchen, und ohne Zweifel wurde dadurch auch das Geld einiger lesewilliger Leute auf den Pfad rein körperlicher Erfrischung gelenkt. Wir zogen betreffs der Frage des Urheberrechtes in bezug auf die Farbe einen Anwalt zu Rate, mußten aber erfahren, daß die Rechtslage für einen Prozeß zu unbestimmt war.

Von diesem geringfügigen Ärgernis abgesehen, begann unser Unternehmen ganz ordentlich. Ich erinnere mich an jene Phase meines Lebens als an eine besonders glückliche. Die Blettsworthys haben sich seit jeher keineswegs über Handelsgeschäfte erhaben gedünkt, sondern sind stets bemüht gewesen, einen veredelnden Einfluß auf diesem Gebiete auszuüben, und ich sah bereits, wie sich die Blettsworthy-Buchhandlungen (Blettsworthy & Graves) über das Land ausbreiten und in der geistigen Welt eine ebenso nützliche und ehrenhafte Aufgabe des Austausches und der Anregung leisten würden, wie die Blettsworthy-Bank im Westen Englands. Ich sah mich das Unternehmen in ideeller Hinsicht leiten und fördern, ohne dabei in allzu starkem Maße in die praktisch geschäftlichen Unternehmungen eines emsigen, zielbewußten und vielleicht energischeren Partners verwickelt zu werden. Mein Leben sollte durch die strahlende Anwesenheit meiner Olive Glanz gewinnen, und die zahlreichen Mußestunden, die mir zuteil werden mußten, sobald das Geschäft erst in Gang gekommen sein und von selber laufen würde, sollten der Pflege meiner ästhetischen und geistigen Gaben gewidmet werden, an deren Vorhandensein ich nicht zweifelte, wiewohl ich ihre besondere Art erst noch ausfindig zu machen hatte.

Ich berichte hier von den geheimen Gedanken eines jungen Mannes, von den hochfliegenden und umfassenden Plänen, mit denen die Jugend dem Leben begegnet. Nach außen hin betrug ich mich mit geziemender Bescheidenheit, ließ anderen ihren Vorrang und ihre Vorteile, machte höflich Platz und bestritt die Ansprüche derer, die mit mir zu wetteifern schienen, niemals. Mein Herz aber war von Selbstsicherheit erfüllt. Ich hielt mich für einzigartig und außerordentlich und meinte, daß meine Umgebung, eben weil es meine Umgebung war, ebenfalls außerordentlich sei. Ich sah einen Lebensweg voll hoher Verantwortlichkeit vor mir liegen. Graves galt mir als vortrefflicher Partner und erstaunlich fähiger Kopf, wenn auch die besten Teile unseres Planes meinem Hirn entsprungen waren. Und meine Olive Slaughter mit den blassen Lippen und den amethystfarbenen Augen war ein glühender Topas, ein feuriger Opal; keusch und leidenschaftlich zugleich, ehrlich und doch geheimnisvoll, war sie ein Geschöpf von außergewöhnlicher Lieblichkeit, dessen man dereinst im Zusammenhang mit mir gedenken sollte; sie sollte, auf ähnliche wenn auch legitimere Art mit mir verknüpft, gleich der Gioconda neben Leonardo späteren Geschlechtern ein leuchtender Stern sein.

Ich besitze kein Porträt, das mich in jener letzten vollkommen glücklichen Phase meines Lebens darstellte. Ich glaube nicht, daß sich meine Selbstzufriedenheit und mein ungeheurer Ehrgeiz in meiner äußeren Erscheinung verrieten. Höchstwahrscheinlich sah ich nicht anders aus als irgendeiner von den erfreulich jungen Jünglingen, die es damals in England gab. Jedenfalls dachte ich nicht nur von mir und den Meinen gut, sondern von der ganzen Welt. Und die Blase meiner Selbstgefälligkeit sollte so bald und so grausam angestochen werden, daß es niemand nötig hat, an meinem damaligen Glück Anstoß zu nehmen.

Ich mußte für einige Tage nach London fahren, um verschiedene geschäftliche Angelegenheiten zu regeln. Meine Rechtsanwälte, eine altmodische Firma, die schon meinen Onkel beraten hatte, waren in der Kritik meines neuen Unternehmens über ihre beruflichen Rechte ein wenig hinausgegangen, und ich gedachte sie in bezug auf Graves zu beruhigen. Überdies hatte ich es mir in den Kopf gesetzt, Olive eine Halskette aus grünen, in Gold gefaßten Jadesteinen zu schenken, die ich nach genauen Angaben arbeiten lassen wollte. Auch war einer der Blettsworthys aus Sussex im Begriff zu heiraten, und ich wollte bei seiner Hochzeit nicht fehlen. Ich hatte mir vorgenommen, im ganzen vier Tage auszubleiben, als ich jedoch am dritten Tage der Hochzeit meines Vetters beigewohnt hatte, erfaßte mich plötzlich die Lust, einen Tag früher nach Oxford zurückzukehren und Olive durch mein unerwartetes Erscheinen am nächsten Morgen zu erfreuen. Wir waren nunmehr offiziell verlobt; ihre Mutter hatte mich mit großer Freude und einem Kusse als künftigen Schwiegersohn aufgenommen; ich konnte Olive nun unverhohlen Geschenke machen, und so nahm ich einen wunderschönen Blumenstrauß mit, der meine kleine Überraschung festlicher gestalten sollte.

Ich fuhr am späten Nachmittag von London ab, aß im Zug mein Abendbrot und begab mich, in Oxford angekommen, zu unserem neuen Laden, zu dessen Straßentür ich einen Schlüssel hatte, um dort mein Rad zu holen. Oben in Graves Wohnzimmer war kein Licht, woraus ich schloß, daß er ausgegangen sei. Ich betrat den Laden, vermutlich geräuschlos, und anstatt einfach nur mein Rad zu nehmen, verweilte ich einige Minuten und betrachtete die unübertrefflich schöne Ausstattung des Geschäftes. Nur wenige Läden hatten damals Armstühle und einen großen mit Büchern belegten Tisch aufzuweisen, wie eine Klub-Bibliothek. Schließlich bemerkte ich, daß hinten im Bureau eine der grün beschirmten Lampen brannte; ich dachte, daß Graves sie vergessen habe, und ging hinein, um sie auszulöschen.

Das Büro war leer, doch auf dem großen, Graves gehörigen Schreibtisch lag ein aus mehreren Bogen bestehender, unvollendeter Brief. Ich warf einen Blick darauf und sah die Worte: »Mein lieber Arnold.« Warum um alles in der Welt hatte er mir einen Brief geschrieben? Wo er mich doch täglich sah. Ich empfand es in keiner Weise als Unrecht, mich auf seinen drehbaren Armstuhl zu setzen und den Brief zu lesen.

Erst las ich flüchtig, bald aber mit angestrengter Aufmerksamkeit.

»Gewisse Dinge werden am besten brieflich erörtert«, hob das Schriftstück an; »und ganz besonders Fragen, die Zahlen betreffen. Du wirst stets ein wenig ungeduldig, wenn es sich um Zahlen handelt …«

Was sollte da kommen?

Ich hatte den Tag zuvor zwei recht unangenehme Stunden in Lincoln’s Inn verbracht, um die Finanzierung unserer neuen Gesellschaft gegen Angriffe zu verteidigen, die mir als altmodische Verdächtigungen erschienen waren. Der alte Ferndyke (Ferndyke, Pantoufle, Hobson, Stark, Ferndyke & Ferndyke), der ein Schulkamerad meines Onkels gewesen und mütterlicherseits ein Blettsworthy war, hatte Ansichten über Graves vorgebracht, die mir die Erwiderung: »Aber Sir, das kommt ja geradezu einer Einflüsterung gleich« abzwangen. Darauf hatte er geantwortet: »Keineswegs! Es ist noch immer üblich, solche Fragen zu stellen.«

»Im Falle meines Freundes Graves ist es überflüssig«, hatte ich gesagt, und der alte Herr hatte die Achseln gezuckt.

Merkwürdigerweise hatte ich mir dieses Gespräch während der folgenden Nacht, in der ich ungewöhnlich schlecht schlief, etliche Male wiederholt, und im Zuge war es mir nach dem Abendbrot wieder in den Sinn gekommen. Als ich nun den nächsten Satz des Briefes las, klang es mir aufs neue deutlich in den Ohren.

»Mein lieber Arnold«, ging der Brief weiter, »wir sind an einem toten Punkt angelangt.«

Der Kern des Briefes war, daß wir unser Geschäft in zu großem Maßstab geplant hätten. Er wolle mir das mit allem Nachdruck klarmachen. Schließlich werde das vielleicht ganz gut sein, für den Augenblick aber bedeute es Geldverlegenheit. »Du erinnerst dich wohl, daß ich anfänglich sagte, es sei ein Zehntausend-Pfund-Unternehmen«, schrieb er. »Und das ist es.«

Wir hatten nahezu das gesamte uns zur Verfügung stehende Geld für Ausstattung, Einrichtung, Vorausgaben, Bürobedarf und Direktorengehälter verwendet. Mit dem Einkauf des Bücherbestandes hatten wir eben erst begonnen. »Noch dazu habe ich«, hieß es in dem Brief weiter, »bis zu dem Limit, das du garantiert hast, Geld behoben.« Ich überlegte – ich hatte eintausend garantiert und das in einem außerordentlich gewundenen und langatmigen Dokument. Wir bezahlten bereits zwei Hilfskräfte, einen Laufburschen und eine Stenotypistin, die Lyulphs Korrespondenz erledigte, und hatten vorläufig offiziell mit dem Verkauf noch nicht begonnen. Wir hielten den Laden zwar offen und bedienten gelegentlich Kunden, wollten jedoch erst nach Beginn des Semesters das Geschäft in aller Form eröffnen. Zu diesem Anlaß gedachten wir, tüchtig Propaganda zu machen, was beträchtliche weitere Ausgaben bedeutete. Der größte Teil der Bücher, die wir auf Lager haben wollten, mußte erst angeschafft werden, und wir mochten noch Monate ohne Verdienst vor uns haben. Besonders in Oxford hat man stets eine Anzahl unvermeidlicher Kreditgeschäfte zu tätigen. Der junge Student kauft sehr viel, aber nicht gegen bares Geld. »Es bleibt uns nichts anderes übrig«, schrieb Graves, »als neues Kapital aufzunehmen und weiterzuarbeiten. Zurück können wir jetzt nicht mehr.«

Hier brach das Schriftstück ab. Der Schreiber schien unterbrochen worden zu sein.

Ich hielt den Brief in der Hand und starrte in die dunklen Schatten meines neuen Büros. Noch mehr Kapital? Ich hatte es, aber ich näherte mich bereits dem, was Ferndyke meine Sicherheitsgrenze nannte. Bisher hatte ich nichts weiter riskiert als eine Einschränkung meiner Lebensweise; der Vorschlag von Graves konnte leicht den Verlust der Unabhängigkeit, die mir so angenehm war, bedeuten. Im Schatten tauchte sehr lebhaft das Antlitz des alten Ferndyke auf, und ich hörte seine Frage: »Fehlt es Ihrem Freunde nicht ein wenig an – wie soll ich es nennen? – an Grundsätzen, ebenso wie auch an Erfahrung?«

Ich betrachtete das so sehr gediegene und vornehme Büro. Es einzurichten, hatte mir viel Freude gemacht. Was aber, wenn es sich nun als zu groß und zu kostspielig für das Geschäft erweisen sollte?

Und war Graves, mein kluger und erfinderischer Freund, vielleicht wirklich ein klein bißchen weniger solide als etwa dieser unser wunderbarer Büroschrank, der vierzigtausend Briefe zu fassen vermochte?

Mitten in diesen Überlegungen kamen mir verschiedene Geräusche zu Bewußtsein: Über meinem Kopfe krachte es, regte sich etwas. Ich wurde mir alsbald darüber klar, daß Graves oben in seinem Schlafzimmer sein müsse. Da konnte ich ja die ganze Angelegenheit gleich mit ihm besprechen. Jawohl, ich wollte sie sofort mit ihm besprechen. Seine Wohnung hatte einen Privateingang von der Straße her, und ich ging zu der Tür, die von dem Laden in den Korridor und zur Treppe führte. Laden und Treppe waren mit ausgezeichnetem, aber teurem blauen Axminster belegt, und ich stand in dem unbeleuchteten Wohnzimmer, ehe Graves meine Anwesenheit bemerkte. Die Schlafzimmertür war ein wenig offen, und das Gas war angezündet.

Ich war eben im Begriffe zu sprechen, als mich das Geräusch eines Kusses, ein heftiges Geknarre und ein lauter Seufzer innehalten ließen.

Dann erklang zu meinem grenzenlosen Staunen die Stimme Olive Slaughters in Tönen, die ich nur zu gut kannte. »Ach«, seufzte sie entzückt, »wenn du nicht am allerbesten küssen kannst!«

Dann flüsterte Graves, und es schien so etwas wie ein Ringkampf stattzufinden.

»Laß mich!« sagte Olive Slaughter ohne Überzeugung, dann wiederholte sie schärfer: »Laß mich, sage ich dir.«

Hier versagte meine Erinnerung für eine kleine Weile. Ich weiß nicht, welche schwarzen oder dunklen Ewigkeiten ich in den nächsten Augenblicken durchlebte. Das folgende Bild sehe ich von der Tür des Schlafzimmers aus, die ich weit aufgerissen hatte. Graves und Olive liegen auf dem Bett und starren mich an. Graves hat sich halb aufgerichtet und stützt sich auf einen Ellbogen. Er hat eine weiße Sporthose an und ein Seidenhemd, das vorne aufgeknöpft ist. Olive liegt ausgestreckt auf dem Bauch und blickt über ihre Schulter nach mir herüber, ihre Bluse ist in Unordnung und zeigt mehr von ihrem lieblichen Oberkörper, als ich jemals gesehen habe, ihr nackter Arm ruht auf seiner nackten Brust. Beide sind erhitzt und zerzaust. Erst starren mich die beiden Gesichter dumm an, dann werden sie allmählich lebendig und munter. Langsam, ganz außerordentlich langsam und den Blick immerfort auf mich gerichtet, setzen sie sich auf.

 

Ich erinnere mich dunkel, daß ich mich fragte, was ich tun sollte; ich kam zu dem Schlusse, dessen entsinne ich mich deutlicher, daß ich, zunächst wenigstens, Gewalttätigkeit an den Tag zu legen hätte.

Graves besaß guten Geschmack und hatte auf Kosten unserer Gesellschaft das Kaminsims in seinem Zimmer mit zwei alten schlanken Chianti-Flaschen geschmückt. Sie waren schwerer als ich dachte, denn er hatte sie mit Wasser angefüllt, damit sie fester stünden. Ich schleuderte ihm die eine an den Kopf, sie traf ihn, zerbrach mit einem glucksenden Laut, Wasser und Scherben fielen an ihm herunter. Die zweite verfehlte ihn und ergoß ihr Wasser auf das Bett. Dann muß ich auf der Suche nach weiteren Gegenständen, die meiner Gewalttätigkeit dienen könnten, zum Waschtische gegangen sein, denn ich erinnere mich, daß die volle Wasserkanne am Bettpfosten zerbrach und daß sich die Waschschüssel störenderweise in meiner Hand als zu leicht erwies, um wirksam verwendet zu werden. Dann scheint mein Gedächtnis noch eine Lücke aufzuweisen. Graves stand schließlich dicht vor mir, einen schmalen roten Streifen quer über der Stirn, der noch nicht zu bluten begonnen hatte. Sein Gesicht war weiß, schien zu leuchten und zeigte den Ausdruck gespannter Beobachtung. Ich erinnere mich, daß ich die Waschschüssel beinahe sorgfältig wieder hinstellte, ehe ich Hand an ihn legte. Ich war ihm an Gewicht und Muskelkraft überlegen und hatte ihn in kürzester Frist aus dem Schlafzimmer und durch das Wohnzimmer auf die Treppe hinausbefördert. Dann ging ich zu Olive zurück.

Die Göttin meines bisherigen Daseins war verschwunden. An ihre Stelle war eine gewöhnliche junge Frau mit zerzaustem strohblondem Haar getreten, die zu besitzen ich heftig gewünscht hatte und die immer noch eine übergroße Wirkung auf meine Sinne ausübte. Sie bemühte sich, die Brosche festzustecken, die ihre Bluse am Halse zusammenhielt. Ihre Hände zitterten so sehr, daß sie es nicht vermochte. Der Ausdruck ihres Gesichtes verriet angsterfüllten Zorn.

»Ihr zwei dreckigen Kerle habt mich in diese Lage gebracht«, sagte sie. »Du und dein Partner. Meinst du, ich bin mir nicht klar darüber? Du und unsere Verlobung! Ihr ekelhaften Kriecher!«

Ich stand und beachtete nicht, was sie sagte, obgleich ich mich später ganz genau daran erinnerte. Ich überlegte, mit welcher unerhörten Schreckenstat ich sie niederschmettern könnte. Ich kann die Fülle der Impulse, die auf mich einstürmten, nicht mehr entwirren. Eines aber weiß ich noch klar: daß ich sie plötzlich packte und ihr die Kleider vom Leibe zu reißen begann. Sie wehrte sich erst wild, dann erlahmte ihr Widerstand fast völlig. Sie hielt den Blick auf mein Gesicht gerichtet. Ich riß an den Hüllen ihres Körpers, bis sie fast nackt war, und warf sie auf das Bett. Dann traf mein Blick den ihren. Entsetzen erfaßte mich: Ihre Feindseligkeit war verschwunden! Gott weiß, über welchen Abgründen ich in jenen Augenblicken schwebte. Dann schlug der Wirbelwind meiner Gefühle mit einem Male um. »Hinaus mit dir!« schrie ich, packte sie und stieß sie hinter Graves her.

Einen Augenblick lang beherrschte mich sinnloser Schrecken vor der Tat, die ich beinahe begangen hätte. Ich verachtete mich sowohl wegen meiner Begierde als auch wegen des Rückzuges vor der Begierde.

Ich wußte nicht, was ich weiter tun sollte. Unentschlossen ging ich im Zimmer auf und ab und rief: »Mein Gott! Mein Gott!«

Dann zeigte sich das furchterfüllte, aber immer noch gefaßte Antlitz von Graves in der Tür. Er blutete jetzt ziemlich heftig. Und er sagte: »Gib ihre Kleider her, du Idiot. Die Leute werden sagen, daß wir das miteinander abgekartet hätten.«

Das war vernünftig. Das war sehr vernünftig. Trotz heftigen Widerstandes kehrte mir die Vernunft zurück. Aber ich glaubte immer noch, erstaunlich handeln zu müssen. Einen Augenblick lang überlegte ich, dann raffte ich ihre zerrissenen und zerdrückten Kleidungsstücke zusammen und warf sie Graves plötzlich ins Gesicht. »Verschwindet alle beide!« schrie ich.

Sein Kopf tauchte zwischen den Kleidungsstücken auf. Er hielt das Zeug fest und drehte sich um.

Ich hörte ihn die Treppe hinunterstolpern. »Du kannst so nicht auf die Straße gehen«, hörte ich ihn sagen.

Weder das Schlaf- noch das Wohnzimmer schienen mir mehr der richtige Aufenthaltsort zu sein. Es fiel mir ein, daß mein Rad im Laden stand. Ich versuchte, eine würdevolle Haltung anzunehmen, ging zu der Tür hinunter, die zum Laden führte, und schloß sie hinter mir. Ich war nunmehr sehr ruhig und handelte planmäßig. Ich tastete mich nach dem Rad hin, strich ein Streichholz an und entzündete die Lampe. Ich dachte an den Brief, den ich gelesen hatte. Er war verschwunden, und ich fühlte, daß ich nun nicht noch einmal hinaufgehen konnte, um ihn zu suchen. Mein Blumenstrauß lag auf dem Ladentisch dicht neben der Lenkstange meines Rades. Ich hatte die Blumen vergessen. Ich hob sie auf, roch an ihnen und legte sie wieder hin. Dann verließ ich den Laden durch die Vordertür, bestieg mein Rad und fuhr davon, durch die beleuchteten Straßen, über die Brücke und dann hinaus auf die stille Landstraße, die nach Carew Fossetts führt.

Ich ging sofort zu Bett und schlief während des größten Teiles der Nacht. Um die Morgendämmerung erwachte ich plötzlich und fragte mich, was denn geschehen sei.

Es störte mich, als bald darauf die Vögel zu singen begannen. Sie hinderten mich am klaren Denken.

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